Ersatzfreiheitsstrafen: Strafender Staat bekämpft die Armen

Dossier

Buch von Ronen Steinke: »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz« (Berlin Verlag)Vor dem Hintergrund eines globalen Kapitalismus mit seinen sozialen Desintegrationsprozessen gibt es mittlerweile kaum ein gesellschaftliches Problem mehr, auf das seitens der Politik mit der Verschärfung des Strafrechts reagiert wird. (…) Es ist kein Zufall, dass Arme härter bestraft werden als Reiche und für Bagatelldelikte drakonische Bestrafungen erfahren. Wenn man staatliches Strafen in Zusammenhang mit sozialen Ungleichheiten setzt, wird schnell deutlich, dass die Gefangenenraten eines Staates umso höher liegen, je größer die Einkommensunterschiede in der Gesellschaft sind. (…) Die enorme Wucht, mit der der Staat straft, wird bespielhaft besonders bei den folgenden Delikten und Sühnemaßnahmen deutlich: Schwarzfahren und Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz sind klassische Armutsdelikte und müssen mit Ersatzfreiheitsstrafen gesühnt werden. (…) Bei der Alternative zum strafenden, autoritären Staat muss es um eine Politik gehen, die auf allen Gebieten gegen den sozialen Ausschluss gerichtet ist…“ Beitrag vom 11. Dezember 2018 beim Gewerkschaftsforum Dortmund externer Link. Siehe dazu auch:

  • Schwarzfahren: Deutscher Anwaltverein fordert eine kom­plet­te Entkriminalisierung: Die Justiz ist kein Inkassobüro! Die Strafbarkeit kann Existenzen kosten New
    • Fahren ohne Fahrschein: Die Justiz ist kein Inkassobüro! Verkehrs­verbünde verkennen Zweck des Strafrechts
      Bereits seit November lässt ein Gesetz­entwurf zur Entkri­mi­na­li­sierung der Beförde­rungs­er­schleichung auf sich warten. Nun sträuben sich Verkehrs­verbünde gegen die notwendige Reform. Der Deutsche Anwalt­verein (DAV) dringt auf echte Entkri­mi­na­li­sierung. Bei einer bloßen Herabstufung zur Ordnungs­wid­rigkeit drohe Betroffenen statt Ersatz­frei­heits­strafe die Erzwin­gungshaft – gewonnen wäre dadurch nichts. „Zivilrechtliche Ansprüche werden in aller Regel auch auf dem Weg des Zivilrechts geklärt“, erklärt Rechts­anwalt Prof. Dr. Ali B. Norouzi, stellver­tre­tender Vorsit­zender des Ausschusses Strafrecht des Deutschen Anwalt­vereins (DAV). Dass im Fall der Beförde­rungs­er­schleichung das Strafrecht herangezogen werde, sei kaum zu rechtfertigen. Ein sozialer Nutzen entstehe dadurch nicht, der soziale Schaden hingegen sei enorm: „Die Verfahren und Freiheits­strafen für Fahrten ohne Fahrschein kosten den Steuer­zahler im Jahr etwa 200 Millionen Euro“, so Norouzi. Dabei handele es sich um ein typisches Armuts­delikt. Die Betroffenen seien überhaupt nicht in der Lage, sich den Fahrschein oder die Strafen zu leisten, ein strafwürdiges Verhalten liege jedoch ohne Manipu­lations- oder Täuschungs­versuche nicht vor. Der Rechts­anwalt macht deutlich: „Die Strafbarkeit schützt niemanden, sondern belastet den Fiskus und kann Existenzen kosten.“
      Deswegen gehe das Vorhaben des Bundes­jus­tiz­mi­nis­teriums dem DAV auch nicht weit genug. „Eine Herabstufung zur Ordnungs­wid­rigkeit ist nicht ausreichend, es braucht eine echte Entkri­mi­na­li­sierung“, meint Prof. Dr. Norouzi. Andernfalls würde zwar die Ersatz­frei­heits­strafe entfallen, dennoch könnten Betroffene im Rahmen der Erzwin­gungshaft im Gefängnis landen. Die zivilrecht­lichen Möglich­keiten, gegen Schwarz­fahrer:innen vorzugehen, seien völlig ausreichend
      …“ DAV-Presse­mit­tei­lung vom 15.08.2024 externer Link
    • Streit ums Schwarzfahren geht weiter: DAV fordert Entkriminalisierung
      „Der Bun­des­jus­tiz­mi­nis­ter hat an­ge­kün­digt, Schwarz­fah­ren zur Ord­nungs­wid­rig­keit her­ab­stu­fen zu wol­len. Einen ent­spre­chen­den Ent­wurf gibt es aber bis­her nicht. Wäh­rend Ver­kehrs­be­trie­be Sturm lau­fen, for­dert der DAV eine kom­plet­te Ent­kri­mi­na­li­sie­rung. Er ist damit auf der Linie vie­ler Ex­per­ten. (…)
      Vollständige Entkriminalisierung gefordert
      Statt der bloßen Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit fordert der DAV aber eine vollständige Entkriminalisierung. Durch eine bloße Herabstufung sei nichts gewonnen, heißt es in dem Statement. Jährlich gehen bundesweit etwa 150.000 Anzeigen wegen Fahrens ohne gültigen Fahrschein ein. Das Massendelikt wird häufig aus finanzieller Not heraus begangen. Verhängen Gerichte Geldstrafen, können Betroffene diese häufig nicht zahlen und kommen in Ersatzhaft. Das belaste nicht nur die Justiz und Verwaltung, sondern habe laut DAV auch keinen sozialen Nutzen: „Dabei handelt es sich um ein typisches Armutsdelikt. Die Betroffenen sind überhaupt nicht in der Lage, sich den Fahrschein oder die Strafen zu leisten“, so Norouzi. Ein strafwürdiges Verhalten liege jedoch ohne Manipulations- oder Täuschungsversuche nicht vor. Für solche Fälle das Strafrecht als Ultima Ratio zu bemühen, sei kaum zu rechtfertigen. Die Justiz sei nicht das Inkassobüro der Verkehrsbetriebe. Mit seinem Statement wiederholt der DAV eine jahrelange Forderung – und liegt damit auf einer Linie mit vielen Experten. Anfang des Monats hatte sich eine Gruppe von Kriminologen und Hochschullehrern in einem offenen Brief an Minister Buschmann gewandt und eine vollständige Entkriminalisierung gefordert. Ihre Kritik geht in eine ähnliche Richtung. Der Straftatbestand treffe überproportional arme Menschen und solche in prekären Lebenslagen. Ihr Weg führe regelmäßig in Ersatzhaft, weil sie Geldstrafen nicht bezahlen könnten.
      Eine bloße Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit würde an dieser Situation nichts ändern. Denn: Bei Ordnungswidrigkeiten droht Betroffenen statt Ersatzfreiheitsstrafe die Erzwingungshaft. Gewonnen wäre dadurch nichts, heißt es im DAV-Statement. Deswegen gehe das Vorhaben des BMJ dem DAV auch nicht weit genug.
    • Verkehrsunternehmen gegen Herabstufung
      Das DAV-Statement ist Teil einer vehementen Debatte, die in den vergangenen Tagen um den BMJ-Vorschlag entbrannt ist. Von Seiten der Verkehrsbetriebe hagelt es Kritik. „Die Idee, Schwarzfahren nicht mehr zu bestrafen, zeugt nicht von Respekt für unsere Leistung und die Arbeit unserer Beschäftigten“, sagte etwa Ingo Wortmann, der Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen der Tagesschau. Er schätzte den Schaden durch Schwarzfahrer auf etwa 750 Millionen bis rund eine Milliarde Euro pro Jahr. „Der ehrliche Fahrgast muss es mit steigenden Fahrpreisen ausbaden.“ Auch der Hamburger Verkehrsverbund äußerte sich kritisch: „Durch das Fahren ohne Fahrschein entstehen Kommunen, Verkehrsverbünden und -unternehmen erhebliche Verluste in Millionenhöhe. Im HVV zur Zeit jährlich in Höhe von 30 bis 40 Millionen Euro (…) Es wäre das falsche Signal das Fahren ohne gültiges Ticket zu bagatellisieren“, sagte ein Sprecher dem NDR.
      Im Saarland sei in den vergangenen Tagen sogar noch verstärkt kontrolliert worden. Wenn Schwarzfahren „nur noch“ eine Ordnungswidrigkeit sei, „käme das für Wiederholungstäter einem Freifahrtschein gleich“, teilte die KVS dem Saarländischen Rundfunk mit.
      Bremen und Mainz zeigen nicht mehr an
      In einigen Städten wird das Fahren ohne gültigen Fahrschein dagegen überhaupt nicht mehr angezeigt. Dahinter stecken Weisungen aus der Verwaltung…“ Redaktioneller Beitrag vom 16. August 2024 bei beck-aktuell externer Link
  • Offener Brief von 128 WissenschaftlerInnen für die Entkriminalisierung von Fahren ohne Ticket: Wir fordern die ersatzlose Abschaffung des § 265a StGB!
