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Die indische Rechtsregierung handelt in der Epidemie, wie zu erwarten war: Die Götter anrufen und die Polizei loslassen

Gurgaon, Indien: Neue Stadt, neues Glück - neue Kämpfe?„… In Mumbai, der wohlhabendsten Stadt Indiens und gleichzeitig eine der am dichtesten besiedelten Städte der Welt, lebt etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung in Slums. Auch hier ist es für die höheren Einkommensschichten erstrebenswert, in von der Außenwelt weitest gehend abgeschotteten Wohnanlagen zu leben. (…) Außerhalb dieser Mauern spielt sich das wahre Drama dieser Tage ab. In den chawls, den einfachen Mietwohnungen in dicht *innen im Freien waschen und erleichtern. Dann steigt insbesondere für Frauen die Gefahr, besiedelten Wohnvierteln, und informellen Siedlungen wohnen die Hausangestellten, Taxifahrer und Gemüseverkäufer*innen. Große Familien teilen sich meist ein Zimmer mit Küchenzeile. Die Enge und fehlende Privatsphäre ist eine Herausforderung. Oftmals gibt es in diesen Vierteln Gemeinschaftstoiletten, wenn diese aber fehlen oder nicht benutzbar sind, müssen sich die Bewohner Opfer von Krankheiten und Gewalt zu werden. Für einen Großteil der Menschen in Mumbai ist somit der Alltag schon ohne Corona der permanente, normalisierte Ausnahmezustand. Die jeden Tag aufs Neue mühsam erarbeitete Normalität gerät nun ins Wanken. Die Räumlichkeiten in den dicht besiedelten Vierteln sind nicht darauf ausgerichtet, dass sich eine gesamte Familie über viele Tage hinweg in Ihnen gemeinsam aufhalten kann. Viele Arbeiter*innen wollen daher zurzeit lieber zur Arbeit gehen, als unter diesen Umständen zu Hause sein zu müssen. Für viele Arbeitsmigrant*innen, die nach Mumbai und andere Großstädte gekommen sind, stellt sich die Situation jetzt besonders schwierig dar. Für sie ist mit Eintreten der Ausgangsperre das komplette Wohnarrangement zusammengebrochen. Gerade in den Großstädten sind vor allem junge Männer „moderne Schlafgänger“: Zehn oder mehr Personen teilen sich ein Zimmer, in denen sie abwechselnd schlafen. So kann ein Großteil des Verdiensts nach Hause in die Dörfer transferiert werden. Diese rotierenden Systeme sind unter Industrie- und Schichtarbeiter im Großraum Chennai ebenso zu finden wie in Mumbai unter jungen Fahrern von Fahrdiensten wie Uber. Während der eine tagsüber das Auto fährt, schläft der Zimmerkollege und nachts umgekehrt. Da die Taxi- und Fahrdienste nun ihren Betrieb eigestellt haben, funktioniert das Schlafsystem nicht mehr…“ – aus dem ausführlichen Bericht „Die drinnen und die draußen“ von Tobias Kuttler am 03. April 2020 im Freitag online externer Link über eine Epidemie, die sehr wohl Klassen kennt, erst recht in Indien. Siehe zur Entwicklung der Situation in Indien drei weitere aktuelle Beiträge:

  • „Polizei setzt Ausgangssperre mit Gewalt und Folter durch“ von Silke Diettrich am 04. April 2020 im Deutschlandfunk externer Link zur „Methode Modi“: „… Was viele Menschen allerdings sofort zu spüren bekamen: Sie hatten von einem Tag auf den anderen kein Geld mehr. Besonders betroffen: Tagelöhner und Arbeitsmigranten. Hunderttausende haben sich in den letzten Tagen auf den Weg gemacht, zu Fuß. Denn in Indien fahren weder Busse, noch Züge oder Rikschas. Einige Menschen sind hunderte Kilometer weit gelaufen, um zu ihren Familien auf die Dörfer zu gelangen. Manche von ihnen sind dabei vor Erschöpfung gestorben. In einem großen Tross sind Männer und Frauen losgezogen, darunter ist auch Anil, ein Bauarbeiter, der sich mit seinen Kollegen auf den Weg macht: „Ich will auf keine Menschen mehr treffen, die im Ausland waren. Die Reichen, die haben diese Corona-Krankheit hierhergebracht. Ich will einfach nur zurück in mein Dorf. Da fühle ich mich sicher.“ Viele haben es bereits geschafft, andere sollen in Auffanglagern an den Bundesstaats-Grenzen in Quarantäne gehen. Damit sich nicht noch mehr Menschen während der Ausganssperre auf den Weg machen, hat sich der indische Premierminister in seiner monatlichen Radiosendung bei seinen Landsleuten entschuldigt: „Meine Seele sagt mir, dass Sie mir verzeihen werden. Wir mussten Entscheidungen treffen, die Sie in unangenehme Situationen gebracht haben. Ich bitte vor allem meine armen Brüder und Schwestern um Verzeihung.“ (…) Um die Menschen zu zwingen, zu Hause zu bleiben, scheuen Sicherheitskräfte auch nicht davor zurück, Gewalt aus zu üben. Unzählige Videos machen seit Tagen in den sozialen Netzwerken die Runde, zum Teil haben die Polizisten sie selbst gefilmt und dann online gestellt. Wie bei diesem Film aus dem Norden von Indien: Männer mit Tüchern vor den Gesichtern machen Kniebeugen in einem Innenhof und werden gezwungen zu sagen: „Wir sind die Feinde unserer Gesellschaft, weil wir nicht zu Hause sitzen.