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Zornige Heimkehrer. Rumänische WanderarbeiterInnen protestieren gegen ihre Regierung

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitDie derzeitigen Unruhen in Rumänien offenbaren, dass die Auswanderung die Probleme des Landes nicht lösen kann. Die Gesellschaft ist gespalten wie nie zuvor und befindet sich in einer Identitätskrise.
Zehntausende Menschen sind am 10. August 2018 in Rumänien gegen die sozialdemokratische Regierung auf die Straße gegangen. In Bukarest nahmen nach Angaben der OrganisatorInnen 60.000 Personen an einer Großdemonstration teil, Medien sprachen von 50.000 bis 80.000 TeilnehmerInnen. Weitere Kundgebungen mit über 10.000 Menschen in den Großstädten des Landes flankierten die Demonstration in der Hauptstadt. Die Bereitschaftspolizei attackierte die DemonstrantInnen wahrscheinlich auf Anweisung der Regierung mit einer Brutalität, die wir seit den 1990er Jahren in Rumänien nicht gesehen hatten. Aufgerufen zu der Veranstaltung hatte die rumänische »Diaspora«, so werden die vielen rumänischen WanderarbeiterInnen im öffentlichen Diskurs genannt. Dies erklärt den Zeitpunkt, denn viele AuslandsrumänInnen verbringen ihren Urlaub im August zuhause. Anfang des Monats bilden sich Schlangen an den Grenzstationen, Hochzeiten werden gerne im August gefeiert, teilweise füllen sich sonst verlassene Dörfer für einen Monat wieder. Die Themen für das Großereignis wurden ebenfalls stark von den EmigrantInnen bestimmt
…“ Artikel von Szabolcs Sepsi erschienen in express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 8-9/2018

Zornige Heimkehrer

Rumänische WanderarbeiterInnen protestieren gegen ihre Regierung– Von Szabolcs Sepsi*

Die derzeitigen Unruhen in Rumänien offenbaren, dass die Auswanderung die Probleme des Landes nicht lösen kann. Die Gesellschaft ist gespalten wie nie zuvor und befindet sich in einer Identitätskrise.

Zehntausende Menschen sind am 10. August 2018 in Rumänien gegen die sozialdemokratische Regierung auf die Straße gegangen. In Bukarest nahmen nach Angaben der OrganisatorInnen 60.000 Personen an einer Großdemonstration teil, Medien sprachen von 50.000 bis 80.000 TeilnehmerInnen. Weitere Kundgebungen mit über 10.000 Menschen in den Großstädten des Landes flankierten die Demonstration in der Hauptstadt. Die Bereitschaftspolizei attackierte die DemonstrantInnen wahrscheinlich auf Anweisung der Regierung mit einer Brutalität, die wir seit den 1990er Jahren in Rumänien nicht gesehen hatten.

Aufgerufen zu der Veranstaltung hatte die rumänische »Diaspora«, so werden die vielen rumänischen WanderarbeiterInnen im öffentlichen Diskurs genannt. Dies erklärt den Zeitpunkt, denn viele AuslandsrumänInnen verbringen ihren Urlaub im August zuhause. Anfang des Monats bilden sich Schlangen an den Grenzstationen, Hochzeiten werden gerne im August gefeiert, teilweise füllen sich sonst verlassene Dörfer für einen Monat wieder.

Die Themen für das Großereignis wurden ebenfalls stark von den EmigrantInnen bestimmt. Dramatische Berichte über die Situation der RumänInnen in Westeuropa liefen in den letzten Wochen in den Medien. Viele zeigten sich wütend darüber, dass sie gezwungen werden, im Ausland zu arbeiten, dass sie in der Heimat keine Möglichkeiten für sich sehen, dass Reformen und Fortschritte langsam oder gar nicht kommen und dass ihr Leben von der rumänischen Bürokratie erschwert wird.

Der Tenor: Wir schuften im Ausland, senden Geld nach Hause (2017 insgesamt 4,9 Milliarden US-Dollar laut Weltbank-Daten), ihr, die Regierenden wirtschaftet in die eigenen Taschen. Eine Aufnahme der Proteste zeigt einen wütenden jungen Mann, der einem Bereitschaftspolizisten ins Gesicht brüllt: »Weißt du, was das bedeutet, Sklave in Deutschland zu sein, damit du deiner Mutter 200 Euro im Monat schicken kannst?!« Es wurde deutlich: Sehr viele sind im Ausland unglücklich, können aber unter den heutigen Bedingungen nicht zurück.