    Sehr geehrter Herr Minister Dr. Buschmann, als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen bitten wir Sie eindringlich, Ihr Versprechen auf eine Reformierung des § 265a StGB schnellstmöglich einzulösen. Wir möchten Sie in diesem Brief auf die tiefgreifenden Probleme der derzeitigen Rechtslage hinweisen und aufzeigen, wie eine konsequente Entkriminalisierung des sogenannten Erschleichens von Leistungen armutsbetroffene Bürgerinnen und Bürger, Behörden und Justiz entlasten wird. Die Unterzeichnenden fordern eine konsequente Entkriminalisierung des § 265a StGB. Eine Vielzahl an Argumenten spricht dafür…“ Offener Brief vom 06. August 2024 externer Link bei der Uni Köln
  • Nach Wiesbaden nun auch Mainz entkriminalisiert Schwarzfahren: Bußgeld statt Anzeige
    Mainz folgt anderen Städten: Schwarzfahren nicht mehr strafbar, aber weiterhin Ordnungswidrigkeit. Auch andere Städte an Rhein und Main ziehen nach. Die Stadt Mainz hat entschieden, in Zukunft auf Strafanzeigen gegen Schwarzfahrer im ÖPNV zu verzichten. Dieser Vorschlag der Linken erhielt Mitte Mai 2024 die Zustimmung der Mehrheit im Stadtrat von Mainz. (…) Die Linke verweist in ihrem Antrag vor allem darauf hin, dass auch in mehreren anderen deutschen Städten Schwarzfahren schon nicht mehr als eine Straftat verfolgt werden. Es gelte dann lediglich als Ordnungswidrigkeit. Ein anderer grundlegender Punkt sei außerdem, dass die Kriminalisierung von Fahren ohne gültigen Fahrschein vor allem Menschen mit geringem Einkommen betreffe. (…) Fahren ohne gültigen Fahrschein sei zudem ein Antragsdelikt (Paragraf 265a Strafgesetzbuch). Das heißt, es handelt sich um eine Straftat, die nur verfolgt wird, wenn sie zur Anzeige gebracht und die Strafverfolgung beantragt wird. Nach der Sicht der Linken können die Verkehrsbetriebe auf diese Anzeige verzichten, wie es beispielsweise schon in Wiesbaden, Köln, Berlin und einigen anderen deutschen Städten gemacht wird. Das sein ein Schritt in Richtung eines sozial gerechteren Mainz, betont die Linke in der Stadtratssitzung am Mittwoch (15. Mai 2024). Angriffe auf Kontrolleurinnen und Kontrolleure sind aber weiterhin strafbar. (…)
    Die Stadt Wiesbaden geht einen ähnlichen Weg wie die Mainzer. Sie hat ihre Beteiligungsgesellschaft ESWE Verkehr beauftragt, „auf die Stellung eines Strafantrags bei Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs ohne Fahrschein zu verzichten“. Die Regelungen zum erhöhten Beförderungsentgelt beim Fahren ohne gültigen Fahrschein blieben hiervon unberührt, heißt es in einem Beschluss der Wiesbadener Stadtverordnetenversammlung. Als Grund nennt die Kommune, dass das Anzeigen von Fahren ohne Fahrschein häufig zu Ersatzfreiheitsstrafen führe, da insbesondere ärmere Menschen häufiger schwarz führen und die verhängten Geldstrafen nicht bezahlen könnten. Ludwigshafen, Frankfurt und Koblenz teilen dagegen auf Anfrage der Deutschen Presseagentur mit, dass wiederholtes Fahren ohne Fahrschein bei ihnen weiter angezeigt werde
    …“ Artikel von Lena Rißmann vom 23.05.2024 in inRLP.de externer Link („Schwarzfahrer werden in Mainz nicht mehr angezeigt“)
  • Düsseldorf stoppt ÖPNV-Unternehmen: Zwei Bahnfahrten, sechs Monate Haft
    Gisa März war mehrere Monate in Haft, weil sie ohne Ticket fuhr. Der Düsseldorfer Stadtrat hat das Fahren ohne Fahrschein daraufhin entkriminalisiert. (…)
    Von November 2022 bis März 2023 saß die heute 57-Jährige wegen „Erschleichens von Leistungen“ in der Justizvollzugsanstalt Düsseldorf ein – das heißt wegen Fahrens ohne Fahrschein. Sie hatte sogar noch Glück: Das Strafgesetzbuch lässt dafür eine Strafe von bis zu einem Jahr zu. Der Paragraf 265a wurde 1935 von den Nazis eingeführt. Bis heute ist er nicht abgeschafft. Das Justizministerium hat zuletzt lediglich den Zeitraum halbiert. Fast 90.000 Menschen bundesweit werden jährlich angezeigt, weil sie ohne gültiges Ticket angetroffen wurden. Im Knast landen vor allem die, die sich keinen Fahrschein leisten können. Das betrifft nach Schätzungen der taz fast 2.000 Menschen pro Jahr– etwa 800 sitzen so wie Gisa März eine Freiheitsstrafe ab. Etwa 1.100 eine Ersatzfreiheitsstrafe – weil sie das sogenannte erhöhte Beförderungsentgelt nicht zahlen können. Den Staat kostet das pro Tag und Person 100 bis 200 Euro – insgesamt also mehr als eine Viertelmillion Euro. (…)
    Auch der Stadtrat wird auf das Thema aufmerksam. Im November 2022 fordert der den Aufsichtsrat der Rheinbahn AG auf, keine Anzeigen mehr wegen „Beförderungserschleichung“ zu stellen. Doch das Unternehmen setzt das nicht um. Im Juni 2023, Gisa März ist inzwischen aus der Haft entlassen, präzisieren die Linken, Grünen, die SPD, FDP und die PARTEI-Klima-Fraktion im Stadtrat ihre Forderung und weisen die Rheinbahn gegen die Stimmen von CDU und AfD an, künftig auf Strafanzeigen zu verzichten. Dieses Mal muss das Verkehrsunternehmen sich daran halten.
    Andere Städte folgen dem Düsseldorfer Weg
    Überzeugt ist es davon nicht. Eine Sprecherin sagt auf taz-Anfrage: „Der Rheinbahn entgehen im Jahr geschätzte 4 Millionen Euro an Einnahmen durch Fahrgäste ohne gültiges Ticket. Diese Kosten müssen von der Gemeinschaft über Steuergelder ausgeglichen werden.“ Anzeigen sollen abschreckend wirken. Ähnlich sieht es der Verband der Verkehrsunternehmen. Der wehrt sich gegen Vorhaben des Bundesjustizministeriums, die Beförderungserschleichung von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit umzuwidmen. (…)
    Nach Düsseldorf fällte die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden im November 2023 die Entscheidung, Fahren ohne Fahrschein zu entkriminalisieren. Münster folgte im Dezember. Im März entschied Köln, auf Strafanzeigen zu verzichten. Anfang April zog Halle nach
    …“ Artikel von Johanna Treblin vom 9.4.2024 in der taz online externer Link
  • Ordnungswidrigkeit statt Straftat: Kein Gefängnis mehr fürs Schwarzfahren nun auch in Köln – wann folgt der Bund?
    Eine Gefängnisstrafe wegen wiederholten Schwarzfahrens gibt es in Köln nicht mehr. Auch der Bund plant Regelungen, das Fahren ohne Ticket zu entkriminalisieren. Gefängnisstrafen treffen derzeit vor allem Ärmere.
    Ins Gefängnis, weil jemand ohne Fahrschein den öffentlichen Nahverkehr genutzt hat? Klingt für die meisten überraschend, betrifft aber jedes Jahr hunderte Menschen. In Köln ist damit nun Schluss. Im Dezember hatte der Stadtrat beschlossen, keine Strafanzeige mehr zu stellen, wenn Schwarzfahrer erwischt werden. Nun wird es Realität. Auch künftig wird zwar eine Strafe in Höhe von 60 Euro fällig, mehr aber nicht. „Die bisherige Praxis sah so aus, dass gegen eine Person, die dreimal innerhalb eines Jahres oder vier Mal innerhalb von zwei Jahren aufgefallen ist, Anzeige erstattet wurde. Dabei darf der letzte Vorgang allerdings nicht länger als drei Monate zurückliegen. Das entfällt jetzt“, so Matthias Pesch, Leiter der Unternehmenskommunikation bei den Kölner Verkehrsbetrieben (KVB). Es gebe aber weiter die Möglichkeit, das erhöhte Beförderungsentgelt von 60 Euro auf zivilrechtlichem Weg einzuklagen. „Von dieser Möglichkeit werden wir auch weiterhin Gebrauch machen“, so der Sprecher der KVB. (…) Die Forderung, das Fahren ohne Ticket zu entkriminalisieren, gibt es schon lange. Andere Städte wie Düsseldorf haben sie bereits umgesetzt. Der Verband Deutscher Verkehrsbetriebe sieht das skeptisch. (…) Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann möchte das Fahren ohne Ticket entkriminalisieren und sich bei den Strafen am Falschparken orientieren. (…) Es sei zwar nicht in Ordnung, eine Leistung in Anspruch zu nehmen, „für die alle anständigen Menschen bezahlen“. Das Sanktionsverfahren solle aber standardisiert, die Bearbeitung weniger personalintensiv werden. Das Fahren ohne Fahrschein zu entkriminalisieren ist Teil der geplanten Reform des Strafgesetzbuches. Ein konkreter Entwurf ist aktuell in Arbeit. Laut einer Umfrage von infratest dimap sprechen sich mehr als zwei Drittel der Deutschen dafür aus, das Fahren ohne Ticket zu entkriminalisieren. Linke und Grüne drängen schon seit einigen Jahren darauf.“ Beitrag von Jens Eberl vom 25. März 2024 bei tagesschau.de externer Link („Kein Gefängnis mehr fürs Schwarzfahren“)
  • Umrechnungsmaßstab einer Geld- in eine Ersatzfreiheitsstrafe ab 1.2.2024 halbiert
    Seit dem 1.2.2024 gilt die neue Fassung des § 43 Satz StGB: „An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Ersatzfreiheitsstrafe. Zwei Tagessätzen entspricht ein Tag Ersatzfreiheitsstrafe. …“ Damit wurde der Umrechnungsmaßstab halbiert. Mehr in der Dokumentation des Bundestages zum „Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts“. Siehe auch die Synopse bei buzer.de. An sich sollte die Regelung zum 1.10.2023 in Kraft treten, was dann allerdings auf den 1.2.2024 verschoben wurde (vgl. Art. 3 Nr. 2 des Änderungsgesetzes, BGBl. 2023 Nr. 218). Die Verschiebung erfolgte auf Bitten einiger Bundesländer, die sich nicht zu einer zeitnahen Umsetzung in der Lage sahen (vgl. taz.de: Deutschlands digitale Inkompetenz und BT-Drucksache 20/9019). Wichtig zu wissen ist die Übergangsregelung des Art. 316o Abs. 2 Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB): „Für die Vollstreckung von vor dem 1. Februar 2024 rechtskräftig verhängten Geldstrafen gelten § 43 des Strafgesetzbuches und § 11 des Wehrstrafgesetzes jeweils in der bis zu diesem Tag geltenden Fassung. Artikel 313 Absatz 2 gilt entsprechend.“ Der neue Umrechnungsmaßstab hängt also vom Tag der Verurteilung ab!…“ Aus Thomé Newsletter 07/2024 vom 18.02.2024 externer Link und mehr Infos bei der LAG Schuldnerberatung Hamburg e.V. externer Link
  • Bündniss zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe: Gefängnis löst keine sozialen Probleme – „Nein“ zur Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit. „Ja“ zur vollständigen Entkriminalisierung.
