Bürokratieabbau: Regulierung im gesellschaftlichen Interesse statt „Better Regulation“
Dossier
„Unter dem Deckmantel „Bessere Rechtssetzung“ oder „Bürokratieabbau“ werden seit Jahrzehnten Angriffe auf soziale und ökologische Standards gefahren. (…) „Demokratische Regulierung der Wirtschaft und Verwaltungsmodernisierung im gesellschaftlichen Interesse“ könnte der Arbeitstitel für theoretische und praktische Projekte der konkreten Auseinandersetzung und Alternativen sein. Dabei geht es um nicht weniger, als um die Reflexion der politischen Funktionen des Staates und seiner Administration zum Schutz einer demokratischen sozial-ökologischen und rechtsstaatlichen Wirtschaftsordnung. Die Bedeutung dieser Frage wächst erkennbar, denn politische Regulierung, demokratische Legitimation und gesellschaftliche Akzeptanz fallen auseinander und finden einen Ausdruck in Verdrossenheit gegenüber zentralen Elementen der Regierungspolitik sowie in den Erfolgen nationalistischer und rechtspopulistischer Kräfte…“ Beitrag von Uwe Wötzel vom 13. Juni 2016 bei annotazioni.de
– mittlerweile ist jede Branche und jeder Aspekt der Politik von Sparmaßnahmen unter dem Label Bürokratieabbau tangiert…
- Bürokratieabbau als Demokratieabbau: Klingt harmlos nach Entlastung – ist aber längst zum politischen Kampfbegriff gegen zentrale Menschenrechte geworden
„Es gibt wohl kaum ein politisches Thema, zu dem es über alle politischen Spektren hinweg eine solche Einigkeit gibt wie bei der Forderung nach Abbau einer „überbordenden“ Bürokratie. Lobbyverbände haben hier ganze Arbeit geleistet. (…)
Sicherlich gibt es bürokratische Regelungen, die schlichtweg verzichtbar sind. Was aber in der Diskussion zunehmend verloren geht, ist ein Verständnis, dass viele staatliche oder EU-angeordneten Regulierungen zum Schutz von vulnerablen Gruppen oder einer vulnerablen Natur geschaffen wurden. (…)
Was das für die Zukunft, für die Verteidigung dieser Rechte bedeuten kann und jetzt schon bedeutet, zeigt ein Lehrstück aus Baden-Württemberg. 2021 war auf Druck eines breiten zivilgesellschaftlichen Bündnisses die Einführung eines Landesantidiskriminierungsgesetzes (LADG) im Koalitionsvertrag verankert worden. (…) Direkt nach der ersten Lesung im Kabinett startete eine Kampagne von Städte- und Gemeindetag, die darauf abzielt, das Gleichbehandlungsgesetzes zu verhindern. Ein Argument war, das Gesetz würde gegenüber Mitarbeitenden von Behörden, Bildungseinrichtungen und Polizei einen Generalverdacht zeigen und ihnen unterstellen, dass sie diskriminieren. (…) Politisch viel wirkungsmächtiger war aber das Argument, das Gesetz würde einen Bürokratieaufwuchs in den Behörden befördern. Irgendwer setzte das Wort – ich würde es fast als Unwort bezeichnen – „Bürokratiemonster“ in die Welt, es wurde von den Medien ungeprüft übernommen und weiterverbreitet. Bürokratie-Bashing sells. (…)
Dies hat sicher auch mit einer veränderten Stimmungslage in der Bundesrepublik und Europa zu tun. Die Verteidigung von Minderheitenrechten und Menschenwürde ist kein Thema mehr, mit dem sich Parteien profilieren wollen. Vor allem aber gegen den Vorwurf des Bürokratieaufbaus ist es in diesen Zeiten offensichtlich schwer, noch eine sachorientierte Politik zu machen. Und dabei ist es völlig unerheblich, ob es tatsächlich ein Bürokratieaufbau mit dem Gesetzesvorhaben verbunden ist. (…)
Auch Menschenrechtsaktivist:innen können selbst Bürokratie kritisieren, um bürokratische Regelungen sichtbar zu machen, die sich gegen Minderheiten richten. Ilja Trojanow hat dies in dem Kommentar „Tod von Familienangehörigen: Sterben in Bürokratistan“ in der taz gezeigt. (…) Es ist vermutlich sinnvoll, sich auf diese Weise Bürokratiekritik wieder anzueignen, um sie nicht komplett dem Populismus zu überlassen. Dies wird aber nicht viel ausrichten gegen die zu erwartende weitere Aushöhlung menschen- und naturrechtlicher Errungenschaften im Namen des Bürokratieabbaus. Einfach deswegen, weil es gar nicht um Bürokratieabbau geht.“ Beitrag von Andreas Foitzik vom 26. August 2025 im MiGAZIN(„Bürokratieabbau als Demokratieabbau“)
- Bürokratieabbau: DGB warnt vor Aushöhlung der Rechte von Arbeitnehmern
„Der Abbau bürokratischer Regeln gilt unter Wirtschaftsexperten als der Königsweg zu mehr Wachstum. Beim Deutschen Gewerkschaftsbund weckt das Sorgen.
