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Das System in Libanon reagiert auf die andauernden Massenproteste: Auch das Parlament verabschiedet die Verlängerung der Notstandsregimes – und die EU will mehr Neoliberalismus diktieren

Auch bei den Protesten im Libanon spielen die Frauen eine zentrale Rolle, hier im November 2019 in BeirutDass die (abgetretene) Regierung des Libanon, die tragende Kräfte des reaktionären Proporz-Systems und die machthabende Klasse im Allgemeinen nicht auf Proteste und Katastrophen im Land reagieren würden, kann man so nicht sagen. Jetzt hat auch das Parlament des Systems die Verlängerung des Notstands durch eine eigentlich abgetretene Regierung unterstützt. Und wer jetzt vielleicht denkt, dabei würde es sich um Sondermaßnahmen zur Hilfeleistung handeln, der glaubt auch an Aschenputtel. Sonderrechte für die Armee, Prozesse gegen Zivilisten vor Militärgerichten – das sind einige Maßnahmen aus einem extrem reaktionären antisozialen Katalog, der da von den Herrschenden verabschiedet wurde. Die Meldung „Lebanese parliament approves continuation of emergency, army granted special powers“ am 14. August 2020 bei Peoples Dispatch externer Link macht schon in der Überschrift deutlich, worum es der Reaktion im Libanon mit ihrem Notstand geht. Schon um die Bevölkerung – und ihre weitere Unterdrückung, die nach wie vor nicht funktioniert… Siehe dazu vier weitere aktuelle Beiträge zur Situation und den aktuellen Bestrebungen verschiedener sozialer Akteure im Libanon – darunter auch die Lebenswirklichkeit und Aktivitäten der ArbeitsmigrantInnen – sowie den Verweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge zu den Massenprotesten im Libanon:

„Sie haben Guillotinen dabei“ von Sabine Kebir am 14. August 2020 im Freitag online externer Link (Ausgabe 33/2020) zur aktuellen Entwicklung der Massenproteste und europäischen Absichten unter anderem: „… Neuartig an den Massendemos, die das Bild des Libanon seit Oktober 2019 prägten, war, dass sich nicht mehr religiöse Gemeinschaften gegeneinander aufstellten, sondern dass es sich um konfessionsübergreifende Proteste handelte, die das herrschende, hinter religiöser Bigotterie getarnte Clanwesen in Frage stellten und Maßnahmen gegen die Korruption forderten. Mit der damit einhergehenden Stärkung von Gewerkschaften und laizistischen politischen Kräften konnte sich im Libanon erstmals eine wirklich demokratische Perspektive entfalten. Im Zuge der Proteste musste Ende Oktober die Regierung Saad Hariris zurücktreten, nachdem der noch in Saudi-Arabien vergebens um Hilfe gebeten hatte. Obwohl das aktuelle Staatsoberhaupt, Michel Aoun, eine rückhaltlose Aufklärung der Explosionskatastrophe versprochen hat, sehen die bislang unternommenen Schritte nicht konsequent aus. Verhaftet wurde eine Reihe von Arbeitern sowie Leitungskadern des Hafens, die die dort seit sechs Jahren lagernden 275 Tonnen Ammoniumnitrat nicht ordnungsgemäß kontrolliert haben sollen. Nicht geforscht wurde nach den Eigentümern des Stoffes, der schließlich nicht nur als Dünger, sondern auch zur Herstellung von Explosivwaffen verwendet werden kann. Eine international besetzte Untersuchungskommission, die viele Libanesen fordern, lehnte die Regierung ab. Der Niedergang des Libanon – wie auch Jordaniens – hängt auch mit dem Syrienkrieg zusammen. Alle drei Länder sind historisch und kulturell eng verbunden. Sie kannten bis zum Ende des Osmanischen Reichs keine Grenzen; erst die Mandatsmächte England und Frankreich zogen diese, entsprechend ihren untereinander ausgehandelten Einflusssphären. Das sehr trockene Jordanien und der stark bevölkerte Libanon sind von Landwirtschaftsprodukten aus Syrien abhängig und wünschen auch deshalb eine befriedete durchlässige Grenze. Im Unterschied zu europäischen Ländern, die syrische Flüchtlinge aufgenommen haben, schlossen die libanesische und die jordanische Regierung mit Damaskus Verträge ab, wonach Rückkehrwillige bei den konsularischen Vertretungen Syriens Auskunft einholen können, ob sie Verfolgung zu erwarten haben oder nicht, und auch, inwieweit eine Heimkehr an die Herkunftsorte möglich ist. Da die soziale Krise die Akzeptanz für die Flüchtlinge vermindert, wird von der Rückkehrmöglichkeit auch Gebrauch gemacht. Mittlerweile gibt es wieder einen kleinen Grenzverkehr mit Syrien. Großhändler können Obst und Gemüse in Damaskus preiswerter erwerben als in Amman und Beirut. Dass die Karten im Libanon jetzt womöglich neu gemischt werden können, zeigte auch das Hilfsangebot Israels, mit dem der Libanon seit 1948 offiziell im Kriegszustand ist. Man muss kein Prophet sein, um festzustellen, dass sich ein durch die Katastrophen- und Aufbauhilfen vergrößerter europäischer Einfluss im Libanon irgendwie mit dem des Iran arrangieren müsste. Die Corona-Krise hat zwar offenbart, wie sehr die iranische Sozialstruktur geschwächt ist. Teheran wird sein ideologisches und militärisches Engagement im Libanon aber nicht vermindern, allerdings kaum in der Lage sein, notwendige Aufbauhilfen rasch zu gewähren…“

