»
Chile »
»
»
Chile »
»
»
Chile »
»
»
Chile »
»

Nach der Volksabstimmung in Chile: Winkt den Pinochet-Erben endlich der „Müllhaufen der Geschichte“? Was vor allem davon abhängt, wer eine neue Verfassung entwerfen wird

Dossier

Grund zum Feiern in Chile: Rund 80% für eine neue Verfassung – und genau so viele für einen Verfassungskonvent ohne bisherige Abgeordnete„… Parteien sollten unabhängigen Kandidat*innen Plätze auf ihren Wahllisten für das verfassungsgebende Gremium einräumen. Nur so könne eine breite Beteiligung der Basisorganisationen gewährleistet werden, sagte Verónica Molina, Koordinatorin des feministischen Blocks in der Unidad Social. Die für das verfassungsgebende Konvent vorgesehenen 155 Plätze seien nicht ausreichend. So sollten für Frauen und Männer indigener Gemeinden zusätzliche fest reservierte Plätze eingerichtet werden. Die paritätische Besetzung des verfassungsgebenden Gremiums mit Männern und Frauen ist bereits beschlossen…“ – aus dem Beitrag „Soziale Organisationen fordern Beteiligung an neuer Verfassung“ von Ute Löhning am 27. Oktober 2020 beim NPLA externer Link über die Positionierungen des Bündnisses Unidad Social der „Traditionslinken“ und Gewerkschaften zum Prozess der neuen Verfassung, die mit ihrem Appell an und Fixierung auf politische Parteien keineswegs ohne Kritik davon kommt… Siehe dazu weitere Beträge im Rahmen der „Wie weiter“-Debatte in Chile:

  • Nein in Chile: Etwas mehr als 55 Prozent haben den Entwurf abgelehnt, den ein rechts-konservativ geprägter Verfassungsrat ausgearbeitet hatte New
    Der Verfassungsentwurf scheitert erneut. Präsident Boric erklärt den Prozess für beendet – das Grundgesetz aus der Pinochet-Diktatur bleibt erst mal.
    In Chile ist zum zweiten Mal der Versuch gescheitert, eine neue Verfassung zu verabschieden. Knapp 56 Prozent der Wäh­le­r*in­nen lehnten am Sonntag einen Entwurf ab, der von einem Verfassungsrat ausgearbeitet worden war, in dem die rechtsextreme Republikanische Partei die Mehrheit hatte. Die Parteien der linksgerichteten Regierungskoalition sowie soziale Bewegungen hatten aufgerufen, den Entwurf abzulehnen. Feministische Organisationen warnten davor, dass er eine Gefahr für Frauenrechte darstelle, weil er unter anderem das Recht auf Abtreibung noch stärker eingeschränkt hätte. (…) Präsident Gabriel Boric erklärte nun, dass dies der letzte Versuch gewesen sei, die Verfassung zu verändern. Das in Chile gültige Grundgesetz stammt aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973–1990). „Während unserer Amtszeit ist der Verfassungsprozess abgeschlossen. Die Dringlichkeiten sind andere“, sagte Boric noch am Wahlabend.
    Desinteresse und Politikmüdigkeit
    Statt Hoffnung habe der verfassungsgebende Prozess Ablehnung und Abstumpfung erzeugt. „Die Politik steht in der Schuld des chilenischen Volkes“, fügte Boric hinzu. Die Regierung werde sich jetzt auf die angekündigte Renten- und Steuerreform konzentrieren. Der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles konnte bisher nur wenige seiner politischen Vorhaben umsetzen, weil er keine Mehrheit in den beiden Parlamentskammern hat. Das Wahlergebnis sei „ein frischer Wind in einer politischen Periode, die von Zwietracht und Polarisierung geprägt war“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung der Regierungsparteien, die den Entwurf ablehnten. „Wir stehen vor der dringenden Notwendigkeit, die Agenda des realen Chile mit den Prioritäten des politischen Systems in Einklang zu bringen: Sicherheit, Wirtschaftswachstum, Beschäftigung, Renten, Gesundheit und Bildung“, hieß es weiter…“ Artikel von Sophia Boddenberg vom 18.12.2023 in der taz online externer Link („Referendum in Chile: Noch mal nein zu neuer Verfassung“)
  • Endspurt der Mobilisierung in Chile gegen rechte Verfassung: Chile steht am 17.12. vor einer schlechten Wahl
    • Endspurt der Mobilisierung in Chile gegen rechte Verfassung
      Abstimmung über neue Verfassung am Sonntag. Entwurf gilt als erzkonservativ und neoliberal. Befürworter:innen betonen mehr Sicherheit und Abstrafung der Regierung Boric
      „Der Text wirft uns in Bezug auf soziale Rechte und insbesondere in Bezug auf die Rechte von Frauen um 50 Jahre zurück“, meint Juan Pablo Rojas zum neuen Entwurf. Der Aktivist steht mit einer Fahne am Eingang zur Metro der Santiagoer Vorstadt Maipú und verteilt Flyer. Er will die letzten Tage vor der Abstimmung nutzen, um möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, gegen die neue Verfassung zu stimmen. „Sofern die Option ‚Dafür‘ gewinnt, wäre das wirklich unheilvoll für das ganze Land“, meint Rojas, der Mitglied in der Regierungspartei Revolución Democrática ist. Der zur Abstimmung stehende Entwurf ist stark von der rechtsextremen Partido Republicano und deren ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast geprägt. In dem Text wird das Leben eines Fötus unter Schutz gestellt und somit Abtreibung verboten. Staatliche Aufgaben werden weiter reduziert: So dürfte der Staat nicht mehr in die Bildungspläne privater Schulen eingreifen, selbst wenn er diese subventioniert. Die Familie wird als einzige Verantwortliche für das Wohl des Kindes anerkannt und Mechanismen der Solidarität bei Renten- und Krankenversicherungen quasi per Verfassung verboten. (…) Umfragen sagen derweil einen Sieg des Lagers der Gegner:innen voraus. Couso mindert jedoch die Euphorie: „Aufgrund der obligatorischen Wahlteilnahme weiß niemand, wie sich jene Verhalten werden, die eigentlich keine klare politische Meinung haben“. Er vertraue keiner Umfrage
      …“ Beitrag von Malte Seiwerth, Santiago de Chile, vom 15.12.2023 in amerika21 externer Link
    • Indigene in Chile: In schlechter Verfassung
      Chile stimmt am 17. Dezember über eine neue Verfassung ab. Die Rechte der indigenen Mapuche bleiben im Entwurf außen vor. Ein Besuch in Temuco…“ Artikel von Sophia Boddenberg vom 14.12.2023 bei den Riffreportern externer Link
    • Vertane Chance in Chile: Warum die neue Verfassung gescheitert ist
