»Her mit dem vollen Mitbestimmungsrecht«. Im Januar 1920 protestierte die Rätebewegung gegen das Betriebsrätegesetz der SPD und wurde dafür beschossen

Dossier

[29./30. März 2019 in Berlin] Symposium "Die unvollendete Revolution 1918/19"Am Ende des Ersten Weltkriegs hatten in Deutschland – wie in anderen Ländern auch – die basisdemokratischen Räte maßgeblich eine revolutionäre Neuordnung angestoßen. Doch schon bald nach dem November 1918 gerieten sie in die Defensive, in den Hintergrund gedrängt von der SPD, dem alten Staatsapparat und den wiedererstarkten bürgerlichen Parteien. (…) Als Reaktion auf den außerparlamentarischen Druck erklärte sich die SPD-geführte Regierung zu bescheidenen Zugeständnissen bereit. Sie wollte den Betriebsräten einen rechtlichen Rahmen und damit zugleich deutliche Grenzen setzen. So wurden in der Weimarer Reichsverfassung die Räte formal anerkannt, ihre konkreten Befugnisse sollten dann im Betriebsrätegesetz präzisiert werden, das im Januar 1920 im Reichstag zur Beratung anstand. Der Gesetzentwurf räumte den Räten allerdings nur geringe Kompetenzen ein, ähnlich denen heutiger Betriebsräte. Das war weit weniger, als die Rätebewegung gefordert und in einzelnen Betrieben auch durchgesetzt hatte. Ihr Ziel war zunächst eine maßgebliche Mitbestimmung und auf lange Sicht die Sozialisierung der Großbetriebe. Verschiedene ambitionierte Konzepte wurden diskutiert; einig waren sich die linken Kräfte jedoch in der Ablehnung des Gesetzentwurfs der Regierung. Die Unzufriedenheit schlug sich in einer gewaltigen Protestdemonstration nieder, die am 13. Januar 1920 vor dem Reichstagsgebäude stattfand. (…) Insgesamt 42 Tote und weit über 100 Verletzte blieben auf dem Pflaster. Damit handelt es sich um die bis heute blutigste Demonstration der deutschen Geschichte…“ Artikel von Axel Weipert in ak – analyse & kritik – zeitung für linke Debatte und Praxis vom 10.12.2019 externer Link – siehe dazu auch 100 Jahre Betriebsrätegesetz – Ist das BetrVG noch zeitgemäß? [War es je?] und hier zum Januar 1920:

  • 100 Jahre Betriebsrätegesetz: Am Anfang stand ein Blutbad / Die blutigste Demonstration in Deutschland New
    • 100 Jahre Betriebsrätegesetz: Am Anfang stand ein Blutbad
      „… Gegen Mittag stellen die Beschäftigten in fast allen Großbetrieben Berlins ihre Arbeit ein und versammeln sich vor den Werkstoren. Ob bei Siemens, Daimler, AEG, Schwartzkopff oder Knorr-Bremse: Nichts geht mehr. Auch bei den Eisenbahnen, Kraftwerken und Straßenbahnen der Stadt sowie in zahlreichen kleineren Betrieben folgen die Arbeiterinnen und Arbeiter dem Streikaufruf. In geschlossenen Protestzügen ziehen sie von den Betrieben aus in die Innenstadt. Als sich um 13 Uhr der heutige Platz der Republik vor dem Reichstagsgebäude zu füllen beginnt, wird das Ausmaß des Streiks sichtbar: Statt den erwarteten einigen Tausend, versammeln sich mehr als 100.000 Menschen auf dem Platz und in den Nebenstraßen. »Zweite Revolution« lautet einer der zentralen Slogans. Und tatsächlich: Revolutionäre Stimmung liegt in der Berliner Luft. Rote Fahnen und Schilder mit Aufschriften wie »Hoch die Räteorganisation!« und »Her mit dem vollen Mitbestimmungsrecht!« ragen aus der Menschenmenge. (…) Unter der Parole »Heraus zum Kampf gegen das Betriebsrätegesetz, für das Revolutionäre Rätesystem!« hatten die linken Oppositionsparteien USPD und KPD ebenso wie die Berliner Gewerkschaftskommission und die revolutionäre Betriebsrätezentrale zu der Kundgebung mobilisiert. Denn zeitgleich zu den Protesten vor dem Reichstag wurde von den Abgeordneten darin über ein neues Betriebsrätegesetz beraten, das den in der Novemberrevolution entstandenen Betriebsräten einen rechtlichen Rahmen und damit zugleich auch deutliche Grenzen setzen sollte. De facto schrieb das Gesetz die Beschränkung der Räte auf soziale Fragen fest und räumte ihnen auch hier nur geringe Kompetenzen ein, ähnlich denen heutiger Betriebsräte. Damit sollte auch rechtlich die Möglichkeit der Rätemacht ausgeschlossen werden. Dem Entwurf der Mitbestimmung in sozialen Belangen stellten die Demonstrierenden die Forderung nach der »vollen Kontrolle über die Betriebsführung« entgegen. (…) Gegen 16 Uhr beginnt die Tragödie: Aus kurzer Entfernung eröffnet die Sicherheitspolizei das Feuer auf die Demonstrierenden. Mehrere Minuten schießt sie mit Maschinengewehren und Karabinern in die panische Menge. Handgranaten fliegen. Das Resultat: 42 Tote und über 100 teils schwer Verletzte. Damit sind die Ereignisse des 13. Januar 1920 die blutigste Demonstration in der Geschichte Deutschlands…“ Artikel von Arthur Radoschewski vom 27. Januar 2020 bei Marx21 externer Link