DGB-Landeschefin Susanne Wingertszahn warnt vor populistischen Bürokratieabbau-Forderungen. »Bürokratieabbau ist so ein Schlagwort, das oft von Arbeitgebern und Wirtschaftsliberalen in Debatten eingeworfen wird«, sagte die Gewerkschafterin in Mainz. »Aber aus Sicht der Gewerkschaften zu einseitig.« Denn nicht jede Regel und Vorschrift sei nur ein Selbstzweck.
Angst vor Willkür und Ausbeutung
»Etwas läuft ganz schief, wenn auf den Zug des Bürokratieabbaus aufgesprungen wird, um soziale Schutzstandards aufzuweichen«, mahnte die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds in Rheinland-Pfalz. Denn Bürokratie könne für die Beschäftigten auch Schutz bedeuten. »Dabei denke ich an die Dokumentationspflicht der Arbeitszeit, wo ohne sie gerne getrickst wird, um Beschäftigte um den Lohn zu prellen«, erklärte Wingertszahn. »Oder ich denke an den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz oder an einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst.« In diesen Bereichen diene Bürokratie dazu, die Arbeitnehmenden vor Willkür und Ausbeutung durch die Unternehmen zu schützen…“ Agenturmeldung vom 14.07.2025 im Spiegel online(beim DGB nix gefunden)
- [Am Beispiel USA] Der ideelle Gesamtkaputtalist: Die Rechte imaginiert Bürokratie als Feindin der Freiheit – dabei braucht der Kapitalismus den Staat, um seine Selbsterhaltung zu organisieren
„… Um die ersten sozialen Folgen der Kahlschlagpolitik der »Abteilung für Regierungseffizienz« abzufedern, organisiert die Bewegung »50501« (50 Staaten – 50 Proteste – 1 Bewegung) Demonstrationen und konkrete Nachbarschaftshilfe, etwa durch Lebensmittelsammlungen. Von den staatlichen Sparmaßnahmen sind zunehmend auch Trump-Anhänger*innen betroffen, die sich nun unerwartet ohne Job und damit Einkommensquelle wiederfinden. Aber während sich gegen die rigorose Einwanderungspolitik Trumps Proteste entfalten, scheint die Protestbereitschaft gegen die Kürzungen von DOGE gesamtgesellschaftlich (noch?) gering zu sein, obwohl sich nach Einrichtung der Behörde ein Skandal an den nächsten reiht.
Das DOGE hatte unmittelbar nach Musks Übernahme im Mai 2025 Kündigungen an Tausende Mitarbeiter von Bundesbehörden verschickt, von denen einige allerdings wieder zurückgenommen werden mussten, etwa weil man doch nicht auf eine funktionierende Atomschutzbehörde verzichten wollte. Nicht zu erwarten sind solche Bedenken allerdings bezüglich der Streichung von Finanzmitteln für die Entwicklungshilfebehörde USAID oder des Bildungsministeriums, dessen Hauptzweck immerhin in der Förderung von Bildungschancen für arme oder anders beeinträchtigte Bevölkerungsgruppen besteht. Auch ein Angriff der Trump-Administration auf die staatliche Rentenversicherung zeichnet sich ab.
