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Ausliefern im Krieg: Wie Kuriere der Gig Economy u.a. in Kiew arbeiten und sich organisieren

Dossier

Glovo Lieferdienste in der ukrainischen Hauptstadt (Circle for studying precarious work)In der Hauptstadt der Ukraine finden trotz Krieg weiterhin Lieferungen statt und auch Auseinandersetzungen mit international operierenden Plattformanbietern. Glovo z.B. soll in einer einzigen Woche im März 2022 fast 10.000 Bestellungen für fast 1.000 Geschäfte von mehr als 700 Kuriere ausliefern haben lassen. Seit 2019 gibt es regelmäßig Streiks und Auseinandersetzungen mit dem Unternehmen geben – die Frage ist, wie es damit unter den neuen Kriegs-Arbeitsgesetzen steht. Im Folgenden dokumentieren wir unterschiedliche Arbeits- und Organisierungsfragen, die Organizer:innen und Aktive in der Branche momentan beschäftigen:

  • Bolt Food in der Ukraine: „Man lebt nicht in einem Land, in dem man streiken kann“ New
    Das sagte der Chef von Bolt Food, einem estnischen Lebensmittellieferanten mit Sitz in der Ukraine, zu den streikenden Kurieren, die eine Lohnerhöhung und bessere Arbeitsbedingungen fordern. Der letzte nennenswerte Streik der Bolt Food-Kuriere fand 2021 statt, ohne Erfolg. Damals warfen die Kuriere dem Unternehmen vor, die Bezahlung der Bestellung um 50 % gekürzt zu haben.
    20. Oktober, Kiew, Bastionna-Straße. Die streikenden Kuriere von Bolt Food versammeln sich vor den Büros des Unternehmens. Das Sicherheitspersonal des Unternehmens erklärt ihnen (nicht sehr) diplomatisch, dass es keinen Dialog mit der Unternehmensleitung geben wird, der Regionaldirektor des Unternehmens ist sich des Streiks bewusst, aber er ist mit wichtigen Angelegenheiten beschäftigt. Dies ist der fünfte Streik der Bolt Food-Kuriere innerhalb des letzten Monats. Der erste fand Anfang Oktober in Dnipro statt.
    In den drei Jahren, in denen Bolt Food in der Ukraine tätig ist, sind die Preise gestiegen: Benzin, Lebensmittel, Ersatzteile für Fahrzeuge, Lebensmittel in Restaurants usw. Eine Sache ist jedoch nicht um einen Cent gestiegen: das Einkommen der Bolt Food-Kuriere. „Und alles hat seine Grenzen. Die Einnahmen, die Ihr Unternehmen uns beschert, sind für den Kurier unerträglich, und Ihr Unternehmen existiert nur noch wegen der Lügen über Ihre Kurier-Jobangebote, die sagenhafte Einnahmen versprechen. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war in allen Städten der Ukraine die Streichung der Bezahlung für die Fahrt zum Restaurant“, so die Kuriere in einem Appell an die Geschäftsführung von Bolt Food. Als sie sich an die Geschäftsführung wandten, formulierten die Kuriere ihre Forderungen unter anderem wie folgt:
    – Einführung einer Mindestzahlung von 70 UAH (1,81 Euro) pro Auftrag.
    – Erhöhung des Satzes und des Kilometersatzes um 70 % ohne Senkung des Bonuskoeffizienten. Das ist angesichts der Abwertung der Landeswährung und des daraus resultierenden Preisanstiegs durchaus richtig. Mit anderen Worten: Parallel zum Wachstum der Einnahmen der Plattform dürften auch die Einnahmen der Kuriere proportional steigen.
    – Garantierte Stundenvergütung von 95 UAH (2,46 Euro), wenn keine Aufträge für mehr als eine Stunde online gestellt werden.
    – Wiederherstellung der wöchentlichen Prämien.
    –  Anrechnung der Wartezeit des Kuriers in der Filiale, wenn die Filiale die Bestellung mit mehr als 5 Minuten Verspätung ausliefert.
    –  Amnestie für alle Kuriere, deren Konten zu Unrecht blockiert wurden.
    Sollten die Forderungen nicht erfüllt werden, haben die Kuriere versprochen, ihre Perlenstreiks fortzusetzen. Und genau das passiert jetzt: ein- bis zweimal pro Woche streiken die Kuriere von Bolt. „Bolt Food hat bei seinem Spiel, die Löhne der Kuriere zu kürzen, etwas Wichtiges vergessen: Je weniger jemand verdient, desto leichter fällt es ihm, am Streiktag nicht zur Arbeit zu gehen, weil er fast nichts zu verlieren hat“, erklären die Streikenden.