      Sozial, ökologisch und feministisch hätte sie werden können: die neue Verfassung von Chile. Doch eine satte Mehrheit der chilenischen Bevölkerung hat den Entwurf im September 2022 abgelehnt. Damit ist eine historische Chance für eine solidarische Neuausrichtung der Gesellschaft vertan worden. Die Gründe für das Scheitern und die Frage, wie es nun weitergehen kann, sind auch international relevant. (…) Im Kontext einer weltweit erstarkenden, gut vernetzten extremen Rechten sowie vor dem Hintergrund von zunehmendem Autoritarismus wird diese Abstimmung wohl auch zu einem Votum für oder gegen den Gründer und Chef der Republikanischen Partei, José Antonio Kast, der sich bereits für die kommende Präsidentschaftswahl im Jahr 2025 warmläuft. Vor allem aber stimmen die Chilen*innen – wieder mit Wahlpflicht – über einen in weiten Teilen autoritären, nationalistischen und konservativen Vorschlag für eine neue Verfassung ab. Noch im Oktober tendierte eine leichte Mehrheit Umfragen zufolge dazu, den neuen Entwurf abzulehnen. Die sozialen Bewegungen und die Parteien der Mitte-Links-Regierung rufen dieses Mal selbst zum Rechazo auf und nehmen damit in Kauf, dass die Verfassung von 1980 weiter gültig bleibt, statt das neoliberale Erbe der Diktatur abzuschütteln.“ Beitrag von Ute Löhning im InfoBrief #125 vom Dezember 2023 des RAV externer Link
    • Verfassungsreferendum: Chile steht vor einer schlechten Wahl
      Beim Verfassungsplebiszit am Sonntag wird über einen reaktionären Entwurf abgestimmt, der die Diktaturverfassung ersetzen soll
      Francisca Contreras ist seit gut zwei Wochen fast jeden Tag auf der Straße. Die 26-jährige Sekretärin der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei in der Hauptstadtgemeinde Independencia verteilt Flyer, um die Menschen davon zu überzeugen, gegen die neue Verfassung zu stimmen. Aus ihrer Sicht steht viel auf dem Spiel: »Wir als Frauen werden Rechte verlieren, die Gemeinden werden weniger Gelder zur Verfügung haben, für Chile bedeutet die neue Verfassung nichts Gutes«, ist Contreras überzeugt. Der Verfassungsentwurf über den am Sonntag, den 17. Dezember, abgestimmt wird, ist der zweite innerhalb von eineinhalb Jahren, der den Wähler*innen vorgesetzt wird. Der erste Entwurf galt als feministisch, ökologisch, sozialstaatlich und mit tiefgreifenden neuen demokratischen Rechten. Die progressive Verfassung sollte die Antwort auf die soziale Revolte von 2019 sein, bei denen Millionen von Menschen gegen die Auswirkungen des neoliberalen Wirtschaftsregimes auf die Straße gingen. Auch Contreras war damals mit auf der Straße. (…) Doch wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass vier Jahre nach der sozialen Revolte und dem verkündeten »Ende des Neoliberalismus« eine Partei im Verfassungsrat eine Mehrheit erlangte, die sich positiv auf das Erbe der Militärdiktatur beruft? Couso sieht die Antwort in der Angst vor der Kriminalität. »Chile war einst das Land mit der geringsten Mordrate auf dem gesamten amerikanischen Kontinent.« Innerhalb weniger Jahre habe sich die Zahl verdoppelt. In den Medien sind Autodiebstähle, Morde und Schießereien verfeindeter Drogenbanden allgegenwärtig. »Die Menschen haben Angst«, meint Couso, dies führe dazu, dass die Menschen ihre sozialen Rechte im Gegenzug zum Versprechen von Sicherheit aufgeben würden, sagt der Politikwissenschaftler mit einem Verweis auf den liberalen Staatstheoretiker Thomas Hobbes. Tatsächlich zeigt das rechtsausgerichtete Umfrageinstitut Cadem beispielhaft, wie sich die Prioritäten der Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert haben. Während kurz nach der Revolte von Oktober 2019 kostenloser Zugang zu Bildung, ein neues Rentensystem und eine bessere öffentliche Gesundheitsversorgung an erster Stelle der Prioritätenliste der Gesellschaft standen, ist es nun die Bekämpfung der Kriminalität. Am 10. Dezember veröffentlichte Cadem eine Umfrage, bei der 60 Prozent der Menschen angaben, Kriminalität, öffentliche Ordnung und Drogenhandel sollten von der Regierung im Jahr 2024 an erster Stelle in der politischen Agenda stehen. Die Kommunistin Francisca Contreras stimmt dieser Analyse zu, »wir als Linke haben uns zu lange nicht um die Themen der Sicherheit gekümmert«. Die rechten Parteien hätten dies ausgenutzt und verwendeten die Bekämpfung von Straßenkriminalität als eigenes Markenzeichen. Doch Contreras hat auch Angst vor dem, was passieren würde, wenn am Sonntag eine Mehrheit für die neue Verfassung stimmen würde: »Damit würde der Weg für die Präsidentschaft eines rechtsextremen Kandidaten in zwei Jahren geebnet«, ist sie überzeugt. Bei ihr überwiegt allerdings die Hoffnung: »Die meisten Menschen, mit denen wir geredet haben waren gegen die neue Verfassung«, erzählt sie. Nur ein kleiner Teil der Menschen habe sich für die neue Verfassung ausgesprochen und diese Menschen hatten stramm rechte Überzeugungen
      .“ Artikel von Malte Seiwerth, Santiago de Chile, vom 14.12.2023 in ND online externer Link
  • Verfassungsreferendum in Chile: Heiße Phase des Wahlkampfs hat begonnen
    Rund zwei Wochen vor dem zweiten Verfassungsreferendum läuft in Chile nun die heiße Wahlkampfphase an. Die Kampagnen „A Favor“ (Dafür) und „En Contra“ (Dagegen), deren Unterstützerkreise sich aus der politischen Rechten sowie den Parteien des Mitte-links Regierungsbündnisses und sozialen Bewegungen zusammensetzen, versuchen die noch unentschiedenen Wähler zu mobilisieren. Persönlichkeiten aus der Politik positionieren sich vor der Abstimmung am 17. Dezember. Präsident Gabriel Boric und seine Regierung, Ex-Präsident Ricardo Lagos und Ex-Präsidentin Michelle Bachelet sowie weitere politische Persönlichkeiten kündigten an, gegen die von der politischen Rechten erarbeitete Verfassung zu stimmen. Bachelet sagte über den Verfassungsentwurf, dass er das Land nicht eine und viele Bürger und Experten die Gefahren dieses Textes erkennen würden. Auf der anderen Seite unterstützen die rechte Opposition, ihr ultrarechter Ex-Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast und der frühere Präsident Sebastián Piñera den vorliegenden Verfassungsvorschlag. Der vorliegende Entwurf sieht unter anderem die Einschränkung des Streikrechts und der Rechte der Gewerkschaften vor, plant eine weitere Erschwerung von Abtreibungen und zementiert die Privatisierung von Gesundheit, Bildung und Renten. (…) Das Bündnis sozialer, politischer und gewerkschaftlicher Organisationen „Chile vota en contra“, das sich Mitte Oktober gründete, mobilisiert indessen im ganzen Land Menschen auf Demonstrationen und auf Diskussionsveranstaltungen gegen das „ultrakonservative und schlechte Verfassungsprojekt der Extremisten“. Zahlreiche Aktionen wie Plakatierungen und Wandmalereien sollen Aufmerksamkeit auf die Rückschritte im sozialen Bereich in dem vorliegenden Entwurf lenken.