Begründet wird all das vonseiten der Trump-Administration mit der Notwendigkeit, die Staatsausgaben zu senken, Korruption und Steuerverschwendung zu verhindern und die Macht ungewählter Bürokraten zu brechen, um »Amerika« (gemeint sind die USA) wieder groß werden zu lassen – und vor allem: dem Volk, selbstverständlich vertreten durch den vom ihm gewählten Präsidenten, die Macht »zurückzugeben«. Zwar sind Trumps Zustimmungswerte binnen kürzester Zeit auf ein Rekordtief von 44 Prozent gesunken, aber doch knapp die Hälfte der Amerikaner*innen steht weiter hinter »ihrem« Präsidenten. Wie kommt es zu der absurden Situation, dass so viele Amerikaner*innen bereit sind, die Willkürmaßnahmen von Multimilliardären als gerechten Kampf einfacher Leute gegen die Eliten aufzufassen?
Propagandahit Bürokratieabbau
Die Forderung nach Entbürokratisierung ist eigentlich immer und überall populär. Wer würde sich nicht wünschen, nicht monatelang auf Termine beim Bürgerservice warten oder stapelweise unverständliche Anträge für die schäbigsten Sozialleistungen ausfüllen zu müssen? Zurzeit versprechen auch in Deutschland die meisten Bundestagsparteien eine effizientere Verwaltung und damit verbundene Steuerersparnisse; die EU möchte den Aufwand für Unternehmen zur Einhaltung ihrer Vorschriften um mindestens 30 Prozent kürzen.
Staatliche Bürokratie erscheint in dieser öffentlichen Debatte als reiner Kropf und Überbau: eine Abteilung des Staates, die mit ihren Regelungen, Antragsverfahren, Ge- und Verboten dem freien Bürger als pure Drangsal und als Hindernis gegenübertritt – vor allem aber der »freien Wirtschaft.« Dabei ist es gerade die kapitalistische, freie Wirtschaftsordnung selbst, die durch ihre absolute Rücksichtslosigkeit gegen ihre eigenen Grundlagen, sprich: Mensch und Natur, eine staatliche Betreuung durch einschränkende Regelungen nötig macht, sei es beim Arbeits- oder Umweltschutz, durch Schadstoffgrenzen oder Produktnormierungen, den Sozialstaat oder das Gesundheitswesen. (…)
Die staatlichen Einschränkungen des Kapitals sind insofern keine Kampfansage an dasselbe, sondern Dienst an ihm oder wenigstens so gemeint. Jede Lockerung staatlicher Regulierungen oder Einschränkungen – sei es beim Abbau natürlicher Ressourcen (Drill, Baby, Drill!) oder eben auch die Abschaffung einer Verbraucherschutzbehörde – befreit das Kapital allerdings von Beschränkungen und Zusatzkosten und macht sich so unmittelbar als profitsteigernd für einzelne Kapitale geltend. Ob dies auch auf längere Zeit und insgesamt so bleibt, in den USA und global, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Der Erfolg dieser Politik wird nicht zuletzt davon abhängen, wie viel die Menschen an Entbehrungen und Schädigungen hinzunehmen bereit sind und wie viel sie davon ertragen können. (…)
Eine Ausnahme kennen die lautesten Verfechter eines »schlanken Staates« übrigens schon: Stichwort Law and Order. Das staatliche Gewaltmonopol, das mit Polizei und Justiz im Innern über die Einhaltung der Gesetze wacht und mit seinem unbesiegbaren Militär seine äußeren Interessen absichert, wird explizit vom Spargebot ausgenommen. Diese zumal in den USA sehr umfangreiche Staatsgewalt schafft überhaupt erst die Verhältnisse, in denen sich die Besitzer*innen von Waren, Kapital und Arbeitskraft mit gegensätzlichen Interessen gegenüberstehen. Und sie soll in den Augen Trumps tatsächlich auch einzig (und kräftig!) dafür eingesetzt werden, eine freie Konkurrenz zu ermöglichen – und sich ansonsten jeder weiteren Einmischung, beispielsweise hoher rechtsstaatlicher Hürden bei Abschiebungen, enthalten…“ Artikel von Jan Benski vom 10.07.2025 in ND online - Bürokratieabbau: Weniger Bürokratie klingt immer gut. Aber wer profitiert wirklich davon?