    Wer in Deutschland von A nach B kommen will, braucht Geld. Auch mit Einführung des „Deutschlandtickets“ hat längst nicht jede Person in der Bundesrepublik die finanziellen Möglichkeiten dazu, sich einen Fahrschein für den ÖPNV zu kaufen. Schließlich liegt der Preis für ein solches Ticket (49€) aktuell recht genau bei einem Zehntel des gesamten monatlichen Bürgergeld-Grundsatzes (502€). Wem das zu viel ist, drohen heftige Strafen: Verkehrsbetriebe verlangen von Zuwiderhandelnden zunächst ein erhöhtes Beförderungsentgelt, was diese oftmals erst recht nicht bezahlen können. Zudem erstatten Betriebe vielerorts Strafanzeigen an die örtlichen Behörden. Denn, so absurd es auch klingt: Das Fahren ohne Fahrschein gilt in Deutschland als sogenanntes „Erschleichen von Leistungen“ und ist damit, nach § 265a des Strafgesetzbuchs (StGB) eine Straftat, die bis ins Gefängnis führen kann. Und das tut sie auch – Jahr für Jahr, viele tausende Male. Denn wenn eine Geldstrafe für das vermehrte Fahren ohne Fahrschein unbezahlt bleibt, wird die Geldstrafe in eine Haftstrafe verwandelt – die sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe (EFS) greift. Das trifft gerade diejenigen, die schon am Anfang dieses Prozesses nicht genug Geld für einen Fahrschein hatten und jene, die besonders häufig ins Visier der Kontrolleur:innen und Sicherheitsdienste geraten.
    Die Absurdität des Straftatbestands „Erschleichen von Leistungen“ steht längst außer Frage. In den vergangenen Jahren auch verstärkt medial diskutiert, stößt er mittlerweile geradezu gesamtgesellschaftlich auf Entrüstung und Ablehnung. Dazu gehört die wachsende Aufmerksamkeit dafür, dass Verkehrsbetriebe besonders vermeintlich wohnungslose Personen und rassifizierte Menschen teilweise gewaltvollen Kontrollen unterziehen und besonders oft anzeigen. Mobilität ist das Recht aller – und darf nicht länger das Privileg derjenigen sein, die ökonomisch abgesichert und sozial anerkannt leben. Vor dem Hintergrund historischer Armutsraten in Deutschland ist es kein Wunder: Bundesweit sind die Gefängnisse voll von Menschen, die nicht genug Geld haben, sich regelmäßig ein ÖPNV-Ticket zu kaufen, und die aufgrund äußerer Merkmale Gefahr laufen, kontrolliert und schikaniert zu werden.  Deswegen hat § 265a zuletzt auch die Debatte um die Reform zur Ersatzfreiheitsstrafe geprägt. (…)
    Für unser Bündnis steht fest:
    – Gefängnis löst keine sozialen Probleme.
    – Die Bundesregierung hat bis dato ihr Koalitionsversprechen, eine neue Strafpolitik einzuführen, nicht eingelöst. Im Sommer 2023 hat sie zuletzt durch einen halbgaren Gesetzentwurf die Möglichkeit vergeben, die Ersatzfreiheitsstrafe abzuschaffen. Wenigstens die Entkriminalisierung des Fahrens ohne gültigen Fahrschein muss nun dringend umgesetzt werden.
    – Das Fahren ohne Fahrschein ist einTeil eines umfassenden Strafsystems, das sozioökonomische Ungleichheit aufrechterhält und verstärkt.
    Dieses System umfasst mehr als § 265a. Es reicht vom Racial Profiling in den ÖPNVs und an sogenannten „kriminalitätsbelasteten“ Orten über rassistische Razzien gegen sogenannte „Clankriminalität“ bis zur Kriminalisierung von Armutsdelikten wie dem Fahren ohne Fahrschein oder Lebensmitteldiebstahl, die mit unverhältnissmäßigen Tagessatzhöhen geahndet werden und deswegen oftmals bis ins Gefängnis führen. Wirtschaftlich und gesellschaftlich marginalisierte sowie rassifizierte Menschen trifft staatliche Bestrafung somit härter und gezielter. (…) Auch wenn die Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein längst überfällig ist: Sie darf nicht als Augenwischerei dienen, um über das Versäumnis der jüngst beschlossenen „Reform“ der Ersatzfreiheitsstrafe hinwegzutäuschen. Eine Entkriminalisierung kann nur dann effektiv sein, wenn sie an den Wurzeln der sozialen und wirtschaftlichen Probleme ansetzt und mit der Entkriminalisierung aller Armuts- sowie Migrationsdelikte und der Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe einhergeht.“ Gemeinsame Stellungnahme des Bündnisses vom 6. Dezember 2023 beim Komitee für Grundrechte und Demokratie externer Link zum Gesetzentwurf „Straffreiheit für das Erschleichen von Leistungen“ (Fahren ohne gültigen Fahrschein)
  • IT-Versagen der Regierungen darf nicht zu Lasten der Gefangenen fallen: Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe fordert Vollstreckungsstopp, Sammelgnadenerlass und Aufklärung 
    „Wie diverse Medien zuletzt berichteten (u.a. LTO, SZ, taz und nd, nachdem die BAG-S externer Link darauf aufmerksam machte), soll die Halbierung der Ersatzfreiheitsstrafe, die der Bundestag Ende Juni beschlossen und auf den 1. Oktober angesetzt hatte, um vier Monate verschoben werden. Grund dafür ist: Ein Verbund aus neun Bundesländern unter der Federführung Bayerns scheitert daran, ihre IT-Systeme rechtzeitig anzupassen. Dass zukünftig ein Tag Gefängnisstrafe für zwei Tagessätze einer Geldstrafe aufwiegt (statt wie bisher für einen Tagessatz), stellt für die von Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen genutzte Software web.sta angeblich eine aktuell unüberwindbare Hürde dar. Der Bundestag schleuste daraufhin am 18. August eine Anpassung des Gesetzes zur Ersatzfreiheitsstrafe in ein Gesetz zur Verkehrsstatistik externer Link – Aufschiebung durch die Hintertür. Die Verantwortlichen in der Bundes- sowie in den Landesregierungen handeln in diesem Fall dreist, unverantwortlich und menschenfeindlich: Anstatt für das staatliche Versagen geradezustehen und aufzukommen, sollen die Konsequenzen nun von den Gefangenen getragen werden. Im Klartext heißt das: Während die Länder noch weitere Monate dafür beanspruchen, ihre IT-Systeme umzustellen, müssen weiterhin Menschen dafür ins Gefängnis, dass sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können – und zwar doppelt so lange, wie eigentlich gesetzlich beschlossen. (…)
    Grundlegende Kritik am System Ersatzfreiheitsstrafe
    Unser Bündnis hat in den Diskussionen um die in diesem Jahr beschlossene Gesetzesänderung zur Ersatzfreiheitsstrafe wiederholt darauf aufmerksam gemacht externer Link (u.a. auch bei einer Anhörung externer Link im Bundestag), dass diese Strafe eine Form von Armutsbestrafung darstellt. Denn wer in Deutschland eine Geldstrafe bezahlen kann, tut dies auch und wird tatsächlich mit einer Geldstrafe geahndet. Für diejenigen, die jedoch nicht genügend Geld zur Verfügung haben, um eine solche Strafe zu bezahlen, bedeutet es, dass sie stattdessen ins Gefängnis müssen. Bei der Ersatzfreiheitsstrafe zeigt sich also eindrücklich, dass Recht und Vollstreckung in diesem Land nicht für alle Menschen gleich gelten. 