    • Die blutigste Demonstration in Deutschland
      Am 13. Januar vor 100 Jahren schossen Sicherheitskräfte friedliche Demonstranten gegen das Betriebsrätegesetz zusammen. 42 Menschen starben, Hunderte wurden verletzt. Bis heute wird der Opfer nicht mit einer Gedenktafel gedacht. Denn es wirkt der rechte Mythos nach, die Protestierenden hätten den Reichstag stürmen wollen. Es wäre an der Zeit, das zu ändern. (…) Der Gesetzentwurf räumte den Räten allerdings nur verhältnismäßig geringe Befugnisse ein, ähnlich denen heutiger Betriebsräte. Das war aber weit weniger, als die Rätebewegung forderte: Ihr Ziel war zunächst eine maßgebliche Mitbestimmung und auf lange Sicht die Sozialisierung zumindest der Großbetriebe. Dennoch erwies sich das Gesetz als ein wichtiger Schritt hin zu einer neuen Betriebsverfassung – und es ermöglichte den Gewerkschaften endlich, direkt in den Unternehmen Fuß zu fassen, aus denen sie im Kaiserreich strikt herausgehalten worden waren. Die Unzufriedenheit der Belegschaften schlug sich nieder in einer gewaltigen Protestdemonstration am 13. Januar 1920 vor dem Reichstagsgebäude. Das Betriebsrätegesetz wurde zu dieser Stunde im Plenarsaal diskutiert. Die linken Oppositionsparteien USPD und KPD hatten ebenso zum Protest mobilisiert wie die Berliner Gewerkschaftskommission und die Betriebsrätezentrale. Der Widerstand sollte nach dem Willen dieser Organisationen nicht nur im, sondern vor allem außerhalb des Parlaments artikuliert werden. Das war Teil eines breit angelegten Versuchs, die noch labile neue Ordnung von links unter Druck zu setzen und in einem neuen Anlauf die versäumten Veränderungen doch noch umzusetzen. Ein zentrales Schlagwort der Bewegung war daher die „Zweite Revolution“. (…) Der 13. Januar 1920 ist in vielerlei Hinsicht ein Lehrstück über die politischen Verhältnisse Deutschlands dieser Zeit. Er zeigt deutlich das unterschiedliche Politikverständnis in der Rätebewegung und den etablierten Institutionen. Das Geschehen selbst war für diese Entfremdung ein starkes Symbol: Während im Reichstag die Abgeordneten tagten, standen draußen die Demonstranten, beschossen von den bewaffneten Organen des Staates. Die Rätebewegung erschien aus dieser Perspektive nur als lästiger Störfaktor, dem mit polizeilichen, notfalls auch mit gewaltsamen Mitteln zu begegnen war. Die Umdeutung des tatsächlichen Hergangs – aus den Opfern massiver Gewalt wurden Täter, die Täter zu Opfern – war da nur konsequent. Dem Protest wurde so nicht nur die politische Legitimität abgesprochen, er wurde darüber hinaus auch kriminalisiert. Wenig später wurde das Betriebsrätegesetz unverändert beschlossen. Die öffentliche Debatte um den 13. Januar verstummte rasch. Bezeichnenderweise kam es nie zu einer offiziellen Untersuchung oder einer juristischen Aufarbeitung. Die regierungsamtliche Deutung, es habe sich um die legitime Verhinderung eines Sturms auf den Reichstag gehandelt, setzte sich in der Folge weitgehend durch. Selbst neuere historische Darstellungen zur Weimarer Republik wiederholen unkritisch diese falsche und politisch motivierte Sichtweise. Das mag der Grund sein, warum bis heute keine Gedenktafel an die Toten erinnert. Und warum das Ereignis im offiziellen wie im linken Geschichtsbewusstsein keine Rolle spielt.“ Artikel von Axel Weipert vom 25. Januar 2020 beim Gewerkschaftsforum Dortmund externer Link
  • Blutiger 13. Januar 1920 in Berlin: Heraus zum Kampf gegen das Betriebsrätegesetz!