„Krise als Geschäft“ von Philip Malzahn am 15. August 2020 in nd online externer Link zu Aktivitäten der System-Profiteure: „… Obwohl es kaum zuverlässige Daten gibt, weiß man: Die damalige Minderheit der Schiiten ist heute die größte Bevölkerungsgruppe. Die Hisbollah wiederum ist die größte schiitische Organisation. Sie ist ein hybrider Akteur mit einem militärischen, zivilen und politischen Flügel. Mal agiert sie als Miliz, mal als zivilgesellschaftliche Kraft – und nebenbei zweitstärkste Kraft im Parlament. Unterstützt wird die Hisbollah aus Teheran; im Nachbarland Syrien ist sie wichtige Kriegspartei. Über Jahre konzentrierte sich die westliche Libanon-Politik darauf, den wachsenden Einfluss Irans über die – auch hierzulande als Terrororganisation verbotene – Hisbollah zu beschränken, etwa durch wirtschaftliche Sanktionen gegen ihre Funktionäre, aber auch gegen das Nachbarland Syrien. Funktioniert hat all das nicht. Im Gegenteil hat die Hisbollah in den vergangenen Jahrzehnten einen rasanten Aufstieg erlebt. Heute sei sie, sagt der Experte Daher, ein um so festerer Bestandteil des »kapitalistischen und konfessionsgebundenen Systems im Libanon«. Sie kooperiere »mit wichtigen Familien, Stämmen und bürgerlichen Clans«. In vielerlei Hinsicht stärke die Hisbollah »die bestehende Ordnung, nämlich ein System, das mehr auf primären Identitäten – Familie, Sekten, politische Partei – als auf sozialen Rechten beruht.« Deshalb habe sie letztlich vor allem zum Ziel, das »konfessionsgebundene und neoliberale System« zu erhalten. Der internationale Versuch, die Hisbollah zu isolieren, hat eher das Gegenteil bewirkt. Christen und Schiiten haben sich angenähert. Gerade in jüngeren Jahren schürte die Aufnahme von über einer Million – großteils sunnitischen – syrischen Kriegsflüchtlingen in dem kleinen Land die christliche wie schiitische Angst vor einer Verschiebung der demografischen Kräfteverhältnisse. Die derzeitigen Proteste auf den Straßen Libanons richten sich dezidiert gegen das System als Ganzes. Wie Emmanuel Macron hat auch der deutsche Außenminister Heiko Maas seine Unterstützung für die Bestrebungen der Menschen geäußert. »Das Land braucht jetzt einen kraftvollen Aufbruch und es braucht tiefgreifende wirtschaftliche Reformen«, sagte Maas jüngst vor seinem Flug nach Beirut. Welche Art von »Reformen« im Libanon tatsächlich dringlich sind, bleibt dabei offen…“

