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Nach der Katastrophe: Wenn Beirut noch lebt – dann sicher weder wegen der Regierung noch wegen internationaler Einmischung

Libanon: My Gevernment did it„… Doch am Montag früh waren erst drei Minister und sieben Ab­geordnete zurückgetreten, acht davon Christen und Christinnen, eine Drusin und ein Druse. Die im Parlament vertretenen Parteien sind konfessionell geprägt: maronitisch, drusisch, schiitisch, sunnitisch. Das Wahlsystem verhindert, dass an­dere Parteien Sitze erringen. Bürgerparteien und Kommunisten erhalten regelmäßig mehr Stimmen als manche konfessionelle Partei, aber keine Mandate. Die konfessionell geprägten Parteien sind reine Klientelvertretungen. Ihre Minister machen keine gemeinsame Politik, sondern sichern ihrer Gefolgschaft ein gutes Stück vom Kuchen. Statt sich etwa für staatliche Krankenhäuser einzusetzen, verlangen sie Geld, um selber eins für ihre Klientel zu bauen. Dieses System ist notwendigerweise extrem korrupt. (…) Dass internationale Geldgeber einer de facto von der Hizbollah geführten Regierung keinen Kredit geben wollten, tat ein Übriges, um den Libanon in den Finanzkollaps zu treiben. Es waren zunächst nur die von der ­Hizbollah verdrängten Politiker, die zurücktraten. Sie sind nicht weniger korrupt als andere, wollen aber Neuwahlen, um die Balance im System wiederherzustellen. Die Machthabenden hingegen blieben zunächst stur. Die Proteste ließen sie brutal niederknüppeln. Präsident Michel Aoun spekulierte zwei Tage nach der Explosion über eine feindliche Intervention, die die Katastrophe aus­gelöst haben könnte. Zu diesem Zeitpunkt war längst klar, dass das hochexplosive Düngemittel seit Jahren ungesichert in der Lagerhalle vor sich hingegammelt hatte. Ein ehemaliger Hafenaufseher hatte sich bei der britischen Zeitung Guardian gemeldet und zu Protokoll gegeben, dass er seit 2013 die Behörden mehrfach auf die Gefahr hingewiesen habe. Wie Hohn klang es, als Hiz­bollah-Generalsekretär Hassan Nasrallah jede Verantwortung von sich wies. In einer Fernsehansprache sagte er: »Wir haben nichts am Hafen, kein Waffendepot, weder Raketen noch Bomben, noch Gewehre oder Ammoniumnitrat.«...“ – aus dem Artikel „Big Bang in Beirut“ von Hannah Wettig am 13. Augsut 2020 in der jungle world externer Link (Ausgabe 33/2020). Siehe dazu auch eine Stellungnahme (und Handlungsaufruf) von Beiruter Linken und ein Gespräch (vor allem) über die ökonomische Struktur des Landes – sowie den Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beträge zum Libanon:

  • „Im Vordergrund steht die Wut“ am 11. August 2020 in nd online externer Link ist ein Gespräch von Philip Malzahn mit Miriam Younes, Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut, worin sie unter anderem unterstreicht: „… Die Forderungen auf der Straße werden von ganz vielen Emotionen, vor allem Wut, angetrieben. Es ist die gleiche Wut, die wir bereits am 17. Oktober gesehen, als die Leute zum ersten Mal auf die Straße gegangen sind und eine für uns alle in ihrer Dimension und Härte überraschende Protestbewegung einläuteten. Plötzlich ist das ganze Land auf der Straße, und plötzlich steht alles still. Geschäfte, Banken, alles macht zu. Natürlich gibt es neben der Wut auch konkrete Forderungen. Natürlich sind die Menschen gegen das System und für einen Neuanfang und Transparenz. Man fordert eine Aufklärung von verschiedenen Verbrechen, die Politiker in den vergangenen Jahren oder auch Jahrzehnten begangen haben, und vor allem natürlich eine Gerichtsbarkeit, die diese Verbrechen dann verfolgt. An diesem Punkt wird es aber kompliziert: Wir sehen auf den Straßen auch verschiedene politische Gruppierungen, die spezifischere Forderungen stellen. Was fehlt, ist irgendeine Form von klarer, politischer Opposition, so dass wir wirklich sagen können, okay, zusätzlich zu den wütenden Menschen auf der Straße gibt es da irgendwo noch etwas, was darüber hinaus geht. Ich will das gar nicht als große Kritik darstellen, es ist mehr das Gefühl, dass das vielleicht noch eine Entwicklungsstufe ist, die diese Proteste erreichen müssen. (…) Erst mal muss man sagen, dass auch die Proteste im Oktober in gewisser Weise eine Fortsetzung von früheren Protestwellen waren. Wir haben es im Libanon mit einer Gesellschaft zu tun, die schon lange genug hat und auch schon lange punktuell mobilisiert und demonstriert. Die jetzige Regierung verkörpert, wie viele davor, ein politisches System, was eigentlich am Boden ist, sich aber trotz allem noch gut hält. Die Proteste gegen diese Regierung sind Ausdruck einer wütenden und politisch auf jeden Fall interessierten wie auch fordernden Gesellschaft, die es aber aus verschiedenen Gründen nicht schafft, sich politisch zu formieren. Das liegt natürlich einerseits an dem System, das es gar nicht zulässt, dass andere politische Ideen oder Gruppen an die Macht kommen. Gleichzeitig sind die Proteste aber auch Ausdruck einer Krise von politischen Ideen. Das wirklich Zynische daran ist, dass einige libanesische Politiker*innen gesagt haben, diese Explosion habe dazu geführt, die wirtschaftliche Blockade Libanons durch Sanktionen zu brechen. Dass man angesichts von so vielen Toten und Verletzten, von so vielen, die alles verloren haben, noch sagen kann, dass diese Explosion irgendeinen positiven Effekt hat, ist zynisch. Ob 250 Millionen Euro genug sind oder nicht, das ist immer so schwierig zu sagen. Die Frage ist, wer bekommt dieses Geld? Der französische Präsident Emmanuel Macron, der ja schon vor wenigen Tagen im Libanon war, hat gleich gesagt, er will der Regierung nichts geben. Das Geld werde stattdessen an die Menschen gehen. Da stellt sich aber auch die Frage, wer denn diese Menschen repräsentiert. Ich denke, es ist eine Menge Geld, es kann wahnsinnig viel bewirken, wenn es an die richtigen Stellen geht. Aber ich bezweifle auch, dass es tatsächlich dort ankommt, wo es am meisten benötigt wird. Zum einen angesichts der Sanktionen, die Sie angesprochen haben, aber auch angesichts der wirtschaftlichen Lage im Land und angesichts der Tatsache, dass dieses Geld wohl kaum in irgendeiner Form nicht über die libanesische Regierung oder über die libanesischen Politiker gehen wird. Der Libanon hat in seiner Geschichte unglaublich viele Hilfsgelder bekommen. Aber wenn man sich anschaut, wie die wirtschaftliche Lage im Land ist, dann muss man sich fragen, was mit diesem Geld passiert. Das war ja nicht nur Nothilfe, es ist auch Entwicklungsgeld gewesen. Das ist, denke ich, die wahre Tragik des Libanons. Ich würde die Sanktionen nicht alleine für für die Wirtschaftskrise verantwortlich machen. Die Krise kommt daher, dass der Libanon seit Jahrzehnten kein Wirtschaftskonzept hat. Stattdessen gibt es eine träge Rentenökonomie, die auf einer Immobilienblase basiert…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=176778
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