    Gefängnisse lösen jedoch nicht die sozialen Probleme, die oftmals hinter Geldstrafen bzw. Ersatzfreiheitsstrafen stecken. Weder Fahren ohne Fahrschein noch Lebensmitteldiebstahl oder andere geringfügige Delikte, die oft zu Ersatzfreiheitsstrafen führen, lassen sich durch Wegsperren vermeiden, sondern nur durch eine solidarische Gesellschaft. Stattdessen verstärken Gefängnisse soziale Ungleichheit, indem sie vor allem zur Regulierung und räumlichen Isolierung gesellschaftlich marginalisierter Menschen dienen. Je mehr Zeit diese Menschen im Gefängnis verbringen müssen, desto schädlicher wirkt es sich auf sie aus. Selbst ein einziger Tag im Gefängnis kann Leben zerstören…“ Pressemitteilung vom 11.9.23 bei JUSTICE COLLECTIVE externer Link
  • In Bremen landen Schwarzfahrer nicht mehr im Gefängnis
    „… Wer in Bremen wiederholt ohne Ticket mit Bus oder Bahn unterwegs ist, soll deshalb nicht mehr ins Gefängnis müssen. Der Senat will die Bremer Straßenbahn AG (BSAG) künftig anweisen, keine Strafanzeigen mehr wegen des häufigen Fahrens ohne Fahrschein zu stellen. Das wurde in der Sitzung der Bürgerschaft bekannt. Bisher wurden Ersatzfreiheitsstrafen verhängt, wenn jemand wiederholt schwarzgefahren ist und seine Geldstrafen nicht zahlen konnte. Im vergangenen Jahr hatte die BSAG rund 450 Strafanzeigen wegen Fahrens ohne Fahrschein gestellt, in diesem Jahr sind es bereits 418. In beiden Jahren zusammengenommen verhängte die Staatsanwaltschaft mehr als 160 Hafttage, die jeweils im Schnitt Kosten von fast 200 Euro verursachten.“ Meldung von Sven Weingärtner bei tagesschau.de am 5. September 2023 externer Link – siehe zuvor Düsseldorf etwas weiter unten
  • Fahren ohne Fahrschein: Experten fordern Ende der Haftstrafe 
    Im Interview von Marcel Burkhardt bei ZDF heute am 22. Juli 2023 externer Link begründet Arne Semsrott warum die Initiative Freiheitsfonds Inhaftierte freikauft und wie viele jährlich von der sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe wegen „Schwarzfahrens“ betroffen sind: „Es gibt in der deutschen Justiz nur wenige Statistiken, die genaue Zahlen zeigen, aber wir können herleiten, dass es pro Jahr circa 7.000 bis 10.000 Menschen sind. Für diese Leute können Haftstrafen von wenigen Wochen aber auch vielen Monaten zusammenkommen. (…) Es gibt Aktenanalysen, die zeigen, dass fast ausschließlich Menschen betroffen sind, die sich in einer Krise befinden. Das sind zum allergrößten Teil Menschen ohne Erwerbsarbeit und zu etwa 15 Prozent Menschen, die suizidgefährdet sind. Es sind zum großen Teil Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben. Leute, die ohnehin schon arm sind. Deren prekäre Lage wird durch eine Ersatzfreiheitsstrafe weiter verschlimmert. (…) Unser Ziel ist, dass niemand mehr in den Knast muss wegen Fahrens ohne Fahrschein. Der Paragraph 265a müsste dafür aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden. Bis die Politik soweit ist, kaufen wir Leute aus dem Gefängnis frei – inzwischen sind es schon fast 850 Frauen und Männer in fast allen Bundesländern gewesen. Wir bekommen Anträge einerseits von den Betroffenen, andererseits erhalten wir die meisten Anträge inzwischen von den Gefängnissen. Für mich zeigt das, wie groß der Handlungsbedarf ist, wenn das Strafsystem selbst sich nun an eine zivilgesellschaftliche Organisation wendet und sagt: Bitte helft uns, es kann so nicht weitergehen! Es bindet zu viele Kräfte und ist zudem auch ökonomisch irrsinnig. (…) Jemanden einen Tag zu inhaftieren, kostet den Staat 200 Euro…“
  • Roland Hefendehl zum Fahren ohne Fahrschein: „Wir sollten weder Straf- noch Ordnungswidrigkeitsrecht anwenden, sondern den ÖPNV kostenfrei gestalten“
    Der Bundestag hat beschlossen die sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen zu halbieren. Betroffen von diesen Strafen sind Menschen, die eine Geldstrafe erhalten, diese Geldstrafe nicht zahlen können und stattdessen die Tagessätze im Gefängis absitzen. Wohl die größte Gruppe sind Menschen, die ohne Fahrschein Nahverkehr gefahren sind. Der Bundestgsentscheidung ging eine Sachverständigenanhörung voran. Ein Sachverständiger war Roland Hefendehl, Professor am Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht an der Universität Freiburg. Wir haben mit ihm gesprochen.“ Interview vom 30. Juni 2023 beim Radio Dreyeckland externer Link Audio Datei
  • Sachverständige: Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ohne einen gültigen Fahrschein soll keine Straftat mehr sein 
    Bei einer öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses am Montag, 19. Juni 2023, hat sich die überwiegende Mehrheit der geladenen Sachverständigen dafür ausgesprochen, die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel ohne einen gültigen Fahrschein nicht mehr als Straftat nach § 265a StGB zu ahnden. In einigen Stellungnahmen wurde eine Verortung im Bereich der Ordnungswidrigkeiten vorgeschlagen. Um dem Problem zu begegnen, dass häufig arme und hilfsbedürftige Menschen und Obdachlose, die sich weder die Fahrkarte noch eine Strafzahlung leisten können, von sogenannten Ersatzfreiheitsstrafen betroffen sind, plädierten mehrere Sachverständige für die Senkung der Fahrpreise und die Schaffung eines kostenfreien öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV).
    Grundlage der öffentlichen Anhörung war ein Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zur Änderung des Strafgesetzbuchs externer Link (20/2081). Darin spricht sich die Fraktion dafür aus, das Fahren ohne Ticket künftig nicht mehr als Straftat zu behandeln. Wie die Abgeordneten schreiben, sei die in Paragraf 265a des Strafgesetzbuches („Beförderungserschleichung“) enthaltene Strafandrohung nicht verhältnismäßig und widerspreche der Funktion des Strafrechts als letztes Mittel (Ultima-Ratio-Funktion).
    Es drohten Geldstrafen, bei Zahlungsunfähigkeit auch nicht selten Haft durch Ersatzfreiheitsstrafe, „obwohl beim Einsteigen in Bus oder Bahn eine Überwindung von Schutzvorrichtungen nicht erforderlich und damit die Entfaltung von ‘krimineller Energie’ nicht notwendig ist“. Professor Roland Hefendehl von an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hält die ersatzlose Streichung der Beförderungserschleichung als Strafbarkeitsalternative für „nicht nur kriminalpolitisch sinnvoll, sondern verfassungsrechtlich geboten“ (vgl. auch dessen schriftliche Stellungnahme externer Link ). Das erhöhte Beförderungsentgelt sei einschneidend genug, so der Sachverständige. Wer beklage, es sei nur schwer einzutreiben, müsse sich eingestehen, „dass dies mit einer Geldstrafe oder einem Bußgeld noch schlechter geht“. Nicht zu überzeugen vermag auch aus seiner Sicht die Lösung über das Ordnungswidrigkeitenrecht…“ Bericht vom 23. Juni 2023 der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung Hamburg e.V. externer Link
  • Keine Strafanzeigen wegen Schwarzfahrens bei Düsseldorfer Rheinbahn – Keine Ersatzfreiheitsstrafen mehr
    Fahrgäste, die in Düsseldorf öfter ohne Fahrschein erwischt werden, sollen nicht mehr ins Gefängnis kommen. Das hat der Stadtrat am Donnerstagabend mehrheitlich beschlossen. Es war ein fraktionsübergreifender Antrag der Parteien Die Linke, SPD, Grüne, FDP und Klima-Fraktion. Der Inhalt: Das Verkehrsunternehmen Rheinbahn AG, das der Stadt gehört, soll angewiesen werden, künftig auf Strafanzeigen beim Schwarzfahren zu verzichten.
    Zwar hatte der Stadtrat den Aufsichtsrat bereits im November aufgefordert, die Strafverfolgung wegen Beförderungserschleichung einzustellen. Dennoch wollte die Rheinbahn AG nicht auf die Praxis der Strafanzeigen verzichten. Seit Oktober 2022 seien insgesamt 230 Strafanträge gestellt worden. Durch die jetzige Anweisung, die gegen die Stimmen der CDU und der AfD beschlossen wurden, entstehe der Rheinbahn kein finanzieller Verlust, da auch weiterhin eine Geldstrafe fällig wird, wenn man ohne Fahrschein erwischt wird. Aber bislang galt: Wer oft ohne Fahrschein erwischt wird, und die Strafe nicht zahlt, der kann für mehrere Monate ins Gefängnis kommen. Daran gibt´s seit langem Kritik. Zum Beispiel, weil die Gefängnisaufenthalte den Steuerzahler 200 Millionen Euro pro Jahr kosten.
