Du bist „systemrelevant“, wenn Dein Lohn nicht steigt, aber Dein Streik – mal wieder – verboten werden soll – weltweiter Überblick

Dossier

Streikrechtplakat Shopstewardnetzwerk England im Juli 2015Der Chef der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger, hatte sich am Mittwoch abend vor Pressevertretern in Berlin weit vorgewagt. Und Gedankenspiele angestrengt – dieses etwa: Vielleicht brauche man in der Energiekrise hierzulande einen »nationalen Notstand«. Warum? Arbeitskämpfe wie Streiks ließen sich damit besser brechen. Er sei aber auf keinen Fall dafür, das Streikrecht einzuschränken. Eine Relativierung, die wenig glaubhaft klingt…“ So beginnt der Artikel von Oliver Rast in der jungen Welt vom 02.07.2022 externer Link („Affront mit Kalkül“), einer von vielen zum Vorstoß anläßlich des Warnstreiks bei der Abfertigung von Container- und Frachtschiffen, worin auch der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke zitiert wird, der Dulger unterstellt, offenbar träume dieser davon, »dass es einen autoritären Staat gibt, der Arbeitnehmerrechte niederknüppelt«… Als Vertreter seiner Klasse muss er aber nicht nur davon träumen, sondern auch die Grenzen dahin verschieben – wie er es in seiner Firma ProMinent übt). Die erstaunte Aufregung hat uns zu einem Dossier angeregt, in dem die neuesten Angriffe lediglich den aktuelle Anlaß liefern für eine Rückschau im nun 25jährigen Fundus des LabourNet Germany, um aufzuzeigen, wie alt und weltweit verbreitet sie sind… Siehe den Überblick der Angriffe in Deutschland und in fast allen Ländern der Welt, aber auch Beispiele der Gegenwehr:

  • Das Streikrecht ist weltweit einer neuen Welle von Angriffen ausgesetzt – braucht es einen Weltgeneralstreik?New
    „Das Streikrecht ist ein wesentlicher Bestandteil der Vereinigungsfreiheit. Es ist zwar das letzte Mittel, aber ohne es haben Arbeitende und Gewerkschaften nicht die Macht, ihre Positionen gegen die wirtschaftliche und politische Macht der Arbeitgeber zu verteidigen. Das Streikrecht wird in vielen Ländern angegriffen und die Gewerkschaften wehren sich dagegen. Im Jahr 2015 stellten die Internationale Arbeitsorganisation (IAO), Arbeitgeberverbände und einige Regierungen das IAO-Übereinkommen 87 über die Vereinigungsfreiheit in Frage, das von 153 Ländern ratifiziert wurde und das Streikrecht hochhält. Gewerkschaften auf der ganzen Welt protestierten, um dieses Grundrecht zu schützen. Trotz dieses Übereinkommens ist das Streikrecht immer noch auf der ganzen Welt bedroht.
    In Großbritannien versucht die Regierung, Gesetze durchzusetzen, die Streiks für berechtigte Lohnforderungen einschränken, obwohl die Löhne der britischen Arbeitenden sinken. Die neue Anti-Streik-Gesetzgebung, die vom Premierminister der Konservativen Partei, Rishi Sunak, angeführt wird, soll ein Mindestmaß an Dienstleistungen während eines Streiks durchsetzen. Diese Gesetze werden in wichtigen öffentlichen Sektoren wie dem Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) und dem Bildungswesen durchgesetzt. Die Arbeitgeber in diesen Sektoren können die Gewerkschaften verklagen und Beschäftigte entlassen, wenn die Mindestanforderungen nicht erfüllt werden. Die britischen Gewerkschaften haben dieses neue Streikgesetz als einen Frontalangriff auf die Arbeitnehmerrechte und die Gewerkschaften bezeichnet. Die Gewerkschaften haben deutlich gemacht, dass sie die Beschäftigten trotz der neuen Regelungen der Regierung verteidigen werden.
    In Simbabwe wurden die IAO-Übereinkommen 87 und 98 über das Vereinigungsrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen ratifiziert, doch die Regierung hat zwei Gesetze verabschiedet, die gegen diese Übereinkommen verstoßen. Eines der beiden verabschiedeten Gesetze, das Health Services Amendment Act, besagt, dass Streiks im öffentlichen Gesundheitssektor nicht länger als 72 Stunden dauern dürfen. Wenn sich die Gewerkschaften nicht daran halten, werden die Organisatoren zu einer Geldstrafe und drei Jahren Gefängnis verurteilt. Darüber hinaus wird das Gesetz zur Änderung des Strafrechts die Verhaftung und strafrechtliche Verfolgung von Personen ermöglichen, die vorsätzlich die staatliche Souveränität und die nationalen Interessen Simbabwes verletzen. Die Gewerkschaften in Simbabwe fordern die Regierung auf, die Gesetze zu ändern oder aufzuheben.
    In der Türkei nutzte ein Unternehmen einen Regierungserlass, der sich auf die „nationale Sicherheit“ bezog, als Strategie, um einen Streik einzuschränken. Beschäftigte und Gewerkschaften lehnten dies ab und erhielten schließlich eine Lohnerhöhung…“
    Stellungnahme von IndustriAll vom 20. Februar 2023 externer Link („The right to strike protects workers“)