    Seit dem 17. November können auch im Fernsehen zweimal täglich für jeweils 15 Minuten den Zuschauern Wahlkampfspots für beide Optionen im täglichen Wechsel präsentiert werden. Im Gegensatz zum letzten Referendum können nun nur noch politische Parteien Teil der offiziellen Wahlkampfstrukturen werden und Einfluss auf Werbespots nehmen oder Gelder für die Kampagne sammeln, nachdem verschiedenste Organisationen durch ihre Spenden eine entscheidende Rolle beim Sieg des „Nein“ spielten. Umfragen wie von UDP&Feedback sehen momentan 34 Prozent Zustimmung für den vorliegenden Entwurf, während 53 Prozent ihn ablehnen würden
    …“ Beitrag von Robert Kohl Parra am 30.11.2023 in amerika21 externer Link
  • Bündnis in Chile bereitet sich auf Ablehnung des Verfassungsentwurfs vor
    In Chile hat sich ein Bündnis aus sozialen und politischen Organisationen sowie Gewerkschaften gegründet, um den Verfassungsentwurf beim anstehenden Referendum am 17. Dezember abzulehnen. Damit dokumentiert sich der erhebliche Widerstand gegen den vorgestellten Entwurf. Bei einer Ablehnung droht dem Land eine politische Hängepartie um eine neue Carta Magna. Hugo Gutiérrez, Koordinator des neuen Bündnisses, sagte in einem Aufruf von Kommunisten gegen den Entwurf: „Heute ist der Verfassungsprozess von der parteipolitischen Elite gekapert. Sie verteidigen damit Interessen (…), die nicht die des chilenischen Volkes, sondern oft die der Oligarchie sind“. Verschiedene Umfragen deuten auf eine historisch hohe Ablehnung des vorliegenden Verfassungsentwurfs hin. (…) Nachdem bei den Wahlen für eine verfassungsgebende Versammlung am 7. Mai dieses Jahres das rechte Bündnis Chile Vamos und die rechtsextremen Republikaner eine Mehrheit errungen hatten, erarbeiteten sie eine Verfassung nach ihren Vorstellungen. Der vorliegende Entwurf sieht die Einschränkung der Streikrechte und der Rechte der Gewerkschaften vor, plant eine weitere Erschwerung von Abtreibungen und zementiert die Privatisierung von Gesundheit, Bildung und den Renten. Zustimmung für den von den Rechten erarbeiteten Verfassungsentwurf kommt vom Arbeitgeberpräsident Ricardo Mewes, der gegenüber Radio Pauta sagte, dass dem vorliegenden Text zugestimmt werden kann. Besondere Aufmerksamkeit erregt die offene Unterstützung des Chefs der rechtsextremen Republikaner, José Antonio Kast, für den Entwurf…“ Beitrag von Robert Kohl Parra am 25.10.2023 in amerika21 externer Link
  • Backlash nach dem Aufbruch: Verherrlichung der Pinochet-Dikatur: In Chile gibt ein Jahr nach dem gescheiterten Referendum die politische Rechte den Ton an 
    „Die politische Situation in Chile hat sich in den letzten Jahren gedreht. „Von der Protestbewegung und davon, dass Menschen durch Schüsse der Polizei damals ihr Augenlicht verloren haben, spricht heute kaum noch jemand“, sagt Flor Lazo Maldonado. Lazo ist die Präsidentin des Angehörigenverbands von siebzig, meist gewerkschaftlich organisierten Landarbeitern, die im September und Oktober 1973 in der südlich von Santiago gelegenen Kleinstadt Paine von Militärs entführt und in abgelegenen Andentälern ermordet wurden. Auch ihr Vater, zwei Onkel und zwei ihrer Brüder waren darunter.
    Angriff auf die Erinnerungsarbeit
    „Nach dem Sieg der Gegner der neuen Verfassung im Referendum 2022 habe ich Fotos von Pinochet per WhatsApp zugeschickt bekommen“, berichtet Lazo. Anfang August habe sie bemerkt, dass eine marmorne Gedenktafel mit den Namen von 17 der ermordeten Landarbeiter mit einem Hammer in viele Stücke zerschlagen worden war. „Wir selbst hatten die Tafel an dem Felsen in der Chada-Schlucht angebracht“, erklärt sie. „Die Zerstörung ist ein Angriff auf unsere Erinnerungsarbeit, und das trifft uns sehr.“ Sie erstattete Anzeige und fordert Aufklärung. Doch sie hat wenig Hoffnung. Denn bereits im September 2021 gab es in der Stadt Paine einen Angriff auf einen Gedenkort für die ermordeten Landarbeiter. Auch damals habe sie Anzeige erstattet, doch die Polizei habe kaum etwas unternommen und sei zu keinen Ergebnissen gekommen, erklärt Lazo. Die Angriffe in Paine sind keine Einzelfälle. Seit der Niederlage im Verfassungsreferendum 2022 werden verstärkt rechte Angriffe auf Erinnerungsorte verzeichnet…“ Artikel von Ute Löhning am 12. September 2023 in Nachrichtenpool Lateinamerika externer Link

  • Desaster in Chile: Rechte Parteien übernehmen den verfassungsgebenden Prozess
    • Chile: Rechte Parteien übernehmen den verfassungsgebenden Prozess
      Bei Wahlen zum Verfassungsrat erzielen Ultrarechte Erdrutschsieg. Rechtsparteien können nun mit absoluter Mehrheit die Verfassung schreiben
      Am 7. Mai hat eine große Mehrheit der Bevölkerung Chile für rechte und ultrarechte Parteien gestimmt, die im Verfassungsrat ‒ verantwortlich für den zweiten verfassungsgebenden Prozess ‒ eine neue Verfassung fertig stellen sollen. „Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Linke keine Ideologien installieren kann, die unserem Land schaden“, sagt Ruth Hurtado von der ultrarechten Partido Republicano de Chile gegenüber den Medien am 8. Mai, einen Tag nachdem am Sonntag mehr als 35 Prozent der Wähler:innen für die Partei stimmten, die sich mit Giorgia Meloni in Italien und Jair Bolsonaro in Brasilien identifiziert. Mit 23 von 51 Sitzen werden die „Republicanos“ stärkste Kraft, die traditionelle Rechte hat mit ihrem Bündnis Chile Seguro weitere elf Sitze gewonnen. Damit besitzen beide zusammen eine absolute Mehrheit, die ihnen erlaubt die Verfassung ohne die restlichen Abgeordneten im Rat zu schreiben. (…) Der gewählte Verfassungsrat wird von Anfang Juni bis November einen weiteren Verfassungsentwurf fertig stellen. Dabei orientiert er sich an einem Entwurf, der bis Ende Mai von einer Expert:innenkommission geschrieben wird. Diese Kommission wurde von den Parlamentskammern eingesetzt und wird zur Hälfte von rechten Kräften dominiert. Zusätzlich sorgt eine Vereinbarung vom Dezember 2022, als der zweite verfassungsgebende Prozess entschieden wurde, für einen inhaltlichen Rahmen. Dort wird Chile als sozialer und demokratischer Rechtsstaat definiert, gewisse soziale Rechte garantiert und gleichzeitig der bestehende institutionelle Rahmen, mit dem Zweikammernsystem, der territorialen Ordnung und Rechtssystem, fortgeführt. Am 17. Dezember 2023 sollen die Chilen:innen über den endgültigen Entwurf abstimmen…“ Beitrag von Malte Seiwerth, Santiago de Chile, vom 10.05.2023 in amerika21 externer Link
    • Desaster in Chile: Ultrarechte Partei Gewinner der Wahlen zum Verfassungsrat
      „Das chilenische Pendel schlägt zurück. Ausgerechnet die ultrarechte Republikanische Partei geht als Gewinner der Wahlen zum Verfassungsrat über die Ziellinie. Ausgerechnet die Partei des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast, die kein Jota an der Verfassung von 1980 aus der Pinochet-Diktatur verändern will. Die Linke hat nicht mal eine Sperrminorität. Bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung 2021 war es noch umgekehrt: Über zwei Drittel der Mitglieder des Verfassungskonvents kamen aus den links-progressiven Bewegungen und Parteien. Ohne Wahlpflicht wie 2023 gingen damals jedoch weniger als 50 Prozent an die Urnen; dieses Mal waren es weit über 80 Prozent. Die progressive Verfassung wurde im September per Plebiszit abgelehnt, weil sie vielen zu progressiv war und viele einer Fake-News-Kampagne aufgesessen waren. Nun kann die chilenische Ultrarechte und Rechte den vom Expertengremium vorzulegenden weichgespülten zweiten Verfassungsentwurf weiter verwässern. Von einer progressiven Verfassung ist Chile so weit entfernt wie zum Ausgangspunkt der Rebellion 2019. Ein Desaster.“ Kommentar von Martin Ling vom 8. Mai 2023 in Neues Deutschland online externer Link, siehe auch:
    • „Selbst kleine Hoffnungen in den neuen Verfassungsprozess in #Chile wurden gestern enttäuscht: Bei den Wahlen zum Verfassungsrat haben rechte Parteien einen klaren Sieg eingefahren. Wahlsieger ist José Antonio Kasts ultrarechte Republikanische Partei mit über 35 Prozent.