    Vor der Stadtratssitzung hatten etwa 50 Menschen unter dem Motto „Nie wieder Knast fürs Schwarzfahren“ demonstriert. Aufgerufen hatte das Straßenmagazin „fiftyfifty“. Schwarzfahren aus Armutsgründen dürfe nicht länger als Straftat gewertet und mit Gefängnisstrafen geahndet werden, erklärte der Armutsforscher Christoph Gille von der Hochschule Düsseldorf während der Protestveranstaltung. Denn Ersatzfreiheitsstrafen, die fällig würden, wenn man die Geldstrafen nicht zahlen könne, träfen fast immer nur die sozial Schwachen…“ Nachricht vom 16.06.2023 beim WDR externer Link
  • 15. März 2023: Freedom Day – Kundgebung des Bündnisses zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstraße vor dem Bundestag
    • HEUTE IST FREEDOM DAY! Wir haben heute bundesweit 75 Menschen in 12 Bundesländern aus dem Gefängnis befreit, die wegen Fahren ohne Fahrschein hinter Gittern waren. An einem Tag haben wir gemeinsam mehr als 4.654 Tage Haft gelöscht. Dankeschön! Die Betroffenen kommen aus Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hessen, Niedersachsen,  Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Thüringen. Wir haben damit gemeinsam seit Start des Freiheitsfonds mit 667.000 Euro insgesamt 716 Menschen aus dem Gefängnis befreit. (…) Aber das Freikaufen ist keine Lösung des Problems. Wir müssen die Ursachen bekämpfen: Fahren ohne Fahrschein muss endlich entkriminalisiert werden! Heute debattiert der Bundestag über Ersatzfreiheitsstrafen. Es gibt die erstmalige realistische Möglichkeit, dass in diesem Zuge auch das Nazi-Gesetz über die Kriminalisierung von Fahren ohne Ticket abgeschafft wird…“ Thread von Freiheitsfonds vom 15.3. externer Link und Infos unter https://freiheitsfonds.de/ externer Link
    • Heute ist Internationaler Tag gegen Polizeigewalt. Was das mit der #Ersatzfreiheitsstrafe zu tun hat, deren Abschaffung wir fordern, erklären wir hier…“ Thread von Justice Collective vom 15.3.2023 externer Link
    • Anstelle Armut zu bekämpfen, behandeln Securities, Polizei und Justiz arme Leute als Gefahr für die öffentliche Ordnung. #Ersatzfreiheitsstrafe löst keine Probleme, sondern verschärft diese! Auch wir sind vor dem Bundestag mit einem Redebeitrag dabei, kommt alle!Tweet von @BastaBerlin vom 13. März 2023 externer Link zur Kundgebung des Bündnisses zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstraße zur vor dem Bundestag ab 12h
    • #Ersatzfreiheitsstrafe
  • Die Klassenjustiz bleibt: Wer eine Geldstrafe nicht zahlen kann, soll künftig nur noch halb so lang in den Knast. Das ist billiger, löst aber das soziale Grundproblem nicht 
    „Sie haben sich also endlich geeinigt, Innenministerin Nancy Faeser (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP): Ersatzfreiheitsstrafen sollen halbiert werden. Das heißt: Wer eine Strafe von 20 Tagessätzen nicht zahlt, geht künftig nur noch für 10 Tage ins Gefängnis, nicht mehr für 20. Man hätte die Strafen aus guten Gründen auch dritteln können: Immerhin orientiert sich der Tagessatz am Verdienst von einem Arbeitstag. Der hat in der Regel aber nur acht Stunden, ein Tag im Knast dagegen 24. Immerhin scheint es eine halbgute Nachricht, dass dieses Problem überhaupt adressiert wird. An der Wurzel packt es der Referentenentwurf aus Buschmanns Ministerium aber auch nicht unbedingt. (…) In der Realität, die viele Richter nicht zu Gesicht bekommen, wenn sie zum Beispiel Strafbefehle nach Aktenlage und ohne Verhandlung verhängen, treffen Ersatzfreiheitsstrafen vor allem diejenigen, die zu arm sind, sie zu zahlen. Oder die, bei denen es nichts zu pfänden gibt, oder die, deren Leben schon derart in Schieflage geraten ist, dass sie Behördenpost nicht mehr aufmachen oder gar nicht verstehen. Ersatzfreiheitsstrafen sind Klassenjustiz der übelsten Sorte. Eine Halbierung entlastet nun die Gefängnisse (und damit den Staatshaushalt), ändert aber nichts an der Zahl der Betroffenen. Wenn man die ernsthaft reduzieren wollte, müsste man in aufsuchende Sozialarbeit investieren. Damit haben etliche Bundesländer, zum Beispiel Niedersachsen, gute Erfahrungen gemacht. Leider scheitert dies an vielen Stellen an der Personaldecke im Justizsozialdienst – oder am Datenschutz, der die Einbindung freier Beratungsstellen erschwert.“ Kommentar von Nadine Conti vom 19. Dezember 2022 in der taz online externer Link, siehe dazu:

    • Schluss mit Klassenjustiz: Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen
      Die Ersatzfreiheitsstrafe ist ungerecht, trifft Menschen in Armut und bringt dem Staat nichts. Die Sanktion gehört endlich abgeschafft. (…) Schwarzfahren ist verboten. Und natürlich ist es nicht gerecht, wenn ein Mensch, der Dutzende Male schwarzfährt, ohne Strafe davonkommt. Aber wie gerecht ist es, wenn ein Mensch in Haft muss, obwohl er nur zu einer Geldstrafe verurteilt ist. Und wie fair ist es, wenn reiche Beschuldigte sich Top-Anwälte leisten können und so für die gleiche Straftat milder davonkommen als jemand, der sich keine teure Kanzlei an der Seite leisten kann. (…) Wie gerecht ist es, dass Wirtschaftskriminelle die Kosten für Strafverteidigung als „Betriebsausgaben“ bei Unternehmen von der Steuer absetzen können. Wie gerecht ist es, dass ein Bettler für sein Bitten um Geld aus Innenstädten vertrieben wird, wenn ein Spendensammler einer Hilfsorganisation ganz legal danebensteht – und dasselbe tut: betteln. (…) Vor dem Gesetz sind alle gleich, heißt es so staatstragend. Dass dem nicht so ist, hat der Journalist Ronen Steinke unlängst in einem ganzen Buch an vielen Fallbeispielen dargelegt. Justiz ist Teil eines Systems, in dem Reiche sich Privilegien erkaufen können. Und in dem Menschen in Armut schneller und härter die Repressionen des Staates spüren. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist Ausdruck dieser modernen Form der Klassenjustiz.“ Kommentar von Christian Unger vom 22. Dezember 2022 in der Morgenpost online externer Link
    • Ersatzfreiheitsstrafen diskriminieren. Bundesinnen- und -justizministerium haben sich auf eine Halbierung der Ersatzfreiheitsstrafen verständigt
      „Strafen, die angetreten werden müssen, wenn Geldstrafen nicht bezahlt werden, sollen künftig nur noch die Hälfte der verhängten Tagessätze andauern. Der Deutsche Anwaltverein (DAV) erklärte am Dienstag dazu: Der Weg nur über eine Halbierung des Umrechnungsmaßstabes greift zu kurz und nimmt das eigentliche Problem nicht ernsthaft in Angriff. Dies gilt auch mit Blick auf die nach wie vor fehlende Entkriminalisierung insbesondere der Beförderungserschleichung. Der DAV hat bereits in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass Ersatzfreiheitsstrafen abgeschafft oder zumindest auf Zahlungsunwillige beschränkt werden sollten. Mit der Vollstreckung solcher Strafen an Personen, die schlichtweg nicht dazu in der Lage sind, ihre Geldstrafen zu begleichen, geht unweigerlich eine Diskriminierung einkommens- und vermögensschwacher Menschen einher. Das Ultima-ratio-Prinzip wird damit unterlaufen, das Resozialisierungsziel klar verfehlt…“ Meldung in der jungen Welt vom 22. Dezember 2022 externer Link
  • Justizminister Buschmann will die Ersatzfreiheitsstrafe nur halbieren, nicht abschaffen – Innenministerin Faeser blockiert selbst das
    • Ersatzfreiheitsstrafen: Gegen diese Reform gibt es keine guten Gründe
      Zu viele Menschen treibt es in den sozialen Abgrund, wenn sie wegen nicht bezahlter Geldbußen ins Gefängnis müssen. Justizminister Buschmann will die Ersatzfreiheitsstrafe halbieren. Innenministerin Faeser sollte endlich aufhören zu blockieren…“ Kommentar von Constanze von Bullion vom 22. November 2022 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link (ab da im Abo), siehe zum Hintergrund:
    • Die Ampel streitet wieder. Diesmal über die Ersatzfreiheitsstrafe
      „… Der Justizminister will das Sanktionenrecht des Strafgesetzbuchs überarbeiten. Tatmotive wie Hass auf Frauen oder sexuelle Minderheiten beispielsweise sollen künftig grundsätzlich strafschärfend berücksichtigt werden. Buschmann will es Gerichten auch ermöglichen, Strafen zur Bewährung auszusetzen, indem eine therapeutische Behandlung angeordnet wird. Bewährung in Freiheit habe eine resozialisierende Wirkung, so der Liberale – anders als die erheblich belastende Haft. Bis hierhin ist man sich noch einig. Zank gibt es aber über Paragraf 43 des Strafgesetzbuches, die Ersatzfreiheitsstrafe. Sie wird angeordnet, wenn Straftäterinnen und Straftäter nicht in der Lage oder bereit sind, eine Geldstrafe zu bezahlen. (…) Der Vollzug von Ersatzfreiheitsstrafen könne „in der Regel keinen Beitrag zur Resozialisierung der Betroffenen“ leisten, heißt es in Buschmanns Haus. Zudem wiege das „Strafübel“ der Haft deutlich schwerer als eine Geldbuße, sei also unverhältnismäßig. Ein großer Teil der Freiheitsstrafen gehe zudem auf Bagatelldelikte zurück. [Der Deutsche] Richterbund [ist] kritisch. „Von der drohenden Freiheitsentziehung geht ein erheblicher Anreiz zur Zahlung aus. Diese Wirkung würde erheblich geschwächt, wenn die Zeit im Gefängnis künftig deutlich kürzer ausfiele“, sagte Geschäftsführer Sven Rebehn der SZ am Montag. Aber auch mit Blick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz gebe es Bedenken. „Während die einen für die Zahlung einer Geldstrafe von zum Beispiel 60 Tagessätzen zwei Monate arbeiten müssten, könnten diejenigen, die nicht zahlen können oder wollen, ihre Strafe künftig in der Hälfte der Zeit erledigen.“ Innenministerin Faeser sieht das ähnlich, sie stimmt Buschmanns Entwurf in der Ressortabstimmung nicht zu. (…) Die Ministerin hingegen sieht in Buschmann den Blockierer. Sie setze sich „nachdrücklich“ für eine Reform ein, die die Justizpraxis voranbringe, heißt es im Innenministerium. Faeser wünscht sich wohl eine Anhörung mit Richterinnen und Richtern, Staatsanwaltschaften und Länder-Vertretern. Buschmann aber sieht darin keinen Sinn, die Anhörung von Ländern und Verbänden sei abgeschlossen. Mit anderen Worten: Voran geht nichts.“ Artikel von Constanze von Bullion vom 21. November 2022 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link – wird hier die FDP nicht zu positiv dargestellt? Siehe daher
    • den Thread von Ronen Steinke vom 21.11. externer Link: „Der Bundesjustizminister @MarcoBuschmann wollte zumindest eine Minimal-Reform der schädlichen #Ersatzfreiheitsstrafe. Aber ausgerechnet @NancyFaeser blockiert. Ein unsoziales Trauerspiel, @spdbt, und fachlich völlig unverständlich. Ersatzfreiheitsstrafe, das heißt: Menschen, die ihre Geldstrafe nicht zahlen, kommen ins Gefängnis. Das Problem: Das trifft de facto fast ausschließlich Menschen, die beim besten Willen nicht zahlen *können* – obdachlos, süchtig, psychisch krank. (…) Das hat viel negative Folgen und keine positiven. Deshalb ist der FDP-Justizminister bereit, die Anzahl der Hafttage in diesen Fällen künftig zu halbieren. D.h. 40 Tagessätze Geldstrafe => nur noch 20 Tage Haft. – Ich fände ja eine größere Reform nötig… Aber immerhin, es wäre ein kleiner Schritt zur harm reduction, besser als nichts. Diese Haftzeit-Reduzierung ist seit Jahren der kleinste gemeinsame Nenner aller Fachleute. Eine Arbeitsgruppe aller 17 Justizministerien hat das schon 2019 empfohlen. Aber selbst dies wird nun blockiert durch das @BMI_Bund von @NancyFaeser. Mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten: „Reichsbürger“ könnten Profitieren, oder Sexualstraftäter. Sorry, you can‘t be serious. Haft bleibt Haft. Und es geht um bloße Geldstrafen.