    Ende September wurde Kiew in bestimmte Gebiete mit unterschiedlichen Tarifen „aufgeteilt“. Fast das gesamte linke Ufer der Hauptstadt befindet sich in der „rosa“ Zone mit reduzierten Tarifen, so die Kuriere. Dies löste eine neue Protestwelle aus, und die Zahl der Streikteilnehmer nahm zu. Die ukrainische Ausgabe des wirtschaftsfreundlichen Magazins Forbes widmete dem Bolt Food-Kurierstreik am 25. Oktober einen Artikel, was ein Zeichen für die Aufregung um diesen Konflikt ist.
    Zeugenaussagen der Streikenden
    Viacheslav ist 18 Jahre alt. Er studiert Informatik und arbeitet seit 2022 bei Bolt Food in Kiew. Seine Lieferungen macht er mit dem Fahrrad, was wegen des Krieges gefährlich ist. „Ja, das ist richtig. Vor allem zu Beginn des Krieges war die Gefahr aufgrund der regelmäßigen Bombardierungen groß, aber heute habe ich keine Angst mehr“, erzählt er. Er sagt, er verdiene zwischen 424 und 471 Euro im Monat. „Aber mit einem Motorrad kann man mehr verdienen“, fügt er hinzu. Was den Streik angeht, „entscheiden wir von der Katze aus über unsere Aktionen, aber wir haben nicht vor, eine Gewerkschaft zu gründen, wir haben noch keine solche Selbstorganisation. Wir haben jedoch Beziehungen zu kämpfenden Kurieren aus anderen Städten“. Was den Ausgang des Konflikts angeht, sagt er uns: „In der Geschichte der unabhängigen Ukraine (32 Jahre) haben wir zwei große Revolutionen erlebt, warum können wir also nicht auch bei Bolt Food eine Revolution für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne machen?“
    Gromov, 25, arbeitet bei Foot Bolt in Dnipro. „Ich bin ein Aktivist für Bahnsteigarbeiter und habe eine ehemalige Kuriergewerkschaft geleitet. Ich bin seit 2019 aktiv. Derzeit verwalte ich den größten Messenger-Chat auf Telegram in der Ukraine mit insgesamt etwa 20.000 Abonnenten“, erklärt er. „Ich arbeite für Bolt Food seit dem Start der Plattform in der Ukraine (Herbst 2020). Vor drei Jahren verdiente ich etwa 94 Euro für einen 12-Stunden-Tag. Derzeit liegt das Durchschnittseinkommen der Bolt Food-Kuriere bei etwa 328 Euro für 12 Stunden Arbeit. Alle diese Beträge sind Bruttobeträge, ohne die Ausgaben [für die Wartung von Motor- oder Fahrrädern], die normalerweise 30 bis 50 Prozent des Einkommens der Kuriere ausmachen“, fügt er hinzu. Zur Gefährlichkeit der Arbeit eines Kuriers erklärt er: „Die Arbeit eines Kuriers ist immer gefährlich, egal ob man sich im Krieg oder im Frieden befindet. Aus verschiedenen Studien geht hervor, dass der Beruf des Kurierfahrers zu den 10 gefährlichsten Berufen der Welt gehört, und diese Studien beziehen sich nur auf Autos und deren Fahrer. Die meisten Kuriere benutzen zweirädrige Fahrzeuge, bei denen die Sterblichkeitsrate 25 bis 30 Mal höher ist als bei vierrädrigen Fahrzeugen. Im Grunde genommen ist die Kurierarbeit fast ein Selbstmord, und ich sehe keinen Unterschied zwischen dem Tod durch einen Bombenanschlag und dem Tod durch einen Autounfall. Der Krieg hat viele Unannehmlichkeiten mit sich gebracht, die es bei der Arbeit der Kuriere nicht gibt, wie z. B. das Warten auf das Ende eines Alarms, um ins Restaurant zu gehen und eine Mahlzeit zu holen, und die Tatsache, dass alle Arbeiter gezwungen sind, in Schutzräume, U-Bahnstationen oder Tiefgaragen zu gehen. Seine Tätigkeit als Aktivist erklärt er folgendermaßen: „Ich sage den Leuten, was sie tun sollen, und sie tun es. Ein erster Streik begann in der Stadt Dnipro wegen der Abschaffung des experimentellen Systems der angemessenen Bezahlung von Kurieren. Das war der Funke, der die Flamme der Wut der Kuriere aus anderen Städten entfacht hat, die erbärmliche Löhne erhalten. Ich hatte in den letzten Monaten die Idee, einen Streik auszurufen, aber die Gelegenheit hat sich nicht ergeben. Und der Streik der Dnjepr-Kuriere war diese Gelegenheit“ Eine Gewerkschaft gründen? Gromov ist pessimistisch: „Ich sehe keine Aussicht auf die Gründung einer Gewerkschaft unter jungen Menschen, die oft unverantwortlich und hirnlos sind und von denen 90 % nach wenigen Monaten den Arbeitsplatz wechseln. Ich habe es in den vergangenen Jahren mehrmals versucht, aber diese Versuche sind gescheitert.