      Besonders dramatisch: Nach diesem Ergebnis werden also nicht nur Rechtskonservative, sondern auch eindeutige Pinochet-Fans federführend an der neuen Verfassung mitarbeiten. Dabei sollte diese doch die Verfassung aus Diktaturzeiten ablösen und für echten Wandel sorgen.
      Stattdessen haben rechte Politiker*innen mit mehr als drei Fünfteln der Sitze im Verfassungsrat nun die Entscheidungsgewalt. Die Liste um die linken Regierungsparteien kam nur auf 27 Prozent der Stimmen, ein ganzes Fünftel der Wähler*innen enthielt sich.
      Der neue Verfassungsrat wird geschlechterparitätisch besetzt. An die indigenen Bevölkerungsgruppen geht diesmal jedoch nur ein Sitz: an den Mapuche Alihuén Antileo Navarrete
      .“ Thread von Lateinamerika Nachrichten vom 8.5.23 externer Link
  • Chiles Verfassung: Neuer Anlauf ohne neue Hoffnung. Chiles Linke sieht dem zweiten Verfassungsprozess mit viel Skepsis entgegen 
    „Gilda Pérez stockt kurz, überlegt und sagt: »Ich weiß noch gar nicht, wen ich wählen soll, ich weiß nicht einmal, wo mein Wahllokal ist.« Das sei der 30-jährigen Angestellten eines Supermarkts so noch nie passiert. Noch vor wenigen Jahren begleitete sie voller Hoffnung den verfassungsgebenden Prozess, heute sagt sie: »Ich habe immer noch einen Kater vom 4. September«, als 62 Prozent und damit fast zwei Drittel der Chilen*innen den damaligen progressiven Verfassungsentwurf an der Urne ablehnten. Am 7. Mai soll unter Wahlpflicht ein neuer 50-köpfiger Verfassungsrat gewählt werden. Doch in diesem zweiten verfassungsgebenden Prozess ist alles anders. Nach dem im September 2022 gescheiterten Anlauf, die Verfassung von 1980 aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973-90) zu ersetzen, einigten sich Ende vergangenen Jahres die Parteien im Parlament auf einen Neustart. Eine sogenannte Expert*innenkommission, die vom Parlament bestimmt worden ist, schreibt bis Ende Mai einen ersten Verfassungsentwurf, der von Juni bis Anfang November vom gewählten Verfassungsrat verfeinert und korrigiert werden soll. Im Dezember wird die Bevölkerung ein weiteres Mal über den Entwurf abstimmen. (…) Für viele Linke und Befürworter*innen des ersten verfassungsgebenden Prozess ist dieser erneute Anlauf bereits gescheitert. So auch für den Lehrer Sebastián Bello: »Die rechten Kräfte werden sich durchsetzen – ich überlege mir ernsthaft, im Dezember die Verfassung abzulehnen.« Die Parlamentarierin Carol Kariola, der regierenden Kommunistischen Partei, verteidigte gegenüber »nd« den neuen verfassungsgebenden Prozess als beste Möglichkeit unter den bestehenden Umständen, die Verfassung aus der Militärdiktatur endgültig hinter sich zu lassen. Der fehlende Enthusiasmus vieler Linker liegt auch an der Zusammensetzung der Expert*innenkommission. Die Hälfte der Mitglieder sind dem politisch rechten Spektrum zuzuordnen, darunter mehrere ehemalige Regierungsmitglieder der Regierung von Sebastián Piñera, die von 2018 bis 2022 im Amt war. So etwa der ehemalige Justizminister Hernán Larraín, der wegen seiner Nähe zur damaligen Colonia Dignidad und dem Sektenführer Paul Schäfer seit Jahren öffentlich in der Kritik steht. Anfang April präsentierte die Kommission einen ersten Entwurf. Insbesondere die sehr allgemein gehaltenen Artikel zum Thema Umweltschutz wurden breit kritisiert. Der Direktor von Greenpeace Chile, Matías Asun, schrieb auf Twitter »ich empfinde die Artikel beschämend, sowohl inhaltlich als auch in der Form, in der sie geschrieben sind.« Sie seien Ausdruck von fehlender Fachkenntnis. (…) Mittlerweile sind über 600 Ergänzungen innerhalb der Kommission präsentiert worden, die bis Ende Mai ausdiskutiert werden sollen. Während linksrevolutionäre Kräfte für den kommenden Sonntag dazu aufrufen, ungültig zu wählen, versuchen linke Parteien den neuen Prozess etwas zu beeinflussen. Der Lehrer Bello hat inzwischen die Option verworfen, ungültig zu wählen. »Eigentlich wurde uns nie etwas geschenkt, wir müssen jetzt dafür kämpfen, dass etwas Gutes beim verfassungsgebenden Prozess rauskommt.« Die neue Verfassung im Plebiszit ablehnen, kann er ja immer noch.“ Artikel von Malte Seiwerth vom 4. Mai 2023 in Neues Deutschland online externer Link
  • Chile: Regierung und konservative Opposition finden einen Kompromiss für neuen verfassungsgebenden Prozess 
    „… Die Präsidenten von Parlament und Senat in Chile haben den Kompromiss für einen neuen verfassungsgebenden Prozess präsentiert. Dieser sieht ein parteipolitisch dominiertes Verfahren vor und steht damit diametral dem Willen der Mehrheit aus dem ersten Verfahren entgegen. Eine Expertenkommission aus je zwölf Vertretern aus Parlament und Senat erarbeiten demnach einen unverbindlichen Verfassungsvorschlag. In dieser Expertenkommission sollen alle in den Parlamenten vertretene Parteien sowie Vereinigungen ohne Fraktionsstatus proportional vertreten sein. In den 50 Wahlbezirken der Senatoren wird je ein Vertreter in allgemeiner und geheimer Wahl in einen zu bildende Verfassungsrat (Consejo Constitucional) gewählt. Es soll Geschlechterparität eingehalten werden und die Parteien können unabhängige Kandidaten in ihre Liste aufnehmen. Indigenenvertreter sollen proportional zum Wahlergebnis hinzugezogen werden. Eine technische Kommission soll darüber wachen, dass die vorgesehenen Mehrheiten eingehalten werden, um einen Text in den Verfassungsvorschlag aufzunehmen. Allerdings enthält der Verfahrenskompromiss auch einen Katalog von zwölf Punkten, der es erlaubt, etwaige Vorschläge „als nicht den Rahmenbedingungen entsprechend“ abzulehnen. Streitfragen oder fehlende Mehrheiten sollen in einer gemischten Kommission gelöst werden. Der ursprüngliche Verfassungsprozess wurde von den sozialen Unruhen vom September 2019 angestoßen. (…) Beim Referendum im vergangenen September lehnte jedoch eine Mehrheit von 62 Prozent den erarbeiteten Verfassungsentwurf ab. Währende des gesamten Prozesses arbeiteten die konservativen Parteien massiv gegen diese Reformen. (…) Diese Taktik hatte