1. Angriffe auf das Streikrecht in Deutschland sind keine Besonderheit, schon gar nicht in Branchen kritischer Infrastruktur

Regelmässige Angriffe gab/gibt es in Deutschland bei den Piloten, Fluglotsen, Sicherheitsbeschäftigten am Flughafen sowie Sicherheitsgewerbe allgemein und im ÖPNV (mehrfach) oder BewacherInnen von kerntechnischen Anlagen (und z.B. bei Neupack Hamburg)…

2. International betrachtet sind Streikverbote eher die Regel als Ausnahme (nur Beispiele):

Nochmals: Dies sind nur einige Beispiele, wir haben ja fast alle Länder der Welt unter Beobachtung – wie schlecht es weltweit um Gewerkschaftsrechte allgemein und das Steikrecht insbesondere steht, kann ganz aktuelle dem Globalen Rechtsindex des IGB 2022 entnommen werden: Die zehn schlimmsten Länder für erwerbstätige Menschen und insgesamt massive Zunahme von Gewalt und Angriffen…

3. Die „weichen“ Waffen unterhalb eines Streikverbots reichen oft genug aus…

Dabei hat das Kapital auch so einen Fächer von Mitteln um das aktuelle Streikrecht zu unterlaufen – siehe auch eine kleine Auswahl aus unseren Beiträgen über Angriffe auf das Streikrecht nach Branchen und Berufsgruppen und Keulen:

4. Dagegen hilft nur das offensive Anwenden aus den Debatten über Umgehungsstrategien des restriktiven (deutschen) Streikrechts – die dringend fortgeführt werden müssen

Hierzu nur eine kleine und heterogene Auswahl aus dem Fundus, die Anregungen liefern könnte für eine dringende Fortsetzung einer aktuellen Debatte über – möglichst von der Rechtssprechung unabhängige – Strategien des Kampfes:

Streiks: Wild und politisch oder wirkungslos wie ein lauer Herbst

Die Militarisierung des ArbeitskampfesDas Streikrecht stellte schon immer eine Machtfrage dar. In Zeiten des Klassenkampfes von oben durch abnehmenden Bedarf an menschlicher Arbeitskraft (also ungefähr seit zwanzig Jahren) konstatieren wir auch die abnehmende Bereitschaft des Kapitals – da auch minimale Notwendigkeit – zu Kompromissen fest. Anders ausgedrückt: Die Androhung von Streiks kann ein Kapital, das unter (selbst erzeugten) Überkapazitäten leidet, kaum schrecken, wodurch die Gewerkschaften entweder immer mehr Konzessionen machen müssen oder immer häufiger vor die Frage des Streiks gestellt werden.

Dies alles spielt sich vor dem Hintergrund einer extremen Verrechtlichung des Arbeitskampfrechts in Deutschland, quasi betonierter Klassenkompromiss. Die Akzeptanz des „Streiks als absolut letzten Mittels“ durch die Gewerkschaftsführungen – aus untertäniger Rechtstaatlichkeit, aber auch Wettbewerbskorporatismus heraus – führte dazu, dass Streiks in ihrer ritualisierten Form längst zu einer Parodie der Arbeiterbewegung verkommen sind. Während also die Lohnabhängigen angesichts der zunehmenden Lohnabhängigkeit die ganze Bäckerei fordern müssen/müssten, um auch nur einen Krümmel der Torte zu erhaschen und Schlimmstes zu verhindern, fordert die Wirtschaft aktuell gar ein Streikverbot.