“ Auf die Aussage seines Chefs „Sie leben nicht in einem Land, in dem man streiken kann“, antwortete er: „Ich denke, das ist die Antwort eines schwachen und erbärmlichen Anführers, der nicht in einer so wichtigen Position sein sollte. Dieser Kerl ist ein kompletter Versager, und ich verstehe nicht, warum Bolt ihn immer noch nicht gefeuert hat.“ Zu seiner Zukunft sagt er: „Ich sehe meine persönliche Zukunft so rosig wie ein Sommertag, denn ich werde in den nächsten Jahren kein Kurier mehr sein„.“ engl. Beitrag von Patrick Le Tréhondat vom 28. Oktober 2023 beim International Labour Network of Solidarity and Struggle externer Link („«You don’t live in a country where you can go on strike»“, maschinenübersetzt)
  • Inmitten des Krieges fordern Rider in der Ukraine menschenwürdige Löhne – seit Anfang Mai gibt es Proteste in Lviv
    • Im Artikel von Terrance Heath vom 18. Mai 2022, erschienen auf Solidarity Center externer Link (engl.) heißt es bezüglich aktueller Proteste der Rider in der Ukraine: „… Am 12. Mai gingen die Lieferfahrer:innen in Lviv zum Hauptsitz von Bolt Food, um ihre Vorschläge vorzubringen und einen offenen Dialog mit dem Unternehmen zu suchen. Die Teilnehmer:innen verhüllten sich an, um ihre Identität zu verbergen, weil sie sagen, dass das Unternehmen die Arbeiter:innen in der Vergangenheit mit ‚Robo-Feuern‘ und ‚Robo-Suspendierungen‘ bestraft hat, indem es sie von der App ausgeschlossen hat. Viele der Lieferfahrer:innen in Lviv sind aus Städten geflohen, die vom Krieg in der Ukraine betroffen sind. In mehreren Fällen sind sie obdachlos oder die einzigen Ernährer:innen ihrer Familien. In einem Video, das von der ukrainischen ‚Labor Initiative‘ produziert wurde, beschreiben die Arbeiter:innen ihre Situation. ‚Ich komme aus Mykolaiv‘, sagt ein Arbeiter. ‚Mama und Papa haben dort ihre Arbeit verloren. Ich habe hier keine Wohnung und nicht einmal genug Geld zum Essen. Bolt … sagte, sie würden sich für günstige Bedingungen einsetzen. Sowohl für sich selbst als auch für die Kuriere. Aber sie haben einfach niemanden gewarnt, haben den Mindestlohn gestrichen und alle Kennzahlen gesenkt.‘ ‚Wie sollen die Binnenvertriebenen leben‘, fragt er, ‚die keine Wohnung, keine Arbeit [und] nichts zu essen haben?‘ Ein anderer Arbeiter beschreibt die Verschlechterung der Bezahlung. ‚Sie haben die Mindestvergütung für Lieferungen gestrichen. Und die Quoten wurden um fast die Hälfte gekürzt. Hier hat ein Kollege ausgerechnet, dass es ungefähr eine Kürzung der Löhne um 52 Prozent geben wird.‘ Die Arbeiter:innen sagten, das Unternehmen habe es versäumt, die Gründe für die Änderungen zu erklären. Unterdessen sehen sich Arbeitnehmer:innen, die auf Autos und Motorräder angewiesen sind und ihre Fahrzeuge auftanken müssen, um zur Arbeit zu kommen, mit steigenden Benzinpreisen konfrontiert. (…) Die Forderungen dieser Arbeiter:innen zeigen deutlich, dass plattformbasierte Unternehmen die Arbeitsrechte unter extremen Bedingungen missbrauchen, indem sie die Technologie nutzen, die die Unternehmen zur Gewinnmaximierung eingerichtet haben…“
  • In Lviv protestieren Rider gegen Lohnkürzungen
    „In Lviv kommen Lieferfahrer:innen in das Büro eines der größten Platform Unternehmen, um einen Dialog zu suchen und stellen fest, dass „es Plünderung ist, während des Ukrainekrieges die Löhne zu kürzen“. Tweet von Labor Initiatives vom 5. Mai 2022 externer Link (engl.).