Die ausländische Community – mittlerweile geschätzt 3,7 Millionen Menschen bei insgesamt 19 Millionen Staatsbürgern – ist ein wichtiger politischer Faktor und gilt bei Wahlen als Zünglein an der Waage. Der Siebenbürger Sachse Klaus Johannis konnte sich bei den Präsidentschaftswahlen 2014 dank der Stimmen der Auslandsrumänen gegen den Favoriten Victor Ponta durchsetzen.

Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei (PSD) Ponta führte eine Koalition mit komfortabler Mehrheit und dominierte in den teilweise loyalen Medien. Ein riesiger Parteiapparat mobilisierte energisch für ihn und sammelte insbesondere in armen ländlichen Regionen Stimmen. Zu den Methoden zählten Wahlgeschenke wie Lebensmittelpakete oder Werbung durch die rumänisch-orthodoxe Kirche während der Sonntagsmesse. In ländlichen Regionen kontrollieren örtliche Potentaten der PSD, meistens gleichzeitig Dorf-Bürgermeister, öffentlich geförderte Beschäftigung und können staatliche Unterstützungsleistungen gewähren oder blockieren. Wer auf dem Dorf lebt und arm ist, muss auch bei Wahlen »korrekt« abstimmen.

Die AuslandsrumänInnen zählen dagegen zu der weniger beliebten Klientel der PSD. Briefwahl wurde 2014 nicht gestattet, vermeintlich um Wahlbetrug zu verhindern. Stattdessen mussten die Betroffenen persönlich zu den rumänischen Botschaften und Konsulaten fahren, teilweise mehrere hundert Kilometer, um ihre Stimmen abgeben zu können. Die Auslandsvertretungen verfügten aber nicht über das notwendige Personal, um zehntausende Menschen an einem Tag persönlich abstimmen zu lassen. Die Wartezeit betrug im Schnitt vier bis fünf Stunden. Viele konnten gar nicht mehr abstimmen, weil die Wahlurnen pünktlich geschlossen werden mussten.

Die Verantwortung für die entstandene Situation wurde der regierenden PSD angelastet. Dies löste einen Bumerangeffekt aus, denn die rumänische Mittelschicht empörte sich über die Berichte aus dem Ausland. Die Stichwahl zwei Wochen später wurde zu einer Protestwahl gegen die PSD, die Wahlbeteiligung im In- und Ausland stieg deutlich an, Ponta verlor.

In diesem Zusammenhang bekommt die Teilnehmerzahl der Antiregierungsdemonstration vom 10. August eine besondere Bedeutung. Denn in Rumänien finden seit etwa 2012 regelmäßig Proteste statt. Diese richten sich häufig sehr allgemein gegen die Zustände, gegen das »System«, gegen Korruption oder Stagnation. Die Teilnehmerzahlen steigen kontinuierlich.

Am 9. Juni diesen Jahres organisierte die PSD selbst eine Großdemonstration. Diese richtete sich gegen den »Parallelstaat«, wie die Regierung die Staatsanwaltschaften und Gerichte bezeichnet, die seit einigen Jahren korrupte Politiker hartnäckig verfolgen, anklagen und verurteilen. Seit Monaten hetzen regierungstreue Medien gegen Richter und Staatsanwälte und verbreiten Verschwörungstheorien. Diese seien ausländische Agenten, würden von Soros bezahlt, wollen die Macht übernehmen usw.

An der Demonstration der Regierung nahmen zwischen 100.000 und 200.000 Menschen teil. Die Opposition, bürgerliche Medien und KommentatorInnen reagierten bestürzt und empört, über die TeilnehmerInnen wurde gespottet. Viele RumänInnen konnten es schlicht nicht verstehen, wie es passieren konnte, dass so viele ihrer MitbürgerInnen sich auf Staatskosten nach Bukarest hatten karren lassen.

Die TeilnehmerInnen, StammwählerInnen der PSD, sind diejenigen, die von dem Aufschwung der Ballungszentren nichts haben und es noch nicht mal geschafft haben, sich einen Job in einem deutschen Schlachthof zu besorgen. Sie bleiben zurück in halbleeren Dörfern, leben von Subsistenzwirtschaft oder von den sehr geringen staatlichen Transferzahlungen. Es sind RentnerInnen, die mit 150 bis 200 Euro pro Monat auskommen müssen und mit Versprechen nach Rentenerhöhungen mobilisiert werden. Oder es sind Bedienstete einer teilweise überdimensionierten und ineffizienten Bürokratie, für die Reform- und Modernisierungsvorschläge in erster Linie Existenzängste bedeuten. Sie lassen sich von den mächtigen Lokalpotentaten der PSD in den Bus setzen und nach Bukarest fahren oder nehmen die Gelegenheit als kostenlosen Ausflug wahr. Sie fahren schließlich nie in den Urlaub und haben nie die Möglichkeit, etwas »Interessantes« zu erleben. Viele besuchten die Hauptstadt zum ersten Mal in ihrem Leben.