      Die Friedrich-Ebert-Stiftung @FEStiftung übrigens fordert eine Reduktion externer Link nicht nur auf die Hälfte (wie die @fdpbt), sondern sogar auf nur max. ein Drittel. Die @AWOBund und andere Sozialverbände fordern ebenfalls – zu Recht – noch weiter zu gehen. Und die SPD in der Bundesregierung will nun stattdessen durchsetzen, dass sich *gar* nichts ändert? Es ist genau, wie @freiheitsfonds sagt: Was für eine Schande…“
    • Halbierung der Ersatzfreiheitsstrafe ist keine Lösung
      Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft mittellose Schuldner härter als Personen, die zu einer Freiheitsstrafe zur Bewährung verurteilt wurden und die mehr Schuld auf sich geladen haben. Dabei gäbe es Alternativen, meint Bernd-Dieter Meier…“ Gastbeitrag von Prof. Dr. Bernd-Dieter Meier am 10.11.2022 bei LTO.de externer Link
  • Kritische Analyse des Berichts der Justizminister zur Ersatzfreiheitsstrafe 
    „Dieses Briefing analysiert den Abschlussbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, Prüfung alternativer Sanktionsmöglichkeiten – Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen gemäß § 43 StGB (auch „JuMiKo-Bericht“ or einfach nur „Bericht“), der im Jahr 2019 abgeschlossen wurde. Mit „Ersatzfreiheitsstrafe“ bezeichnet man in Deutschland die Inhaftierung von Personen, die aufgrund von Bagatelldelikten verhängte Geldstrafen nicht bezahlen. In den letzten vierzig Jahren hat sich der Anteil der Fälle, die zu einer Ersatzfreiheitsstrafe führen, verdoppelt. Schätzungsweise 56.000 Personen werden jedes Jahr wegen Ersatzfreiheitsstrafen inhaftiert. (…) In diesem Briefing zeigen wir jedoch, warum es problematisch ist, politische Reformideen auf den JuMiKo-Bericht zu stützen: Der Bericht ist problematisch, da er von zwei sachlich unzutreffenden Prämissen ausgeht: Erstens, dass Armut in Deutschland nicht zugenommen hat; und zweitens, dass Armut keine Ursache für Ersatzfreiheitsstrafen ist. Beides steht im Widerspruch zu unabhängiger sozialwissenschaftlicher Forschung sowie zur öffentlichen Wahrnehmung. (…) In diesem Briefing analysieren wir die 275 Seiten des JuMiKo-Berichts, heben die 7 wichtigsten Ergebnisse hervor und fassen die Empfehlungen des Berichts zusammen. Dieses Briefing ist eine der ersten Analysen des Berichts. Wir kommen dabei zu dem Schluss, dass wir über die Ideen des JuMiKo-Berichts hinausgehen müssen, um zu substanziellen Veränderungen zu gelangen. Die 7 Wichtigsten Ergebnisse: 1. Auf fragwürdiger Datengrundlage und im Widerspruch zu bekannten ökonomischen Fakten beruht die Argumentation des JuMiKo Berichts auf der Prämisse, dass Armut nicht gestiegen sei und deshalb die gestiegene Anwendung der Ersatzfreiheitsstrafe nicht erklären könne. 2. Der Bericht geht fälschlicherweise davon aus, dass Menschen absichtlich nicht zahlen. 3. Der Bericht lehnt echte Lösungen ab, indem er Stereotypen über Menschen bedient, die mit Ersatzfreiheitsstrafen konfrontiert sind. 4. Der Bericht befürwortet Minimalreformen, die vor allem darauf abzielen, die Zahlungsquote bei Geldstrafen zu erhöhen. 5. Die Rechnung geht nicht auf. Eine einfache Rechnung zeigt, warum die Tagessätze angesichts der finanziellen Verhältnisse der Verurteilten nicht niedrig genug sind. 6. Der Bericht ignoriert Rassismus im Bezug auf Geld- und Ersatzfreiheitsstrafen. 7. Zum Teil scheint für den Staat die Erhöhung des eigenen Einkommens im Vordergrund zu stehen…“ Hinweis vom 7. November 2022 bei justice-collective.org auf die kritische Analyse von Mitali Nagrecha vom November 2022 externer Link zur 11-seitigen Analyse externer Link
  • Ersatzfreiheitsstrafe: Das Gefängnis, das seine Insassen freikauft / Frontal: Kontrolleure außer Kontrolle: Willkür in Bus und Bahn?
    • Kontrolleure außer Kontrolle: Willkür in Bus und Bahn?
      Fahren ohne gültigen Fahrschein ist in Deutschland eine Straftat, für die eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr drohen kann. Das 1935 eingeführte Gesetz bringt jährlich Tausende Menschen hinter Gitter. Schwarzfahrer kosten den Staat mehr als 40 Millionen Euro im Jahr. Und weil Fahren ohne Fahrschein als Straftat verfolgt wird, haben Kontrolleure durch das sogenannte Jedermannsrecht die Macht, Fahrgäste vorläufig festzunehmen. „frontal“ berichtet über schwerste Gewalt bei Ticketkontrollen, trifft Insider im Prüfdienst und eine Frau, die fürs Fahren ohne Fahrschein im Gefängnis saß.“ Video des Beitrags von Tine Kugler und Günther Kurth in Frontal am 1.11.2022 externer Link (9 min, verfügbar bis 01.11.2024)
    • Ersatzfreiheitsstrafe: Das Gefängnis, das seine Insassen freikauft
      Wer eine Geldstrafe nicht zahlt, muss ins Gefängnis. Doch sogar die Justiz selbst stellt das nun infrage: In Bremen hilft sie mit, das System zu unterwandern.
      Für die Hilferufe hat der 34-jährige Berliner Aktivist Arne Semsrott ein eigenes Postfach auf seinem Laptop, es heißt Freiheitsfonds externer Link. Tag für Tag gehen dort zehn bis 15 Mails ein. In den Nachrichten bitten die Absender darum, aus dem Gefängnis befreit zu werden. 
      Sie sind in Haft, weil sie ohne Fahrschein gefahren sind und die dafür fällige Geldstrafe nicht gezahlt haben. Sie sitzen eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe ab. Die Inhaftierten schicken ein Formular an Semsrott, auf dem sie ihr Aktenzeichen und die Höhe der Geldstrafe vermerken. Semsrott überweist dann den Betrag an die zuständige Justizkasse. Das Geld dafür stammt aus Spenden. Weil es in Deutschland egal ist, wer die fällige Geldstrafe begleicht, kommt der Inhaftierte wenig später frei.  „Bei uns haben sich schon Leute gemeldet und gesagt, dass sie sich ohne uns umgebracht hätten“, sagt Semsrott. Sie hätten die Zeit im Gefängnis nicht durchgehalten. Mehr als 550 Menschen hat der Freiheitsfonds so schon befreit und im Schnitt 1.000 Euro pro Inhaftiertem bezahlt. Semsrott hat den Fonds gegründet, weil er findet, dass niemand wegen eines fehlenden Tickets in Haft landen darf. „Ich habe mit Gegenkampagnen gerechnet und dachte, es wird viel kontroverser“, sagt er. Schließlich greift hier ein Außenstehender in das Justizsystem ein und befreit Gefangene. Stattdessen ist etwas Erstaunliches passiert: Einzelne Gefängnisse in Deutschland informieren Menschen gezielt über den Fonds. Semsrott berichtet von Haftanstalten in mehreren Bundesländern, die ihre Inhaftierten mithilfe des Freiheitsfonds aus der Haft befreien wollen.