„„Sie räumen als Sklaven die Folgen der Explosion auf.““ am 13. August 2020 im Migazin externer Link stellt die besondere Situation der im Libanon so zahlreichen ArbeitsmigrantInnen dar: „… Bereits vor der Explosion wurden viele der ausländischen Angestellten nicht oder ungenügend bezahlt. Die Wirtschaftskrise, die mit Beginn der Corona-Pandemie sich weiter verschlimmerte, hat das Land schwer getroffen. Die libanesische Lira hat 70 Prozent seines Wertes verloren. 50 Prozent des Libanons ist nun von Armut betroffen. Die Mittelklasse ist förmlich über die letzten Monate verschwunden. Die Arbeitslosenrate ist explodiert, so sind auch die Preise vieler wesentlicher Güter wie Nahrungsmittel und Benzin. Libanon steuert auf eine Hungersnot zu. „Hausangestellte, die seit Monaten und in einigen Fällen seit Jahren nicht mehr bezahlt werden, haben fast keine Hoffnung mehr, jemals bezahlt zu werden. Sie räumen als Sklaven die Folgen der Explosion auf. […]“, schreibt die Aktivistin Patricia (Pseudonym) von der Hilfsorganisation „This Is Lebanon“. (…) Nach der Explosion im Hafen Beiruts Anfang August, bei der über 200 Menschen starben, über 6000 verletzt und 300.000 Menschen obdachlos wurden, ist zu erwarten, dass sich die Situation der ausländischen Arbeitskräfte nur noch verschlimmert. Hilfsorganisationen und Aktivist:innen rufen die Regierungen dazu auf, umgehend und unbürokratisch ihre Staatsbürger:innen nach Hause zu holen. Die meisten Botschaften bieten den Arbeitsmigrantinnen nach wie vor keine Unterstützung. Wie „This Is Lebanon“ berichtet hat die kenianische Botschaft Polizei vor ihre Türen postiert, um die Bürger ihres eigenen Landes daran zu hindern bei ihnen Schutz zu suchen.  Dies passiert kurz nachdem ein investigativer Report von CNN dem Konsulat Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen hatte. Andere Botschaften wie die äthiopische Botschaft verlangen horrende Summen für Flugtickets. Verschiedene Hilfsorganisationen wie „Egna Legna“, „Anti-Racism Movement“ und „This Is Lebanon“ nebst anderen, sowie private Aktivist:innen versuchen daher Gelder aufzutreiben und unterstützen die Frauen bei allen nötigen Schritten, um ihnen die Rückkehr in ihre Länder zu ermöglichen. Einige der Frauen sind kreativ geworden. Eine Gruppe von Arbeiterinnen aus Sierra Leone hat die Band Thewanthdean (Eine Schwesternschaft) gegründet und den Song  „Bye and Bye“ aufgenommen. In dem Lied erzählen die Frauen ihren fiktiven Enkeln von ihrem harten Leben und den Misshandlungen, die sie im Libanon erfahren haben. Sie versuchen auf diesem Weg auf ihre Situation aufmerksam zu machen und das nötige Geld zum Überleben und für die Flugtickets zu sammeln…“

 „The International Aid the Lebanese People Urgently Need Must Not Be Used to Enforce Neoliberal Measures“ am 11. August 2020 bei CADTM International externer Link ist ein faktischer Aufruf gegen die aktuellen Bestrebungen diverser EU-Staaten, die dringend nötige finanzielle Unterstützung des Libanon als Waffe für eine weitere Erpressung zu benutzen: Kohle gibt es, wenn ihr unsere Vorgaben nach weiteren neoliberalen Reformen befolgt – also ganz einig mit dem System, keine Politik im Sinne der Bevölkerung, sondern Geschäft…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=176860
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