nun Erfolg. Fast alle Parteivorsitzenden der Regierungskoalition und der Opposition unterschrieben den Kompromiss für das neue Verfahren. Lediglich die ultrarechten Republikaner und die Volkspartei (Partido de la Gente) aus dem ultrarechten Lager verweigerten die Zusammenarbeit. Es gibt viele Stimmen, die dieses Verfahren kritisieren. (…) Staatschef Gabriel Boric verteidigte indes den Kompromiss. Er verwies auf das Ergebnis des Referendums: „Diejenigen von uns, die eine Alternative wollten, die die Demokratie auf eine viel radikalere Art und Weise vertiefen würde, haben verloren“. Er ziehe es vor „ein unvollkommenes Abkommen zu haben, als gar keins“, denn das Land brauche eine neue Verfassung und „einen neuen Sozialpakt“. Der Zeitplan sieht vor, dass die Expertenkommission bereits im Januar 2023 zusammentritt und im November 2023 ein Volksentscheid über die Annahme der neuen Verfassung abgehalten wird.“ Beitrag von Michael Roth vom 21. Dezember 2022 bei amerika21 externer Link
  • Rechte blockiert neuen Verfassungsprozess 
    Einen Monat und eine Woche nach der klaren Entscheidung gegen den neuen Verfassungsentwurf sind in Chile die Möglichkeiten zur Wiederbelebung des verfassungsgebenden Prozesses weiterhin an den Willen der politischen Rechten gebunden. So stellt die Parteikoalition Chile Vamos bereits jetzt inhaltliche Voraussetzungen und verlangsamt konkrete Mechanismen. Der rechte Flügel hat in Chile derzeit eine Mehrheit in der Abgeordnetenkammer und im Senat. Um den Weg zu einer neuen Verfassung wieder aufzunehmen, müssen beide Kammern des Parlaments jedoch mit mindestens vier Siebteln einer Verfassungsreform zustimmen. Kein politisches Lager kann diese Mindestzahl an Abgeordneten (88) bzw. Senator*innen (28) allein stemmen – eine Verhandlung mit anderen Parteien ist also nötig.
    Wichtigste Themen: Indigene Rechte, Wasserprivatisierung und Privatisierung der Daseinsvorsorge
    Zu den politischen Akteur*innen, die einen neuen Verfassungsprozess derzeit verlangsamen, gehört die rechte Parteienkoalition Chile Vamos, die den neoliberalen Kern des gegenwärtigen Systems in Chile erhalten will. Dazu gehört die Rolle des Staates bei der Subventionierung sozialer Dienstleistungen in Gebieten, die für den privaten Sektor unattraktiv oder unrentabel sind. Für einen neuen verfassunggebenden Prozess besteht Chile Vamos auf „Prinzipien“, die für eine eventuelle verfassungsgebende Versammlung jedoch kaum zu erfüllen sein werden…“ Artikel von Aldo Anfossi am 11. Oktober 2022 beim Nachrichtenpool Lateinamerika externer Link
  • „Das Volk von Chile tanzt den Tanz der Rechten“. Progressive Verfassung in Chile abgelehnt – „Ein Sieg der Anti-Politik“
    • Chile: Die Menschen stimmten nicht nur über Verfassung ab, sondern auch über dem Umgang der Regierung mit der aktuellen wirtschaftlichen Situation
      „… Am 7. September sagte uns Jadue, dass er sich „ruhig“ fühle, dass es ein bedeutender Fortschritt sei, dass fast 5 Millionen Chilen:innen für die Verfassung gestimmt haben und dass „wir zum ersten Mal ein Verfassungsprojekt haben, das geschrieben ist und in ein viel konkreteres politisches Programm umgewandelt werden kann“. Es gibt „keinen endgültigen Sieg und keine endgültige Niederlage“, sagte uns Jadue. Die Menschen haben nicht nur über die Verfassung abgestimmt, sondern auch über die schreckliche wirtschaftliche Lage (die Inflation in Chile beträgt mehr als 14,1 %) und den Umgang der Regierung damit. Genauso wie die Volksabstimmung 2020 über eine neue Verfassung eine Abstrafung für den ehemaligen Präsidenten Sebastián Piñera war, war dies eine Abstrafung für die Unfähigkeit der Regierung Boric, die Probleme des Volkes anzugehen. (…) Im Wahlkampf für die Verfassung wurden nicht die wirtschaftlichen Themen hervorgehoben, die für die Menschen wichtig sind, die am unteren Ende der sozialen Ungleichheit leben. Die Reaktion auf die Niederlage – den Armen die Schuld an der Niederlage zu geben – spiegelte die engstirnige Politik wider, die während der Kampagne für die neue Verfassung zu beobachten war. (…) Eines der am wenigsten beachteten Elemente des politischen Lebens in Chile – wie auch in anderen Teilen Lateinamerikas – ist das rasche Wachstum der evangelikalen (vor allem pfingstlichen) Kirchen. Etwa 20 % der chilenischen Bevölkerung bezeichnen sich als evangelikal. Im Jahr 2021 besuchte Kast den Dankgottesdienst einer evangelikalen Gemeinde und war der einzige Vertreter, der zu einer solchen Veranstaltung eingeladen wurde. Ein großer Teil der evangelikalen Wählerinnen und Wähler, die durch das neue Pflichtsystem zur Stimmabgabe gezwungen wurden, lehnte den Vorschlag für eine neue Verfassung wegen seiner liberalen sozialen Agenda ab. Jadue sagte uns, dass die evangelikale Gemeinschaft nicht erkannte, dass die neue Verfassung die Evangelikalen „mit der römisch-katholischen Kirche gleichstellt, weil sie die Freiheit der Religionsausübung gewährleistet“. Diejenigen, die nicht für die Verfassung waren, begannen gleich nach der Einberufung der verfassungsgebenden Versammlung eine Kampagne gegen ihre liberale Agenda. Die Befürworter der neuen Verfassung warteten die Ausarbeitung der Verfassung ab und verzichteten auf Kampagnen in den Regionen, in denen die evangelischen Kirchen das Sagen hatten und wo der Widerstand gegen die Verfassung deutlich war. Die Ablehnung der Verfassung war Ausdruck der wachsenden Unzufriedenheit der Chilenen mit dem allgemeinen Kurs des Sozialliberalismus, den viele – auch die Führung der Frente Amplio – für die unvermeidliche Entwicklung der Politik des Landes hielten. Die Distanz zwischen den Evangelikalen und der linken Mitte zeigt sich nicht nur in Chile – wo die Ergebnisse jetzt zu sehen sind -, sondern auch in Brasilien, wo im Oktober eine folgenreiche Präsidentschaftswahl ansteht…“ (engl.) Artikel von Taroa Zúñiga Silva und Vijay Prashad vom 11. September 2022 bei Peoples Dispatch externer Link („The bewildering vote in Chile that rejected a new constitution”).
