„Demokratietauglichkeit“: Innenministerium drängt andere Ministerien zu Kooperation mit Verfassungsschutz
Dossier
„Das Bundesamt für Verfassungsschutz überprüft offenbar seit 2004 zivilgesellschaftliche Projekte auf ihre Demokratietauglichkeit, ohne dass diese davon erfahren. Wie vergangene Woche nach einer kleinen Anfrage an die Bundesregierung bekannt wurde
, hat das Bundesamt für Verfassungsschutz in den vergangenen Jahren insgesamt 51 Demokratieprojekte
überprüft, die sich um bestimmte Mittel des Bundesfamilienministeriums beworben hatten. (…) Die Einschätzungen des Verfassungsschutzes spielen eine zentrale Rolle bei der Vergabe von Fördergeldern. Das zeigen Recherchen von FragDenStaat
nach dem Informationsfreiheitsgesetz. Laut dem sogenannten Haber-Diwell-Erlass
des Innenministeriums aus dem Februar 2017, den wir hier erstmals veröffentlichen, sollen alle Bundesministerien zivilgesellschaftliche Projekte vom Verfassungsschutz überprüfen lassen, bevor sie sie fördern. Die Projekte erfahren davon nichts und werden von den Ministerien vorab nicht darauf hingewiesen…“ Beitrag von Arne Semsrott vom 22. Mai 2018 bei FragDenStaat
. Siehe dazu:
- Bundesprogramm „Demokratie leben!“: Prien schießt sich auf Demokratieprojekte ein
„Die Bundesbildungsministerin legt neue Schwerpunkte für Demokratieförderung vor – die betroffenen Verbände sehen sich unter Generalverdacht.
Der von Bundesbildungsministerin Karin Prien (CDU) versprochene Kurswechsel im Umgang mit Demokratieprojekten nimmt konkrete Formen an. Das zeigt ein Informationsschreiben aus ihrem Ministerium an Vereine und Verbände, die aktuell über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ gefördert werden. In dem vom Dienstag datierten Schreiben, das der taz vorliegt, kündigt Priens Staatssekretär Ingo Behnel weitreichende Neuerungen für die künftige Förderung an. Die neuen „Handlungsschwerpunkte“ gelten voraussichtlich ab dem Jahr 2027. Dann soll das Programm „neben der Bekämpfung des Rechtsextremismus deutlich stärker auch den Antisemitismus, den islamistischen Extremismus und den Linksextremismus berücksichtigen“. Weiter will das Ministerium neben zivilgesellschaftlichen künftig auch Projekte aus der Wirtschaft fördern. Dafür werde das Programm „für die Arbeits- und Unternehmenswelt“ geöffnet. Ferner bekräftigt Staatssekretär Behnel die umstrittene Ankündigung seiner Ministerin, Demokratieprojekte verstärkt durch den Verfassungsschutz überprüfen zu lassen
.
Wörtlich heißt es dazu in dem Schreiben: „‚Demokratie leben!‘ hat sich mit Extremismusvorwürfen gegen einzelne Träger auseinandersetzen müssen. Teilweise wurden dadurch auch die Integrität und gesellschaftliche Akzeptanz des Programms insgesamt in Frage gestellt. Dem werden wir mit einer die Verhältnismäßigkeit wahrenden Überprüfungspraxis begegnen“. Welche Träger hier gemeint sind und wer die gesellschaftliche Akzeptanz von „Demokratie Leben!“ deshalb in Frage stellt, lässt Staatssekretär Behnel jedoch offen – auch eine entsprechende Anfrage der taz lässt das Ministerium unbeantwortet. Eine Sprecherin vewies lediglich „auf die mediale Berichterstattung zum Bundesprogramm ‚Demokratie leben‘ sowie parlamentarische Fragen“.