      Darunter ist auch Bremen. Matthias Koch, Sprecher der Senatsverwaltung für Justiz, sagt: „Wir gehen auf die Leute bei Haftantritt zu und legen ihnen die Möglichkeit dar, den Fonds zu nutzen.“ So hat der Freiheitsfonds mit etwas mehr als 50.000 Euro insgesamt 48 Gefangene mit zusammen 4.173 Hafttagen aus dem Bremer Gefängnis ausgelöst. Das sind mehr als elf Jahre Gefängnis. Koch sagt dazu: „Es kann eigentlich nicht die Lösung sein, dass eine NGO das macht. Im Prinzip ist das ein Aufgeben des Staates.“ Warum Bremen diesen Weg dennoch geht, erklärt Koch so: „Zu einer Ersatzfreiheitsstrafe werden fast immer Menschen verurteilt, die einer sozialen Randgruppe angehören. Und das wegen geringer Vergehen.“ Etwa wegen Fahren ohne Fahrschein oder des Diebstahls einer Flasche Wodka. Viele seien drogenabhängig, hätten psychische und gesundheitliche Probleme. Oft seien sie überschuldet. „Sie landen im Gefängnis, weil sie die Strafe nicht zahlen können, nicht, weil sie es nicht wollen“, sagt er. „Diese Menschen sind nicht gefährlich. An denen geht das Prinzip der Haft vorbei“, sagt Koch. (…) Fest steht, dass die Zahl der Menschen, die am Stichtag wegen nicht bezahlter Geldstrafen in Haft sitzen, stark gestiegen ist. Zwischen 2003 und 2020 gab es einen Anstieg von 27 Prozent, wie das Bundesjustizministeriums mitteilt. Auch die Zahl der verhängten Geldstrafen stieg in diesem Zeitraum: um zwölf Prozent. Die Zahl der Menschen, die ihre Geldstrafe nicht zahlen können oder wollen, ist also schneller gestiegen als die der Geldstrafen. Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe befasste sich schon im Jahr 2018 mit der Ersatzfreiheitsstrafe und suchte nach Gründen für den Anstieg. In ihrem Bericht heißt es: „Grund für den Anstieg der Ersatzfreiheitsstrafen im Vollzug könnte eine negative Veränderung der wirtschaftlichen beziehungsweise sozialen Verhältnisse sein.“ Oder anders gesagt: Die Betroffenen sind ärmer geworden. (…) Nicht nur den Inhaftierten schadet die Ersatzstrafe. Auch für den Staat lohnt sich die Ersatzhaft so gut wie nie. Ein Tag im Gefängnis kostet im Schnitt etwa 150 Euro. Er übersteigt die Tagessätze der meisten Inhaftierten deutlich. Der Staat zahlt also drauf. „Es ist ein altes und völlig unzeitgemäßes Strafsystem“, sagt Semsrott…“ Artikel von Manuel Bogner vom 18. Oktober 2022 in der Zeit online externer Link
  • Aktion am 19.10. vor dem Bundestag: Ersatzfreiheitsstrafe abschaffen – keine halben Sachen!  56.000 Menschen kommen jedes Jahr wegen einer Ersatzfreiheitsstrafe ins Gefängnis. Sie wurden nicht zu Haft verurteilt, sondern werden inhaftiert, weil sie eine Geldstrafe nicht zahlen können. Dieses System bedeutet ein gewaltiges Unrecht, denn es bestraft Menschen allein dafür, dass sie arm sind. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hatte angekündigt, die Ersatzfreiheitsstrafe zu reformieren. Der entsprechende Reformentwurf wird nun zeitnah dem Parlament vorgelegt. Sein Vorschlag ändert substanziell jedoch kaum etwas an der jetzigen Gesetzeslage, während die Unzulänglichkeiten dieses Entwurfs gravierend sind. Selbst die rechtspolitische Sprecherin der FDP, Katrin Helling-Plahr, hält diesen Entwurf für „die beste schlechte Lösung, die wir haben“ – also unmissverständlich für eine schlechte Lösung. Das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe hatte hierzu in der letzten Woche eine Stellungnahme veröffentlicht externer Link (…) „Wir fordern die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe. Einfach gesagt: Das Gefängnis löst keine Probleme und richtet Schaden an. Schon eine Nacht im Gefängnis bringt Menschen in Gefahr, ihre Wohnung und ihren Arbeitsplatz zu verlieren, und verursacht emotionale und psychologische Schäden. Viele Selbstmorde in Gefängnissen ereignen sich in den ersten Tagen und Wochen nach der Inhaftierung. Die Menschen kehren zudem in schlechterer gesundheitlicher Verfassung aus dem Gefängnis nach Hause zurück, sind zusätzlich traumatisiert und müssen einen Neuanfang machen. Die Ersatzfreiheitsstrafe sorgt dafür, dass Menschen ohne finanzielle Mittel mit höherer Wahrscheinlichkeit inhaftiert werden. Wir fordern, dass der Staat dieser systemischen Ungerechtigkeit ein Ende bereitet.“ Diese und weitere Forderungen werden am Mittwoch, 19.09.22 ab 10:00 Uhr auf dem Platz der Republik 1 durch das Bündnis zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe ausgegeben und vor Ort an Parlamentarier:innen des Deutschen Bundestags überreicht.“ Pressemitteilung des Bündnisses zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe vom 17.10.2022 (per e-mail)
  • Referentenentwurf von Justizminister: Bündnis für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe lehnt den Vorschlag ab – keine Folge von Armut und Rassismus? 
    Justizminister Marco Buschmann hat einen Referentenentwurf für Paragraf 43 des Strafgesetzbuches vorgelegt.i Dieser besagt, dass Menschen, die Geldstrafen in Strafverfahren nicht bezahlen können, in Haft genommen werden sollen (die sogenannte “Ersatzfreiheitsstrafe”).ii Dadurch werden etwa 56.000 Menschen jedes Jahr inhaftiert.iii Der zentrale Reformvorschlag im Referentenentwurf sieht vor, dass die Dauer der Ersatzfreiheitsstrafe um die Hälfte gekürzt werden soll. Das Bündnis für die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe lehnt den Vorschlag von Justizminister Buschmann ab. Sein Vorschlag ändert substanziell kaum etwas an der jetzigen Gesetzeslage. Wir fordern stattdessen die sofortige Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist die letzte und härteste Folge eines Strafrechtssystems, das Armut bestraft, Menschen mit hohen Schulden belastet, und das viel zu oft zu Inhaftierungen führt. (…) Unsere Auffassung unterscheidet sich von dem Referentenentwurf in einem wesentlichen Punkt: Die Bundesregierung scheint der Auffassung zu sein, dass Ersatzfreiheitsstrafen keine Folge von Armut und Rassismus seien. Das entspricht jedoch nicht der Realität. Die Auffassung der Bundesregierung demonstriert vielmehr eine Entfremdung zwischen dem Staat und den Menschen – eine Entfremdung, die in der gegenwärtigen Inflationskrise nur noch deutlicher zutage tritt. In diesem Briefing legen wir unsere Einschätzung des Vorschlags vor und skizzieren unsere Forderungen. Wir hängen zudem ein FAQ an, das Hintergrundinformationen zu den Themen Geldstrafe und Ersatzfreiheitsstrafe liefert und unsere Position zu anderen Reformvorschlägen (einschließlich unbezahlte Arbeit und Zahlungsplänen) erläutert…“ Gemeinsame Stellungnahme vom 7.10.2022 beim Grundrechtekomitee externer Link
  • Wenn Armut strafbar wird, herrscht Klassenjustiz 
    „Armut ist ein Versagen des Staates. Doch anstatt dieses zu beheben, straft der Staat. Damit sich die Ungleichheit unserer Gesellschaft nicht in eine Ungleichheit vor dem Gesetz überträgt, brauchen wir ein neues Strafsystem. (…) Deutschland wendet beträchtliche Ressourcen auf, um ein System aufrechtzuerhalten, das einen erheblichen Teil seiner Strafen für Delikte verhängt, die Symptome von Armut sind. Dieser »Law- and-Order«-Ansatz wird gemeinhin damit gerechtfertigt, dass man Einzelne für ihre Taten zur Rechenschaft ziehen müsse und so den Rechtsstaat bewahren würde. Wenn es hingegen um die Vergehen von Konzernen und ihren Managern geht, sieht eben dieser deutsche Rechtsstaat angestrengt weg. Man denke nur an die Abgas-Skandale in der Autoindustrie oder an den gigantischen Wirecard-Betrug. Im letzteren Fall ließ der Staat das absichtlich knapp gehaltene Budget der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung durch dasselbe Unternehmen finanzieren, das diese »Bilanzpolizei« eigentlich unter die Lupe nehmen sollte. Als die Financial Times erdrückende Beweise vorlegte, reichte die deutsche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht gegen die britischen Journalisten, die diesen Beitrag verfasst hatten, Klage bei der Münchner Staatsanwaltschaft ein. Der Autor Ronen Steinke hat also Recht, wenn er schreibt, dass »vor dem Gesetz nicht alle gleich« seien. Wirklich neu ist diese Klassenjustiz jedoch nicht. Sie liegt überdies auch nicht nur in der ungleichen Anwendung oder Umsetzung der Gesetze begründet oder darin, dass sich reiche Angeklagte die beste Verteidigung einkaufen können. Vielmehr ist unser Rechtsstaat darauf ausgerichtet, ein Wirtschaftssystem zu reproduzieren, das Ungleichheit schafft und voraussetzt. Wer Profite erwirtschaftet, gilt als Stütze der Gesellschaft – wer arm ist, steht unter Generalverdacht. (…) Alternativen existieren, doch sie erfordern eine neue Denkweise. Hier können wir viel von Ansätzen des Abolitionismus lernen, in deren Vision einer klassenlosen Gesellschaft die Abschaffung der Strafjustiz ein zentrales Element darstellt. Doch auch heute schon könnten wir eine Vielzahl der derzeit bestraften Vergehen schlichtweg legalisieren. Für andere Straftaten – wie etwa Trunkenheit am Steuer – könnten wir Wege finden, um Menschen eine Wiedergutmachung leisten zu lassen, beispielsweise durch sogenannte »Restorative Justice«-Ansätze. Das Strafsystem für minderschwere Delikte ganz abzuschaffen, wäre ein großer Sprung in diese Richtung. Reformen wie die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe sind kleine Schritte auf dem Weg zu diesem ambitionierten, aber erreichbaren Ziel.“ Artikel von Mitali Nagrecha vom 26. April 2022 in Jacobin.de externer Link

    • Wer sich intensiv mit dem Thema beschäftigten will, sei die Veröffentlichung beim Berlin Verlag externer Link: „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – Die neue Klassenjustiz“ vom im Beitrag erwähnten Ronen Steinke empfohlen (2022, 272 Seiten, 20 Euro). Steinkes fundierte Analyse gehört im Moment wohl zu dem Besten, was dazu im Moment existiert. Steinke zeigt mit Vorschlägen dort auch auf, dass es anders gehen könnte – wenn man/frau wollte.