    • Erklärung der Sozialen Bewegungen für das Apruebo nach der Niederlage
      „….Genossinnen und Genossen, als Wahlkampfteam der sozialen Bewegungen richten wir uns in diesem Moment, da bereits feststeht, dass die Mehrheit der Bevölkerung die neue Verfassung in diesem historischen Referendum abgelehnt hat, an Euch, an alle Nachbar:innen, Arbeiter:innen, indigene Gemeinschaften, Bewegungen, Organisationen und Menschen aus allen Teilen des Landes, die mobilisiert und organisiert haben, um diese neue Verfassung zu verabschieden. (…) Obwohl dieses Ergebnis nicht unseren Erwartungen entspricht, so ist doch klar: Es geht um eine Wahlniederlage, nicht um die Niederlage eines in die Zukunft gerichteten Projekts. Wir haben in einem Szenario tiefgreifender Ungleichheit verloren. Wir waren mit der wirtschaftlichen Macht jener Sektoren konfrontiert, die das Monopol der Medien innehaben, und die mit all ihren Ressourcen eine auf Lügen und Verzerrungen basierende Kampagne starteten: um Angst einzuflößen, Rassismus und Konkurrenz zwischen dem letzten und dem vorletzten zu schüren. Bald werden wir wieder aufstehen. Denn kein Bedürfnis, keine Notwendigkeit, kein soziales Problem, die zu diesem politischen Prozess geführt haben, wurden mit der heutigen Entscheidung gelöst. Der Entwurf einer neuen Verfassung gibt eine Mindestmarge an unveräußerlichen Rechten und Werkzeugen vor. Auf dem Weg, den wir eingeschlagen haben, geben wir uns nicht mit weniger zufrieden. In dem Referendum am 25. Oktober 2020 hat die Bevölkerung bereits ihren Willen bekundet, der Verfassung von Pinochet durch die Arbeit eines extra dafür gewählten Gremiums eine Ende zu setzen. Wir werden keinen Schritt abweichen von den demokratischen Mindestanforderungen, die wir gemeinsam definiert haben und die die Beteiligung der Bevölkerung an zukünftigen Prozessen ermöglichen: Geschlechterparität, die Repräsentanz indigener Gemeinschaften durch reservierte Sitze und Wahllisten für partei-unabhängige Personen. Es ist unerlässlich, dass wir als die organisierten Sektoren, diesen Prozess organisieren. Es gibt kein Zurück mehr. Die Aufgabe, die autoritäre und neoliberale Verfassung zu stürzen, bleibt an der Tagesordnung. In diesem Prozess werden die Lehren, die wir gezogen haben, von grundlegender Bedeutung sein. Die sozialen Bewegungen sind nicht mehr dieselben, die wir vor dem Schreiben dieser Verfassung waren. In diesem Prozess haben die Menschen gelernt, sich selbst zu vertreten, nachdem sie jahrzehntelang außen vor gelassen wurden. Wir sind gekommen, um zu bleiben. Und nachdem wir den bitteren Trank dieses Rückschlags überwunden haben, werden wir vereint weitermachen, die Arbeit im ganzen Land wiederaufnehmen und das soziale Netzwerk stärken. Denn es gibt keine Möglichkeit, den Fluss zu stoppen, wenn er seinen Lauf gefunden hat.“ Erklärung des Wahlkampfteams der Sozialen Bewegungen für das „Apruebo“ vom 4. September 2022 in der Übersetzung von Ute Löhning beim Nachrichtenpool Lateinamerika externer Link
    • Chile Referendum: Pinochet war nie weg
      Die Ablehnung der neuen Verfassung am 04.09.2022 hat die linke Bewegung in eine Mittelschwere Krise gestürzt. Wenn auch aufgrund von Umfragen absehbar war, dass der in einer verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeiteten neuen Verfassung abgelehnt werden würde, war doch die Klarheit der Ablehnung mit 62 Prozent der abgegebenen Stimmen überraschend. Während sich viele Erklärungen auf die Lügenkampagne der chilenischen Rechten stützen, ist nach Einschätzung der revista crisis diese Niederlage vor allem eine Niederlage des linken Reformismus, wie der hier übersetzte Beitrag meint…“ Vorwort zur Übersetzung am 8. September 2022 beim Lower Class Magazine externer Link
    • Chile: „Kampf um die Herzen“ verloren – Interview zum gescheiterten Referendum und die Rolle der Friedrich-Naumann- und der Hanns-Seidel-Stiftung
      „… Ute Löhning: Ich sehe die Ursache in der medialen und finanziellen Übermacht der rechten Wahlkampagne gegen die neue Verfassung, also der Kampagne des Rechazo. Die rechte Kampagne hat schon 2021 begonnen, gegen die neue Verfassung zu mobilisieren, als diese noch gar nicht geschrieben war. Rechte Angehörige des Verfassungskonvents haben das von Innen versucht zu blockieren. Außerhalb des Verfassungskonvents lief schon eine massive Medienkampagne ein Jahr lang, bevor jetzt im Juli 2022 die Befürworter*innen angefangen haben, ihre eigene Wahl- und Medienkampagne zu starten. Und dazu muss man noch sagen, dass die Rechte in Chile eine starke Dominanz in den Medien hat. Viele große Medien sind mit Unternehmen assoziiert, man kann hier von einem Netzwerk sprechen, das mit rechten Think Tanks kooperiert, zum Teil auch international unterstützt wird, unter anderem von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung und der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung. Die Medien haben eine massive Kampagne gegen die neue Verfassung gestartet, mit jeder Menge Falschaussagen und Verzerrungen. Zum Beispiel, indem gesagt wurde, die neue Verfassung verbiete, das jemand Eigentum an Wohnungen oder an einem Haus hat. Stimmt nicht, steht nicht in der Verfassung drin. Es wurde gesagt, die neue Verfassung ließe Abtreibungen bis in den neunten Schwangerschaftsmonat zu. So ist das in der Verfassung nicht definiert. Aber das hat sehr viele Emotionen mobilisiert. Viele Menschen waren verunsichert, hatten Angst, auch um ihre eigene Situation, ihre Renten, ihren Wohnraum. Und bei manchen spielten sicherlich auch nationale Gefühle eine Rolle…“ Interview mit Ute Löhning von Markus Plate am 6. September 2022 bei Nachrichtenpool Lateinamerika externer Link
    • [Neuer Anlauf, abgeschwächt?] Linke in Chile zwischen Hoffnung und Verzweiflung
      Enttäuschung und Versuche des Neuanfangs nach Ablehnung des progressiven Verfassungsentwurfs. Regierung will zur Wahl eines zweiten Verfassungskonvents aufrufen und sucht Bündnispartner (…) Die schmetternde Absage an den Verfassungsentwurf hat die chilenische Linke tief getroffen. Die neue Verfassung sollte der Startschuss für ein neues, sozialeres, ökologisches und feministisches Chile sein, doch eine Mehrheit der Bevölkerung erklärte dem Projekt eine Absage. Warum? Die bestürzte Alejandra gibt den Falschinformationen während der Abstimmungskampagne die Schuld: „Viele wussten nicht, für was sie überhaupt abstimmen, inklusive einer meiner Söhne, die die neue Verfassung nicht einmal gelesen haben“.