„Eine fatale Botschaft“
Bei den Empfänger:innen sorgt die Neuausrichtung für Entsetzen. „Das Schreiben stellt die zivilgesellschaftlichen Träger unter einen Generalverdacht“, kritisiert Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Bundesverbandes der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG). Damit, sagt Kleffner der taz, verstärke das Ministerium die Delegitmierungskampagnen der extremen Rechten gegen demokratische Akteure. (…)
Zwar wurden Demokratieprojekte bereits unter der Ägide von Angela Merkel (CDU) und Olaf Scholz (SPD) massenhaft vom Verfassungsschutz durchleuchtet, wie kürzlich eine Kleine Anfrage der Linkspartei ans Licht brachte
. Allerdings hielten sich die damaligen Regierungsparteien mit Kritik an der Zivilgesellschaft öffentlich stärker zurück als aktuell die Union unter Merz. (…)
Was das für die Projektträger heißt, erfuhren sie jetzt im Schreiben aus dem Prien-Ministerium: Vor den Entschlüssen des Bundestags über das kommende Haushaltsjahr „kann über Ihre Folgeanträge nicht entschieden werden“. Welche Demokratieprojekte im Januar weiter gefördert werden und welche nicht, klärt sich möglicherweise erst in den abschließenden Beratungen Ende November.“ Artikel von Ralf Pauli vom 26.10.2025 in der taz online
- Zivilgesellschaft unter Druck: Neutralitätsgebot – Herausforderung für die Demokratie? Ein Gutachten stärkt der Zivilgesellschaft und gemeinnützigen Vereinen den Rücken
- Zivilgesellschaft unter Druck: Neutralitätsgebot – Herausforderung für die Demokratie?
„Rechtsextreme instrumentalisieren das Neutralitätsgebot, um die Demokratie zu schwächen. Aber wie „neutral“ müssen staatlich geförderte, gemeinnützige Träger der politischen Bildung und der Demokratiearbeit eigentlich sein? (…) Kurz vor den Landtagswahlen kommt die Thüringer Zivilgesellschaft am Erinnerungsort „Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz“ in Erfurt zur von der Amadeu Antonio Stiftung unterstützten Tagung „Das Neutralitätsgebot als Herausforderung für die Demokratie“ zusammen. Knapp 90 Teilnehmende diskutierten über den richtigen Umgang mit der zunehmenden rechtsextremen Bedrohung: Vereine und Verbände in der gesamten Bundesrepublik fürchten um staatliche Finanzierung und Gemeinnützigkeit, wenn sie sich kritisch zur Politik rechtsextremer Parteien oder Amtsträger*innen äußern oder sich weigern, etwa Vertreter*innen der AfD zu ihren Veranstaltungen einzuladen. (…) Im Mittelpunkt der Konferenz steht ein neues Rechtsgutachten von Friedhelm Hufen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Demnach sei die durch die Verfassung garantierte demokratische Grundordnung per se wertebezogen und stehe in untrennbarem Zusammenhang mit Menschenwürde, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit und den Grundrechten. Diese müssten in der Demokratie aktiv geschützt werden. Demokratiearbeit und politische Bildung seien in diesem Sinne nie neutral, da sie den Verfassungswerten verpflichtet seien, heißt es im Gutachten. „Das bedingt eine prinzipielle Absage an Sexismus, Rassismus, Homophobie, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Europafeindlichkeit (…) und gilt (selbstverständlich) auch dann, wenn solche Positionen durch eine nicht verbotene politische Partei vertreten werden“, schreibt Hufen. Jedoch besteht ein im Grundgesetz verankertes Gebot der Chancengleichheit in Bezug auf konkurrierende politische Parteien, dem insbesondere die Staatsorgane aller politischen Ebenen unterliegen. Diesen ist es verboten, im Sinne einer Partei in den Prozess der politischen Willensbildung einzugreifen. (…) Das Gutachten stärkt der