  • Bei dem ukrainischen Youtube Channel Labour Initiatives externer Link (engl.), das direkt aus Kiew sendet, wurde jetzt eine neue Sendeserie aufgesetzt: „Wartime labor diary“. Darin werden in regelmäßigen Abständen ukrainische Kolleg:innen über die aktuelle Situation in ihren Sektoren interviewt und auch immer direkt nach ihrer Meinung zu dem neuen Arbeitsgesetz befragt. In der ersten Sendung wurde „Genosse Gromov“ vorgestellt, einer der Hauptorganizer der Glovo Lieferdienste in der ukrainischen Hauptstadt. „Alles ist wie in Vorkriegszeiten: die Plattformen zahlen nicht oder nicht rechtzeitig.“ Gleichzeitig bezahlt Glovo den Ridern momentan aber eine Gefahrenzulage, die der Konzern während des Kriegs auch einige Male erhöht hat. Glovo und andere Plattformen haben ihre Kontakte in der Stadt den Ridern über Telegram zugänglich gemacht, wodurch diese Zugang zu schwer erhältlichen Medikamenten oder anderen Produkten bekommen. Diese können sie dann an Bedürftige, wie ältere Bewohner:innen der Stadt die sich momentan nicht in die Apotheken trauen, ausliefern. Das Ganze passiert wiederum auf unbezahlter ehrenamtlicher Basis. In dem sehr sehenswerten Video werden auch die kürzlich neu eingeführten Arbeitsgesetze diskutiert. Diese beinhalten die Schleifung des Kündigungsschutzes und verschiedener Sozialleistungen. Der Aktivist und Organizer „Genosse Gromov“ kommentiert die Gesetze in dem Video folgendermaßen (engl.): „Kuriere können nichts verlieren, wir hatten eh keine Rechte. Aber alle anderen Arbeiter:innen werden jetzt spüren, wie es ist in unserer Situation zu sein… Das bedeutet auch einen Rückschritt für uns, für unsere Rechte zu kämpfen, denn für welche Rechte soll man kämpfen, wenn es überhaupt keine mehr gibt?“ Er drückt die Hoffnung vieler aus, dass die aktuelle Beschneidung der Arbeitsrechte nur auf die Zeit des Krieges beschränkt sein werde.
  • „… Seit der Wiederaufnahme des Betriebs in der Ukraine wurden in einer einzigen Woche fast 10.000 Bestellungen ausgeliefert, wobei bisher fast 1.000 aktive Geschäfte und mehr als 700 Kuriere tätig waren. Um die Sicherheit der Nutzer:innen, Kuriere und Partner:innen zu gewährleisten, hat Glovo zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen und -protokolle eingeführt. Ursprünglich in Spanien gegründet, hat Glovo eine enorme Expansion erlebt, und die Mehrheit der Anteile wurde Anfang 2022 von Delivery Hero in Deutschland erworben …“ Meldung von EuroWeeklyNews am 9. März 2022 externer Link (“Delivery group Glovo has partially resumed operations in Ukraine”)
  • Lisa Fickenscher schreibt im NYPost vom 31. März 2022 externer Link („Food-delivery app Glovo is taking orders across 23 war-torn cities in Ukraine“): „… Die mehr als 2.000 Kuriere, die sich für die Arbeit von Glovo in dem vom Krieg zerrütteten Land gemeldet haben, sind inzwischen auf 23 Städte verteilt, wo sie Lebensmittel, Restaurantgerichte und Rezepte an Menschen ausliefern, die oft auf das Nötigste angewiesen sind…“
  • Seit 2019 gibt es regelmäßig Streiks und Auseinandersetzungen mit dem Unternehmen wie Sergey Movchan am 30. Juli 2019 externer Link („Ukraine’s precarious delivery workers protest for the first time“) und Vitaliy Dudin am 3. September 2019 externer Link („No return: precarious delivery workers in Ukraine look to Spain for inspiration; From Zaragoza to Kyiv, the transnational fight against precarity in the delivery sector is hotting up”) bei Open Democracy schreiben.

Siehe auch im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=199566
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