      Rechte Sektoren investierten über zwei Millionen Euro in eine Kampagne, die hauptsächlich darauf basierte, Artikel aus dem neuen Verfassungsentwurf überzogen zu interpretieren oder gar Lügen zu verbreiten, um Angst zu schüren. Angst, das eigene Haus könnte enteignet werden, Indigene hätten zukünftig mehr Rechte als alle Anderen oder das Land würde aufgrund der Plurinationalität gespalten. Die Medien hielten der Propagandaschlacht kaum entgegen, zum Teil waren es Sprecher:innen der großen Fernsehkanäle selber, die auf die Lügen zurückgriffen. (…)
      Doch das alleine erklärt noch nicht die Ablehnung von 62 Prozent der Wähler:innen. Zum ersten Mal in der chilenischen Geschichte war für alle über 18-jährigen die Teilnahme an der Abstimmung obligatorisch. Bis 2010 war zwar die Teilnahme verpflichtend, aber nicht das Eintragen in das Wahlregister. Erstmals kamen über 13 Millionen Wähler:innen an den Urnen zusammen, fast fünf Millionen mehr als bei der vorherigen Wahl. So blieb die Anzahl an Befürworter:innen der neuen Verfassung fast auf dem gleichen Niveau, wie diejenige der Personen, die im Dezember 2021 für den Präsidenten Gabriel Boric stimmten. Viele Erstwähler:innen entschieden sich eher dafür, den Verfassungsentwurf abzulehnen.
      Die Gegner:innen der neuen Verfassung fuhren eine Anti-Politik-Kampagne: Wichtige Gesichter der Rechten wurden versteckt, Ex-Präsident Sebastián Piñera tauchte nicht in den Medien auf und der ultrarechte ehemalige Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast war erst am Abstimmungsabend wieder zu sehen und sprach zu einer jubelnden Menge. (…) Die Politologin Marta Lagos meinte, das Votum sei auch eines gegen die Regierung, deren Umfragewerte seit März konstant fallen. Die linksreformistische Regierung von Boric wird für die Inflation und Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht, wobei ein beträchtlicher Teil im Zuge der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges entstanden ist. Die rechte Kampagne gegen die neue Verfassung hat vielmehr mit Gefühlen überzeugt, anstatt mit Argumenten und Tatsachen. (…) Gleich nach der Wahl präsentierte das Meinungsforschungsinstitut Ipsos eine Umfrage, nach der 78 Prozent der Befragten weiterhin eine neue Verfassung wünschen. Davon ist auch die Regierung überzeugt: Der Auftrag sei klar, so der Präsident, man solle nun eine Verfassung entwerfen, die die Chilenen vereint. (…)  Inzwischen erklärte Regierungssprecherin Camila Vallejo, man werde zur Wahl eines zweiten Verfassungskonvents aufrufen. Details müssten mit den Parteien geklärt werden. Reservierte Sitze für indigene Völker oder eine vereinfachte Teilnahme für parteiunabhängige Kandidaten wurden nicht mehr erwähnt. Allerdings braucht es für einen erneuten Anlauf eine Änderung der aktuellen Verfassung durch zwei Drittel des Parlaments. (…) Am Dienstag trafen die Präsidenten beider rechter Parteien im Regierungssitz, La Moneda, zu ersten Gesprächen ein. Währenddessen gab es in Santiago am gleichen Tag Demonstrationen. Schülerorganisationen forderten einen zweiten verfassungsgebenden Prozess. Sie erklärten: „Gegenüber einem Volk ohne Erinnerung, schreiben wir Schüler:innen Geschichte, mit Kampf und Organisation“. Es kam zu Verhaftungen und Polizeigewalt.“ Beitrag von Malte Seiwerth, Santiago de Chile, am 07.09.2022 in amerika21 externer Link
    • Desaströse Niederlage in Chile. Der fortschrittliche Verfassungsentwurf scheitert deutlicher als gedacht – erste Überlegungen zu Gründen und Bedeutung dieses Scheiterns 
      „Es ist ein herber Rückschlag für den sozialen und ökologischen Wandel in Chile: Etwa 62 Prozent der Wähler*innen stimmten am Sonntag, den 4. September, gegen den Entwurf für eine neue, fortschrittliche Verfassung. In Umfragen hatte die Ablehnung seit Monaten vorne gelegen. Da erstmals seit 2012 wieder eine Wahlpflicht galt, hofften die Befürworter*innen des Verfassungsentwurfs aber bis zuletzt auf unentschlossene Wähler*innen. Genützt hat es nichts. Bei einer hohen Wahlbeteiligung von knapp 86 Prozent votierten 7,88 Millionen Chilen*innen gegen und nur 4,86 Millionen für den Verfassungsentwurf. Die Wahlenthaltungen und ungültigen Stimmen lagen bei gut zwei Prozent. (…) Es ist nicht leicht, am Tag nach dem Referendum bereits die Gründe für die deutliche Niederlage zu benennen. Eine häufig angeführte Erklärung ist die Lügenkampagne der chilenischen Rechten gegen den Verfassungsentwurf. »Es handelt sich um eine Wahlniederlage, nicht die Niederlage eines politischen Projektes«, erklärte etwa der Zusammenschluss sozialer Bewegungen, der sich für den Verfassungsentwurf einsetzt (Movimientos Sociales por el Apruebo). Es sei schwer gewesen, gegen die mediale Übermacht der Gegner*innen und deren Lügenkampagne anzukommen. Tatsächlich fürchtete die traditionelle Elite um ihre Privilegien und versuchte, die Annahme des Verfassungsentwurfs mit einer aggressiven Kampagne zu verhindern. Durch Falschbehauptungen schürte sie Ängste vor Kommunismus, Enteignungen und wirtschaftlichem Niedergang. (…) All dies hatte zweifellos Einfluss auf die Abstimmung. Aber als Erklärung für das desaströse Ergebnis reicht es nicht. Das würde bedeuten, dass sich Millionen Chilen*innen schlicht auf plumpe Art und Weise hätten täuschen lassen. Anderen linken Regierungen in Lateinamerika gelangen in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter vergleichbaren Bedingungen aber deutliche Wahlerfolge. (…) Die linken Bewegungen müssen also auch aufarbeiten, warum sie mit ihrer Kommunikation und Ansprache nicht mehr Menschen überzeugen konnten. Möglicherweise waren einige der Konzepte, die in linken Kreisen Lateinamerikas überwiegend geläufig sind, zu abstrakt. Viele unpolitische Wähler*innen hatten während der aufziehenden Rezession und Inflation wohl tatsächlich Angst vor zu viel Veränderung auf einmal. (…) Ein Verfassungstext allein kann ein Land nicht verändern. Die Beispiele Venezuela, Bolivien und Ecuador zeigen, dass zwischen Verfassungsgrundsätzen und politischer Wirklichkeit mitunter tiefe Gräben klaffen. Aber der Entwurf hätte allen, die sich für ein soziales und ökologisches Chile einsetzen, bedeutende Rechte und Instrumente in die Hand gegeben. In der Verbindung linker Regierungsmehrheiten und sozialer Mobilisierung hätte tatsächlich das Potenzial gelegen, den Neoliberalismus in das Grab zu stoßen, das die Protestbewegung seit 2019 ausgehoben hat. Und dies hätte unweigerlich auch international Symbolwirkung gehabt. Nun wird es deutlich schwieriger, den nötigen Wandel in Chile umzusetzen“ Einschätzung von Tobias Lambert vom 5. September 2022 im ak online
    • Referendum in Chile: Progressive Verfassung abgelehnt
      62 Prozent der Wahlberechtigten stimmen gegen die Reform. Präsident Boric lädt alle politischen Parteien zur Zusammenarbeit ein, um gemeinsam einen neuen Verfassungsprozess in Gang zu bringen
      Autokorsos in den wohlhabenden Vierteln der Hauptstadt: Es ist lang her, dass die reiche und meist rechte Bevölkerung der Oberschichtviertel gefeiert hat. Nun sei „Chile vom Kommunismus“ befreit, heißt es dort. Denn deutlich lehnte am Sonntag eine Mehrheit von knapp 62 Prozent den Entwurf für eine neue Verfassung ab. „Es war eine große Vereinfachung der Realität zu denken, die chilenische Bevölkerung würde einen radikalen Wandel wünschen, doch so war es seit Oktober 2019“, meint externer Link der Anwalt und Kolumnist Carlos Peña in El País.