“ Denn, wer „ohne Grund“ auf der Straße erwischt wird, kann mit Haftstrafen bis zu zwei Jahren verurteilt werden. Derzeit scheinen einige Polizisten in Indien die Menschen im Land abschrecken zu wollen, Kniebeugen sind dabei noch harmlos. Auf einigen Videos schlagen Polizisten Männer mit Schlagstöcken oder zwingen Anwohner, sich gegenseitig Ohrfeigen zu verteilen. Indiens „Nationale Kampagne gegen Folter“ hat mehr als 170 solcher Fälle dokumentiert, mindestens ein Mensch sei von Polizisten zu Tode geprügelt worden. Außerdem hätten Polizisten auf Menschenmengen geschossen oder Männer dazu gezwungen, wie Frösche zu springen. Im Norden von Indien, in der Stadt Chandigarh, sind Stadien quasi zu vorübergehenden Gefängnissen umfunktioniert worden…“
  • „«Uns haben sie vergessen»“ von Muriel Weinmann am 06. April 2020 bei der Rosa Luxemburg Stiftung externer Link zur Realität im indischen Alltag unter anderem: „… Die Gewerkschafterin Lokesh kritisiert allerdings, dass die Mittel einerseits zu gering seien, und es andererseits Probleme bei der Umsetzung gebe. Viele Wanderarbeiter*innen verfügten weder über die notwendigen Dokumente noch über ein Bankkonto, um die Hilfsprogramme der Regierung in Anspruch nehmen zu können, sagt sie. «Ohne eine noch umfassendere Hilfe, werden viele Menschen von der finanziellen Unterstützung der Regierung ausgeschlossen werden», fürchtet Lokesh. Hinzu komme, dass viele Migrant*innen bislang nichts von den Hilfen wüssten. «Die Wanderarbeiter*innen sind keine homogene Gruppe und untereinander wenig vernetzt.» Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Organisationen arbeiteten daher daran, diese Wissenslücken zu schließen und die betroffenen Menschen zu organisieren. Gleichzeitig wächst die Befürchtung, dass sich das Virus durch die heimkehrenden Arbeitsmigrant*innen vor allem in den armen ländlichen Regionen Indiens ungehindert ausbreiten könnte. So sprach sich der ehemalige Ministerpräsident des bevölkerungsreichsten Bundesstaates Uttar Pradesh, Akhilesh Yadav, unlängst dafür aus, die Wanderarbeiter*innen durch eine flächendeckende Versorgung mit Nahrungsmitteln dazu zu bewegen, in den Städten zu bleiben und so ihre Familien und Dorfgemeinschaften vor dem Virus zu schützen. Das Vertrauen in den Staat haben die meisten der Betroffenen allerdings längst verloren, glauben Beobachter*innen...“
  • „Schiere Schutzlosigkeit“ von Elisa T. Bertuzzo am 31. März 2020 im Freitag online externer Link berichtet unter anderem zu Besonderheiten Indiens und Parallelen zu Europa: „… Es erregt nur mäßig in der angeblich säkularen Demokratie, wenn der first citizen gegen Ende seiner Rede an die Nation, deren Ausstattung für die drohende medizinische, infrastrukturelle und ökonomische Krise äußerst prekär ist, die kosmische Energie von Shakti (eine Göttin, die für die Urkraft des Universums steht) evoziert. Natürlich heißt dies nicht, dass sich die gesamte Bevölkerung auf den Schutz himmlischer Kräfte verlassen würde. Ganz im Gegenteil, die Angst vor Ansteckung, verschärft durch falsche, teils tendenziöse Informationen in den sozialen Medien, ist im kollektiven Bewusstsein längst verankert. So kam es in den letzten Wochen zu punktuellen Übergriffen auf Ausländer und Inder aus dem Nordosten des Landes: „Ihr bringt Corona mit!“, hieß es. Es fehlt zudem nicht an Leuten, denen die „freiwillige“ Ausgangssperre als Test für weitere Restriktionen gilt – auch jenseits der medizinischen Notwendigkeit. (…) Die tatsächliche Gefahr für das menschliche Leben, die vom Virus per se ausgeht, ist zahlenmäßig niedrig; was unbedingt vermieden werden soll, ist ein Kollaps des Gesundheitssystems. Mit anderen Worten: Die Verwundbarkeit, an die viele Menschen derzeit erinnert werden, ist weniger medizinischer Natur als eine Folge des Unvermögens unserer Institutionen, eine unvorhergesehene Nachfrage im Gesundheitswesen zu managen. Natürlich herrscht auch die Angst, dass die von Europa bis Indien getroffenen (oder bevorstehenden) Präventionsmaßnahmen weitere Infrastrukturen beeinträchtigen, zuerst einmal die Lebensmittelversorgung. In den dramatischen Szenarien, die dieser Tage die Social Media überfluten, führt ein mit der gestörten Mobilität verbundener Zusammenbruch des Arbeitsmarkts, der Wirtschaft und der Börse, zu Gewaltausbrüchen, Konflikten und Krieg...“
  • Siehe zuletzt zu Corona in Indien am 01. April 2020: Indiens Wanderarbeiter bringen die regierenden Safran-Faschisten in Bedrängnis – deren Ausgangssperre gescheitert ist
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=169576
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