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Nicht nur Spaniens Linke trauern um Lucio Urtubia, Enteignungsaktivist gegen den spanischen Faschismus

Dossier

Nicht nur Spaniens Linke trauern um Lucio Urtubia, Enteignungsaktivist gegen den spanischen Faschismus„… Lucio ist selbst Migrant. Er wurde 1931 in einem kleinen Dorf in Navarra, im spanischen Baskenland geboren. Seine Kindheit war geprägt von extremer Armut und dem Terror der Franquisten. Schon früh musste er arbeiten. Ende der vierziger Jahre stieg er mit seinem Bruder ins Schmuggelgeschäft ein. Immer wieder überquerten sie die Pyrenäen und brachten Waren über die spanisch-französische Grenze. Kurz danach wurde er zum Militärdienst eingezogen. Dort ermöglichte ein Posten im Lager den Ausbau der Geschäfte. Gemeinsam mit anderen schaffte er tonnenweise Material aus der Kaserne. Als diese Aktivitäten entdeckt wurden, desertierte er 1954 nach Frankreich. In Paris fand er Arbeit auf dem Bau, wo er andere Flüchtlinge aus Spanien kennen lernte. Er freundete sich mit anarchistischen Kollegen aus Katalonien an, die ihm libertäre Ideen näherbrachten. Sie führten ihn ins Zentrum der CNT ein, wo sich Arbeiter und Intellektuelle zu Vorträgen und Diskussionen trafen. Für Lucio erschloss sich eine neue Welt. 1957 lernte er Francisco „Quico“ Sabaté kennen – eine der entscheidenden Begegnungen in seinem Leben. Quico war damals einer der meistgesuchten Anarchisten in Spanien. Er hatte im Bürgerkrieg gekämpft und 1939 nach Frankreich fliehen müssen. Aber er reiste immer wieder nach Spanien ein, um sich an bewaffneten Sabotageaktionen zu beteiligen. Er überfiel Banken, um den Widerstand gegen Franco zu finanzieren, und transportierte in Frankreich gedrucktes Propagandamaterial über die Grenze nach Spanien. Als er einen Unterschlupf in Paris brauchte, brachten ihn anarchistische Compañeros zu Lucio. Zwischen den beiden entwickelte sich eine enge Freundschaft. Um einer drohenden Auslieferung nach Spanien zu entgehen, beschloss Quico, sich den französischen Behörden zu stellen und eine Haftstrafe in Frankreich abzusitzen. Vorher übergab er Lucio sein Waffenarsenal. Damit begann Lucios Geschichte als Enteigner der Banken…“- aus dem Artikel „Fälscher für die internationale Revolte“ von Alix Arnold in der ila-Ausgabe 339 externer Link (Oktober 2010) – eine Vorstellung des Buches „Baustelle Revolution – Erinnerungen eines Anarchisten“ damals gerade neu bei der Assoziation A erschienen. Siehe dazu auch den Nachruf des Verlags:

  • Hasta siempre, Lucio. New
    Lucio Urtubia - - wir danke Alix Arnold für das Foto!

    Eigentlich mag Lucio lieber ordentlich gestrichene Wände, aber nach einem Essen mit der baskischen Band Esne Beltza im Oktober 2010 in Berlin in der Punkrock-Pizzeria Il Ritrovo verewigte er sich gemeinsam mit der Band an der Wand – wir danke Alix Arnold für das Foto!