    Vor einhundert Jahren rief die radikale Linke in Berlin zur Großdemonstration gegen das Betriebsrätegesetz. Am Abend des 13. Januar lagen Tote und Schwerverletzte beim Reichstag. Der blutige Januar 1920 ist Teil der Geschichte in Berlin. Die radikale Linke hatte zur Demo hehem das Betriebsrätegesetz aufgerufen. Zweiundvierzig Tote und hundertfünf Verletzte waren die Bilanz der Demonstration..“ Artikel von Arno Widmann vom 13.01.20 bei der FR online externer Link
  • Tote im Haus. Massaker vor dem Reichstag: Vor 100 Jahren wurde die Massenbewegung gegen das Betriebsrätegesetz zerschlagen
    Die Auseinandersetzung um Rolle und Funktion der betrieblichen Arbeiterräte war das letzte Kapitel der Revolution von 1918/19. Es ist dies auch der Konflikt der Revolution, der am sichtbarsten auf betriebliche Kämpfe der Gegenwart verweist. Seine äußerste Zuspitzung war die Demonstrationsversammlung vor dem Berliner Reichstagsgebäude, an der am 13. Januar 1920 etwa 200.000 Arbeiter teilnahmen. Die Kundgebung, von der ein Augenzeuge Jahrzehnte später schrieb, ihre Größe habe »alles« übertroffen, »was ich jemals gesehen hatte«, richtete sich gegen den an jenem Tag in der Nationalversammlung beratenen Entwurf des Betriebsrätegesetzes. Sie endete mit einem Massaker, das die von dem preußischen Innenminister Wolfgang Heine (SPD) zum »Schutz« des Reichstagsgebäudes aufgebotene Sicherheitspolizei (Sipo) unter den Demonstranten anrichtete. Die Demonstration, bei der 42 Menschen starben und mindestens 100 schwer verletzt wurden, ist die blutigste der deutschen Geschichte und heute dennoch nahezu vergessen – Ergebnis eines exemplarischen Schweigepaktes der bürgerlichen und der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung, der noch durch die zählebige Lüge abgesichert wurde, die zusammengeschossene Kundgebung sei ein Versuch gewesen, die von Weimar nach Berlin übergesiedelte Nationalversammlung zu sprengen und so doch noch die »Räteherrschaft« zu errichten. (…) Der »Abwehrkampf der Gewerkschaften« gelte »in erster Linie dem revolutionären Betriebsrätewesen«, schrieb der bürgerliche Soziologe Kurt Brigl-Matthiaß 1926 in seiner Studie über das »Betriebsräteproblem«. Dieser Kampf war, wie er zufrieden notierte, unterdessen erfolgreich gewesen: Durch das BRG und die gewerkschaftliche Praxis sei »von dem ursprünglichen Rätegedanken nur ein karger Rest« geblieben. Dass die Grundlage dieses »Erfolges«, das BRG, nur mit dem Mittel des Ausnahmezustandes hatte durchgesetzt werden können, ist ein beredtes Zeugnis für die Lebendigkeit und Breite der deutschen Rätebewegung, die sich wenige Wochen später, als die konservative und präfaschistische Rechte gegen die Republik putschte, ein letztes Mal regte.“ Beitrag von Leo Schwarz bei der jungen Welt vom 11. Januar 2020 externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=160985
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