„Ob Hürden beim Bürgergeld oder bei der Unternehmensgründung abgebaut werden, macht einen Unterschied – den Journalisten viel zu selten erklären.
In Zeiten unüberwindbar scheinender politischer Gräben gibt es eine Forderung, mit der sich weiterhin entspannt Wahlkampf für alle machen lässt: den „Bürokratieabbau“. Es ist ein Begriff mit Geruch: dem Mief eines Wartesaals in einer x-beliebigen Behörde, wo jedermanns Hosenboden vom Herumrutschen auf unbequemen Plastiksitzschalen fadenscheinig wird, während man darauf wartet, seinen neuen Ausweis vollkommen unnötigerweise live und vor Ort zu beantragen. Es ist ein Thema, das Hoffnungen auf einen vereinfachten Alltag weckt. (…) Parteien und Politiker:innen lieben den Bürokratieabbau genau deswegen. Weil er anknüpft an die deutsche Abneigung gegen die eigene lahmarschige Verwaltung. (…) Schaut man genau hin, ist der Begriff gar nicht mehr so unpolitisch, so alltäglich, so unschuldig, wie er oft daherkommt. Denn meistens fragt niemand genauer nach, welche Prozesse, Kontrollen, Verwaltungshürden es überhaupt sein sollen, die künftig wegfallen könnten. (…) Das CDU-geführte Haus wird wohl kaum die bürokratischen Hürden bei der Beantragung von Bürgergeld senken . Oder beim Asylantrag. Beim Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen. Bei der Einreise der von den Taliban bedrohten Ortskräfte und bedrohten Zivilisten aus Afghanistan, denen die Aufnahme zugesagt wurde. Bei Auskunftsersuchen von Bürger:innen und Journalist:innen gegenüber Behörden mithilfe des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG). (…) Laut Koalitionsvertrag verspricht die kommende Regierung zwar Bürokratieabbau, aber eben nur für bestimmte Bereiche. Unternehmensgründungen sollen innerhalb von 24 Stunden möglich sein. Insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen soll es ein Sofortprogramm für Bürokratierückbau geben. Das Lieferkettengesetz soll abgeschafft werden, genauso wie die Bonpflicht und die Pflicht zur Bestellung von Betriebsbeauftragten, etwa für Datenschutz oder Arbeitsschutz. (…) Kaum einem Medium gelingt es, diesen Umstand zu transportieren. (…) Es wäre die Aufgabe von Journalist:innen, die trübe Hülle des Begriffs Bürokratieabbau abzuschälen und freizulegen, was darunter liegt. Wenn Medien den Begriff verwenden möchten, darf er nicht nur dort zum Einsatz kommen, wo ihn auch die Regierung verwendet, sondern in Bezug auf alle politischen Entscheidungen, die Bürokratie ab- oder aufbauen. (…) Das Lieferkettengesetz abzuschaffen wäre für viele Unternehmen eine Erleichterung – aber man nimmt in Kauf, was das Gesetz eigentlich verhindern sollte, nämlich Menschenrechtsverletzungen in den Produktionsländern. Betriebsbeauftragte bedeuten für Unternehmen zusätzlichen Aufwand, den sie nach der Reform los wären – aber dann gäbe es auch keine Ansprechpersonen mit gesetzlich geregelten Befugnissen für Belange wie Datenschutz und Arbeitsschutz. (…) Bürokratie ist nicht per se schlecht. Sie ordnet die Komplexität unserer Welt und schafft klare Regeln für Bereiche, in denen sich unterschiedliche Interessen gegenüberstehen. Statt diese Belange gegeneinander abzuwägen und so den demokratischen Diskurs zu füttern, stimmen viele Medien unkritisch ein, wenn im Digitalministerium ein Loblied auf den Bürokratieabbau gesungen wird.“ Kolumne von Jana Ballweber vom 20. Mai 2025 bei ÜberMedien
Wir empfehlen zu Bürokratieabbau die Volltextrecherche im LabourNet – und im ZDF die Sendung „Die Bürokratie-Anstalt“
vom 11.3.2025