Eigentlich unnötig, denn gerade liegt ein gemeinsamer Vorstoß für gesetzliche Regelung gegen Spartengewerkschaften von DGB und BDA vor, wobei diese Partnerschaft in Sachen Tarifeinheit eindeutig auch das ohnehin rudimentäre Streikrecht einschränken wird. Während das Kapital hierbei das Gespenst der britischen Verhältnisse mit permanenten Streiks von Spartengewerkschaften an die Wand der nationalen Wettbewerbsfähigkeit malt, sind die Gewerkschaftsapparate zum Schutz vor kleinerer und kämpferischerer Konkurrenz von Spartengewerkschaften (lt. Michael Sommer „Zersplitterung der Tariflandschaft mit negativen Auswirkungen für Beschäftigte und Unternehmen“) bereit, blutig erkämpfte Errungenschaft der Arbeiterbewegung aufzugeben. Nicht die Gewerkschaften, sondern das Kapital hat den Klassenkompromiss aufgekündigt!

Wer unter den Lohnabhängigen bereit ist, die nationale Wettbewerbsfähigkeit und notfalls auch den eigenen Arbeitsplatz zu gefährden, diskutiert seit längerem neue Formen des Arbeitskampfes: Wie „Französisch lernen“, wie mit Verängstigten kämpfen, wie die Solidarität der betroffenen Bevölkerung erhalten? Hierfür stehen einige neue „Guerillataktiken im Arbeitskampf“ zur Verfügung: Ausgedehnte Betriebsversammlungen, Flashmobs, Betriebsbesetzungen, Blockaden, Boykott, Nicht-Streik… Noch ist die freie Wahl der Kampfmittel von der Verfassung geschützt! Und es passiert tatsächlich mehr in der letzten Zeit – sogar Hungerstreiks, Geiselnahmen, Selbstverbrennungen – in der Krise greifen Lohnabhängige weltweit zu spektakulären und oft verzweifelten Mitteln. Doch eben erst aus Verzweiflung angesichts drohender Erwerbslosigkeit, oft gegen die Gewerkschaften oder trotz ihnen und wenn gewerkschaftlich initiiert, dann meist für Sozialpläne, nicht gegen die Betriebsschließung…

Es ist offensichtlich, dass legale Arbeitskampfmittel nur legal sind, weil sie nicht wirken. Dass Streiks außerhalb der Tarifrituale wirkungsvoll sein können und zudem sanktionsfrei bleiben hat z.B. die Bochumer Opelbelegschaft 2004 gezeigt. Doch hilft dies zwar gegen allzu kompromissbereite Betriebsräte oder Gewerkschaftsapparate, wenn sich eine Belegschaft eigenmächtig widersetzt, bleibt aber wirkungslos gegen ökonomisch bedingte Entlassungen und Betriebsschließungen. Denn hier geht es um den Kampf um Lebensbedingungen. Wenn Hartz-Gesetze und Privatisierungen der Lebensvorsorge nicht vorhandene Arbeitsplätze alternativlos machen – und die Gewerkschaftsbewegung erpressbar – müssen die Lohnabhängigen (mit oder auch ohne die Gewerkschaftsapparate) ihre sonst zersplitterten Kämpfe zu gesellschaftlichen, politischen machen.

Als erste DGB-Gewerkschaft hat immerhin die IG BAU das Kampfmittel des Politischen Streiks in ihrer Satzung aufgenommen, doch politische Streiks werden nicht bei der Regierung erbettelt, sie werden einfach geführt und zu politischen gemacht. Denn Schadensersatzforderungen des Kapitals und den Ängsten der Lohnabhängigen vor Hartz IV und Entwürdigung kann nur mit dem politischen Streik gegen die Hartzgesetze und ein humanes Grundeinkommen begegnet werden. Wild und  politisch – oder gar nicht.

Artikel von Mag Wompel in prager frühling vom Februar 2011

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=202382
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