Zivilgesellschaft den Rücken: Auch wenn Initiativen öffentliche Förderung erhalten, werden sie dadurch nicht zu „Sprachrohren“ der fördernden Ministerien und sind nicht im gleichen Maß an das Gebot der Chancengleichheit der Parteien gebunden. Auch wer Fördermittel bekommt, muss nicht neutral sein, sondern darf, ja sollte sachlich vor der Politik rechtsextremer Parteien warnen. Deren Vertreter*innen müssen nicht in Veranstaltungen einbezogen werden, wenn das den Zielen des Formats widerspricht. Entscheidend ist das Gebot der Sachlichkeit: Falsche Tatsachenbehauptungen, Schmähkritik, Beleidigungen, Eingriffe in die Privatsphäre und unzutreffende Vergleiche sind unzulässig. (…) Es gehe jetzt darum, sich gegenseitig zu unterstützen und politisch aktiv zu werden, um der rechtsextremen Normalisierung die rote Linie der wehrhaften Demokratie entgegenzusetzen…“ Beitrag von Vera Ohlendorf vom 6. September 2024 bei Belltower.news
, siehe zum Hintergrund: - Rechtsgutachten
von Friedhelm Hufen, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz - Rechtsgutachten stärkt sächsischen Vereinen den Rücken: Auch wer staatliche Fördermittel erhält darf vor rechtsextremer Politik warnen
„Welche Verpflichtungen erwachsen Organisationen der Demokratie- und Jugendarbeit als Empfängern von Fördermitteln? Welche Kompetenzen hat der sächsische Rechnungshof zur Beantwortung dieser Frage? Die Cellex Stiftung hat, unterstützt von der Freudenberg Stiftung, der Schöpflin Stiftung und der Amadeu Antonio Stiftung, ein Gutachten in Auftrag gegeben, das diesen Sachverhalt geprüft hat…“ Beitrag von Lorenz Blumenthaler vom 14. August 2024 bei der Amadeu Antonio Stiftung
- Zivilgesellschaft unter Druck: Neutralitätsgebot – Herausforderung für die Demokratie?
- [Zusammenarbeit Familienministerium mit Verfassungsschutz] Wenn bekannt wird, wie wir arbeiten, kann man uns nicht mehr vertrauen
„Das Familienministerium kooperiert mit dem Verfassungsschutz, um Demokratieprojekte zu durchleuchten. Die Zusammenarbeit stößt auf scharfe Kritik. Doch das Ministerium will geheimhalten, wen es überprüfen lässt. Seine Anwälte argumentieren: Wenn Details bekannt würden, werde das Vertrauen ins Ministerium zerstört. 120,5 Millionen Euro gab das Familienministerium im Jahr 2018 für die Förderung von 600 Projekten im Programm „Demokratie leben“ aus. (…) Die Daten von insgesamt 51 Projekten leitete das Familienministerium von 2015 bis 2018 an den Geheimdienst weiter, darunter 6 Projektträger aus dem Themenbereich „Antisemitismus“, 8 Projektträger aus dem Themenbereich „Rassismus“ und 6 Projektträger aus dem Themenbereich „Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft“. Der Geheimdienst teilte dem Ministerium anschließend mit, ob die Projektträger förderungswürdig seien oder nicht. Welche Kriterien und Daten bei den Überprüfungen verwendet wurden, hält das Ministerium geheim. (…) Wie die Anwälte des Ministeriums in einer Antwort auf eine Klage von FragDenStaat mitteilen, die wir veröffentlichen, will das Ministerium auch die Namen der betroffenen Demokratieprojekte weiter geheimhalten. Sollten die Projektträger bekannt werden, sei die öffentliche Sicherheit gefährdet. (…) Durch die Klage von FragDenStaat auf Basis des Informationsfreiheitsgesetzes könnte das Familienministerium bald dazu gezwungen werden, die Namen der überprüften Projekte herauszugeben. Somit dürften die betroffenen Projektträger bald erfahren, ob ihnen das Familienministerium misstraut…“ Bericht von Arne Semsrott vom 18. Januar 2019 bei Netzpolitik
Siehe auch unser Dossier: Verfassungsschutz-Klausel gefährdet gemeinnützige Organisationen