    Anarchist, Bankräuber, Fälscher, aber vor allem … Maurer. Dieser ungewöhnliche Filmtitel, auf den ich im Internet stieß, machte neugierig. Was wir dann in dem Dokumentarfilm der baskischen Filmemacher Aitor Arregi und Jose Mari Goenaga von 2007 sahen, konnten wir kaum glauben. So viele außergewöhnliche Aktionen, Abenteuer und Begegnungen in einem einzigen Leben? (…) Wie konnte es sein, dass wir von diesem interessanten Menschen noch nie etwas gehört hatten? Wir suchten nach weiteren Informationen. Auf Deutsch fanden wir nur eine kleine Notiz bei der FAU. Es gab eine Biografie von Bernard Thomas, die 2000 auf Französisch und 2001 auf Spanisch erschienen ist. Da war Lucio bereits 70 Jahre alt. Diese langjährige Verschwiegenheit und Unsichtbarkeit ist sicher einer der Gründe, warum Lucio trotz der beeindruckenden Serie von Gesetzesbrüchen nur relativ wenig Zeit in Gefängnissen verbringen musste. Während er Millionenbeträge für die Bewegungen enteignete und eine untergründige Infrastruktur weltweiter Solidarität aufbaute, lebte er selbst unauffällig und bescheiden in Paris. Seinen Lebensunterhalt verdiente er mit der Maurerkelle auf dem Bau, wo er jeden Morgen pünktlich zur Arbeit erschien. Nur wenige Menschen wussten von seinen klandestinen Aktivitäten, und die Verfolgungsbehörden trauten dem einfachen Arbeiter und Migranten derart ausgeklügelte Aktionen lange Zeit nicht zu. Die Vorurteile der Gegenseite können manchmal auch von Vorteil sein. Während meine im Baskenland lebende Freundin Gabi Schwab und ich noch überlegten, ob wir die Biografie übersetzen sollten, um diese faszinierende Lebensgeschichte bekannt zu machen, erschien Ende 2008 im baskischen Verlag Txalaparta Lucios Autobiografie. Wir nahmen Kontakt zu Lucio auf, der von dem Vorschlag, sein Buch zu übersetzen, sofort begeistert war, und hatten durch dieses Projekt das Privileg, ihn bald auch persönlich kennen zu lernen. Schon das erste Treffen mit ihm in Paris war eine herzliche Begegnung und der Anfang einer schönen Zusammenarbeit. (…) Am 18. Juli ist Lucio mit 89 Jahren in Paris gestorben. Wir haben einen außergewöhnlichen Genossen verloren – mutig, großzügig, hartnäckig, unbestechlich und immer solidarisch. Ruhe in Freiheit, compañero. Ich hätte gerne noch mehr Gelegenheiten gehabt, eine Flasche Wein mit dir zu teilen. Du wirst mir fehlen.“ (Wunderschöner) Nachruf von Alix Arnold vom 3. August 2020  – wir danken!

    • Siehe zum Hintergrund das Buch: Lucio Urtubia: Baustelle Revolution. Erinnerungen eines Anarchisten. Aus dem Spanischen von Alix Arnold und Gabriele Schwab, Hamburg/Berlin 2010 – Infos zum Buch beim Verlag Assoziation A externer Link
  • „In Memoriam Lucio Urtubia (1931-2020)“ bei der Assoziation A externer Link erinnert unter anderem: „… 1962 schlägt er dem damaligen Leiter der Nationalbank Kubas, Che Guevara, vor, den Weltmarkt mit gefälschten Dollarnoten zu überschwemmen, um die US-amerikanische Wirtschaft zu destabilisieren. Der Vorschlag stößt auf kubanischer Seite auf wenig Gegenliebe, doch der Gedanke bleibt in Lucio lebendig. 1980 gelingt ihm sein größter Coup: Durch den Druck von Travellerschecks der Citibank im Wert von mehreren Millionen Dollar zwingt er die damals mächtigste Bank der Welt in die Knie. Die Liste seiner Aktivitäten ist damit nicht erschöpft. Doch Lucio ist auch ein Meister der Konspiration, dem in seinem nicht gerade gesetzestreuen Leben das Kunststück gelingt, nur ein paar Monate im Gefängnis zu verbringen. Erst mit weit über 70 Jahren bricht er das Schweigen. Ein Buch über ihn erscheint, und ein Film wird gedreht, der mit deutschen Untertiteln in sieben Folgen auch bei YouTube zu sehen ist. Schließlich veröffentlicht er seine Autobiografie, um selbst über sein Leben und die Motive seines Handelns Rechenschaft abzulegen. »Eine Bank zu berauben sei ihm eine Ehre« lautet dabei seine politische Grundüberzeugung. Unvergessen bleibt auch die Anekdote während einer Buchvorstellung in der Hamburger Roten Flora: Angesichts der grafitti-übersäten Wände und des maroden Charmes des autonomen Zentrums meinte der auf sein Handwerk stolze Maurer: »Leute, so geht das doch nicht, dieses Gemäuer könnte eine Renovierung vertragen.« Nun ist der »Zorro vasco« mit 89 Jahren nach einem erfüllten Leben in Paris gestorben...“
  • Für internationale Nachrufe siehe bei Twitter #LucioUrtubia
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=175739
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