  • Die Kritik an Ersatzfreiheitsstrafen wächst. Eine Chance für grundlegenden Wandel? 
    „Die neue Bundesregierung hat eine Reform des strafrechtlichen Sanktionssystems angekündigt. (…) Die Forderung nach einer Einschränkung oder kompletten Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe wird vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie wieder verstärkt von zivilgesellschaftlichen Gruppen erhoben. In den Justizvollzugsanstalten zeigt sich eine stark erhöhte Infektionsgefahr, unter anderem bedingt durch Platzmangel, mangelnde medizinische Versorgung, schlechte Belüftung und Vorerkrankungen von Häftlingen. (…) Die öffentliche Aufmerksamkeit für das Thema verstärkt derweil auch die Initiative „Freiheitsfonds“ von der Internetplattform Frag den Staat: Sie sammelt aktuell in einer eigenen Petition an den FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann Unterschriften für die Streichung des §265a StGB, das sogenannte „Erschleichen von Leistungen“. Das Projekt hat seit Dezember 2021 dazu dutzende Personen „freigekauft“, die eine Ersatzfreiheitsstrafe wegen der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ohne Fahrschein ableisten mussten. Bundesweit habe man so bis Mitte Januar 153 Menschen durch Spendengelder aus dem Gefängnis „befreien“ können, 34 Jahre Haft habe man damit ausgelöst. Der Bundesgerichtshof hatte 1990 entschieden, dass gegen die Zahlung von Geldstrafen oder die Ablösung von Ersatzfreiheitsstrafen durch Dritte nichts einzuwenden sei. (…) Das Grundrechtekomitee setzt sich, seit 2021 auch als Teil des „Netzwerks Abolitionismus“, schon seit Jahren für eine Abschaffung ein, verfolgt aber ein grundlegenderes Ziel: die Vision einer Gesellschaft ohne einsperrende Institutionen und ohne Logiken des Strafens. Es braucht alternative Konzepte zu Strafe und Freiheitsentzug und letztlich die völlige Abschaffung von Gefängnissen…“ Beitrag von Sebastian Bähr vom 22. Februar 2022 beim Grundrechtekomitee externer Link
  • Gegen die Ärmsten: In Deutschland wandern Menschen wegen Bagatelldelikten in den Knast. Journalist Ronen Steinke wirft den Gerichten Klassenjustiz vor 
    „… Eine der Mythen über das deutsche Rechtssystem, mit denen Steinke in seinem Buch »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich« aufräumt, ist die Annahme, jede*r Angeklagte bekäme eine*n Strafverteidiger zur Seite gestellt. »Die Entscheidung, ob ein Angeklagter, der kein Geld hat, einen Strafverteidiger bekommt, trifft allein die Richterin, nicht etwa eine neutrale Instanz von außen, ein Sozialamt zum Beispiel«, schreibt Steinke. (…) In Steinkes Beschreibungen präsentierten sich deutsche Gefängnisse als Spiegel einer Gesellschaft, in der die sozialen Unterschiede immer größer werden. »Die Menschen, die wegen Zahlungsunfähigkeit inhaftiert werden, kommen heute zu 40 Prozent aus der Obdachlosigkeit, doppelt so oft wie noch vor zwanzig Jahren, und zwei Drittel von ihnen sind abhängig von Alkohol oder Drogen«, schreibt er. Die Ersatzfreiheitsstrafen, die verhängt werden, wenn Geldstrafen-Schuldner*innen nicht zahlen, sei heute die häufigste Form der Freiheitsstrafe in Deutschland geworden. Es säßen etwa 7000 Menschen pro Jahr im Gefängnis, weil sie ihr erhöhtes Beförderungsentgelt nicht zahlen konnten. (…) Den Prozessen, an denen Menschen in prekären Lebenslagen beteiligt sind, stellt Steinke Beispiele von Superreichen gegenüber. Obwohl Menschen vor dem Gesetz gleich sein sollten, sind sie es de facto nicht, folgert Steinke. Und das, obwohl es eigentlich Maßnahmen gibt, um alle gleich zu behandeln. Eine davon ist die Bemessung des Strafmaßes in Form von Tagessätzen. Wer aber keinerlei Rücklagen hat, bei dem gehen diese Zahlungen von dem ab, was fürs Überleben nötig ist, schreibt Steinke. Obwohl die Summen viel geringer sind, treffen sie die ärmeren Verurteilten härter. Reiche hingegen haben nicht nur Rücklagen, sondern auch viele andere Möglichkeiten, sich glimpflicher aus der Affäre zu ziehen – angefangen damit, dass sie sich Strafverteidiger*innen leisten können. Manager*innen können sich Strafzahlungen im Falle von Wirtschaftskriminalität aus der Unternehmenskasse erstatten lassen. Die Unternehmen wiederum setzen solche Zahlungen von der Steuer ab. Währenddessen werden im Eilverfahren Menschen wegen geringer Delikte wie am Fließband verurteilt. Die Zahlen, die Steinke präsentiert, geben zu denken. Die Allgemeinheit erleide durch Steuerbetrug jährlich einen Schaden von 50 Milliarden Euro, schreibt er. Der Schaden durch Hartz-IV-Betrug habe 2020 hingegen bei 57,3 Millionen Euro gelegen, also etwa einem Tausendstel, rechnet er vor. (…) Ronen Steinkes Buch ist ein Plädoyer dafür, zu überlegen, wie die Gesellschaft mit unterschiedlichen Formen von Kriminalität umgehen will – und was sie überhaupt als kriminell definieren will…“ Rezension von Inga Dreyer vom 18. Februar 2022 in neues Deutschland online externer Link des Buches von Ronen Steinke »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz« externer Link, erschien Februar 2022 beim Berlin Verlag zum Preis von 20 Euro
  • Wegen Armut im Gefängnis: Start einer Petition gegen Ersatzfreiheitsstrafen 
    „»Amnestie für die von Ersatzfreiheitsstrafen Betroffenen jetzt«, lautet die zentrale Forderung einer Petition, die vom Transgenderratgeberkollektiv initiiert wurde externer Link. Es ist vor knapp fünf Jahren mit dem Ziel gegründet worden, um die Situation von Transpersonen im Gefängnis zu verbessern. »Trans* Personen werden oft gegen ihren Willen in den Frauen- oder Männerknast gesteckt. Uns wurde häufig von Diskriminierungen und Gewalterfahrungen berichtet. Sie haben wenig Zugang zu geschlechtsangleichenden Maßnahmen, Beratung und Vernetzung mit anderen Transpersonen. Psychologische Unterstützung gibt es im Gefängnis kaum«, umreißt Franca Hall vom Transgenderratgeberkollektiv die Probleme der Menschen, die nicht in die binäre Geschlechtsordnung passen. Mit ihrer aktuellen Petition zur Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafen greifen die Aktivist*innen ein Problem auf, das viele Menschen mit geringen Einkommen betrifft. Sie können oft die Geldstrafen nicht bezahlen und müssen stattdessen ins Gefängnis. Daher bezeichnet Hall die Ersatzfreiheitsstrafen auch als Doppelbestrafung für Arme. Schließlich ist es für Menschen ohne Einkommensprobleme ein geringes Problem, Geldstrafen zu begleichen. Dass das Transgenderratgeberkollektiv ihre Petition in der Coronakrise lancierte, ist kein Zufall. »Es zeigt sich im Moment, dass die Gesellschaft nicht zusammenbricht, wenn die Ersatzfreiheitsstrafe wegen Corona ausgesetzt ist. Daher müssen wir jetzt handeln und sie gänzlich abschaffen«, meinte Hall. Alle Bundesländer haben die Ersatzfreiheitsstrafen vorübergehend ausgesetzt, um die Gefängnisse in der Coronakrise zu entlasten. Allerdings betonten sie Behörden betont, dass die Betroffenen ihre Strafe später absitzen müssen. (…) In Berlin sitzen etwa die Hälfte der Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe bekommen haben, wegen »der Erschleichung von Leistungen« ein. Der ehemalige Gefängnisdirektor Thomas Galli ist der Überzeugung, dass Straffällige, die eine Geldstrafe nicht bezahlen können, nicht länger in Haft genommen werden dürfen. »Solche Ersatzfreiheitsstrafen, die geschätzt etwa 40 Prozent der jährlichen Neuinhaftierungen ausmachen, betreffen fast ausschließlich Menschen in sozial prekärer Lage« so Gallis Beobachtung aus seiner Zeit als Gefängnisdirektor. Im Sommer 2018 hatte die Linksfraktion im Bundestag einen Antrag für die ersatzlose Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe eingebracht. Der Abgeordnete Niema Movassat wies darauf hin, dass diese Strafen in Italien für verfassungswidrig erklärt wurden. In Schweden wurden sie faktisch abgeschafft, in Dänemark dürfen sie bei zahlungsunfähigen Menschen nicht angewandt werden. Der Antrag fand aber keine Mehrheit.“ Beitrag von Peter Nowak bei neues Deutschland vom 1. Juni 2020 externer Link

Siehe auchim LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=141585
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