Am 10. August versuchte die Opposition, die Regierungsveranstaltung zu übertrumpfen. Der Konflikt zwischen den beiden Lagern wurde auf Transparenten thematisiert: Kinder trugen Schilder, auf denen zu lesen stand: »Oma, hör auf, PSD zu wählen, du verspielst meine Zukunft«. Der Frust der RumänInnen aus der urbanen Mittelschicht über das Wahlverhalten ihrer armen, häufig alten MitbürgerInnen vom Dorf ist nichts Neues. Bei den Präsidentschaftswahlen 2014 sagte eine Frau in der Schlange vor dem Konsulat in Bonn: »Die alten Leute vom Dorf wissen nichts! Ich habe [einer Rentnerin] gesagt: Deine Tochter muss ja deshalb im Ausland Fremden den Arsch waschen, weil ihr immer wieder PSD wählt!«

An der Großdemonstration im August nahmen natürlich nicht nur WanderarbeiterInnen teil. Die rumänische Opposition besteht im Wesentlichen aus mittelständischen, liberalen und konservativen Gruppen, deren AnhängerInnen hauptsächlich in den Städten leben. Ihnen geht es ökonomisch besser als den meisten PSD-WählerInnen. Ihre politischen Forderungen berücksichtigen die Interessen der ärmeren Schichten nicht, Hetze gegen »Sozialschmarotzer«, RentnerInnen oder Beamte gehört in ihrem Diskurs zum Alltag. Die Oppositionellen fordern einen schlankeren Staat, möglichst wenig Bürokratie und möglichst geringe Steuern. Den Antikorruptionskampf der Staatsanwaltschaften unterstützen sie energisch. Von Deregulierungen und Steuersenkungen erhoffen sich viele mehr Wohlstand und weniger Vetternwirtschaft. Nur durch weniger Korruption und mehr »ökonomische Vernunft« könne Rumänien aufholen. Das Ziel ist, wie ein weiteres Transparent zusammenfasste: »Wir wollen ein Land wie im Ausland«.

An dieser Stelle rücken die Geschichten der AuslandsrumänInnen in den Mittelpunkt. Denn wer heute in Rumänien den westlichen Lebensstandard erreichen will, muss nach Westeuropa auswandern. Daher überrascht es nicht, dass die Benachteiligung der AuslandsrumänInnen bei den Wahlen 2014 auch im Inland einen Nerv getroffen hat. Ähnlich wirkten die Berichte über AuswandererInnen, die in Westeuropa zwar materiell besser leben, dort aber trotzdem unglücklich sind. Ihre Wut darüber, dass ihr Heimatland ihnen nach wie vor keine Perspektive bieten kann, ist dieselbe Wut, die eine über den langsamen Fortschritt frustrierte Mittelschicht spürt. Die Verantwortung sehen beide Gruppen bei den Regierenden, die mithilfe eines »unproduktiven« Prekariats an der Macht bleiben.

Man könnte auch sagen: Während in Deutschland Debatten über 1,5 Prozent der Kindergeldzahlungen geführt werden, reißen die Folgephänomene einer massiven Emigration und die Tatsache, dass man keinen Weg gefunden hat, mit dieser umzugehen, in Rumänien die Gesellschaft auseinander.

Dieses Jahr finden die Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen Rumäniens in seiner (fast) heutigen Form statt – die Vereinigung der drei »rumänischen« Länderteile Walachei, Moldawien und Siebenbürgen nach dem ersten Weltkrieg. Tatsächlich ist die Gesellschaft im »Einheitsjahr« gespalten wie nie zuvor. Wohin das führen wird ist nicht ersichtlich. Die Mobilisierungskraft der beiden Lager wird vermutlich auch in der Zukunft Wahlen entscheiden. Nationalismus ist wieder erstarkt, beide Lager setzen stark auf nationale Symboliken, wobei die Opposition diese mit den EU-Symbolen kombiniert. Vielleicht kippt wieder die eine oder andere Regierung, wie es in der Vergangenheit bereits passiert ist. Ein Ausweg aus der tiefen Krise, in der sich die Gesellschaft befindet, ist jedenfalls nicht abzusehen.

In Europa wurde viel über die Integration der RumänInnen gesprochen. Es tritt immer deutlicher zutage, dass auch Rumänien einen Weg finden muss, seine AuswandererInnen konstruktiv zu integrieren.

*  Szabolcs Sepsi wurde 1987 in Rumänien geboren und lebte bis August 2006 dort. Heute berät er in Dortmund Beschäftigte aus Mittel- und Osteuropa für das DGB-Projekt »Faire Mobilität« (www.faire-mobilitaet.de externer Link)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=137798
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