      Das Wahlergebnis ist ein herber Rückschlag für die politische Linke und die linksreformistische Regierung von Präsident Gabriel Boric, die mit aller Macht versucht haben, Chile zum „Grab des Neoliberalismus“ zu machen. Gegen diesen Reformwillen stemmte sich eine breite Koalition aus rechten Parteien und wichtigen politischen Figuren der ehemaligen Mitte-Links Regierungskoalition Concertación, die sich entgegen der Entscheidung ihrer Parteien gegen die neue Verfassung stellten.
      Mit dem Wahlsieg sei auch die „ideologische, radikale Linke“ besiegt worden, meint der ehemalige rechte Abgeordnete des Verfassungskonvents, Christian Monckeberg,  gegenüber den Medien.
      Schon vor der Wahl sagten alle Umfragen einen Sieg des gegnerischen Lagers voraus. Allerdings lag die Hoffnung der Befürworter:innen darin, dass die erstmals wieder eingeführte obligatorische Wahlteilnahme mit automatischer Einschreibung im Wahlregister eine Voraussage erschweren würde. Doch anstatt das Ergebnis dadurch ihn Richtung einer Zustimmung zur neuen Verfassung zu bewegen, geschah genau das Gegenteil: die Umfragen sagten einen Wahlsieg von etwa 55 Prozent für das Gegner:innenlager voraus, das tatsächliche Ergebnis liegt jedoch sogar sieben Prozentpunkte weiter rechts.
      Während manche die Gründe der Wahlschlappe hinter einer breit angelegten Desinformationskampagne sehen, gehen andere davon aus, dass der Reformwillen des Verfassungskonvents tatsächlich zu radikal war. (…) Schon jetzt lehnten die rechten Parteien die Einladung zur gemeinsamen Sitzung ab.“ Bericht von Malte Seiwerth, Santiago de Chile, am 05.09.2022 in amerika21 externer Link
    • Chile: Ein Sieg der Anti-Politik. Der Entwurf einer neuen Verfassung wird von einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt.
      „… Von einem solchen Sieg hatte die alte chilenische Elite, die schon abgewirtschaftet schien, nicht einmal zu träumen gewagt. Einer der ersten Politiker, der auftritt, ist der christdemokratische Senator Matias Walker. Er und seine Familie gehören zu den größten Besitzern von Wasserrechten, eines der umstrittensten Themen der vergangenen Jahre in Chile. Hier zumindest schien der Konsens überwältigend, dass die Wasserrechte, die in Chile – einmalig in der Welt –von der Quelle an privatisiert sind, wieder in Gemeinwohl überführt werden müssen, um eine gerechte Verteilung des knappen Gutes zu sichern. Hier gab es schon ausgefeilte Pläne, wie das von statten gehen könnte, wenn eine Mehrheit für die neue Verfassung stimmt. Alles passé. (…) Fabiola Campillai hat in der Verarbeitung dieser Katastrophe ein enormes politisches Talent entwickelt, was sich auch an diesem schmerzlichen Abend wieder zeigt. „Ich verstehe mein Volk nicht“, sagt sie. „Ich bin sehr traurig, ich dachte, die Menschen glaubten mir, und ich könnte etwas zur Verbesserung ihres Lebens beitragen.“ Aber schon im Wahlkampf habe sie in den Armenvierteln, die sie im Gegensatz zu vielen anderen Aktivist:innen tatsächlich persönlich repräsentiert, erlebt, dass viele ihr sagten, sie würden die neue Verfassung ablehnen. Auf ihre Frage „Warum“, hätten die meisten nur sagen können, der Entwurf sei schlecht. „Das Volk von Chile tanzt den Tanz der Rechten“, so ihr bitteres Resümee. Es hätte Angst etwas zu verlieren, was es gar nicht besitzt.
      Es gibt viele Gründe, warum das Apruebo verloren hat. Im Verfassungskonvent war die Mehrheit aus linken und linksliberalen Parteien sowie aus sozialen Bewegung so groß, dass die wenigen rechten Abgeordneten keine Chance hatten, eigene Punkte durchzusetzen. Sie verlegten sich von Anfang an im Konvent und außerhalb in allen ihnen zur Verfügung stehenden Medien auf die Obstruktion des Prozesses. Während die, die vom Aufstand von 2019 übriggeblieben waren, im Konvent versuchten einen konstruktiven Vorschlag zu erarbeiten und damit ein Jahr lang über Gebühr beschäftigt waren, waren die Gegner:innen bereits im Wahlkampf gegen die neue Verfassung. Das wiegt besonders schwer in einem Land, in dem es keine Öffentlichkeit von Relevanz gibt, die nicht privatisiert ist. (…)
      Während in Santiago die Sieger mit ihren großen Autos hupend durch die Straßen fuhren und chilenische Flaggen schwenkten, als hätte es um ein Fußballspiel gehandelt, hielt der linke Präsident Boric eine Pressekonferenz ab. Schon vorher war durchgesickert, dass es je nach Ergebnis ein neues Kabinett geben werde. Er kündigte die Kabinettsumbildung an und sprach von einem neuen Verfassungsprozess, nun im Rahmen des parlamentarischen Prozederes. Das Ende dieses Abends kündet also ein nach rechts gerücktes Chile an, das aber auf all die sozialen, politischen und lebenskulturellen Fragen, die der Aufstand aufgeworfen hat, so wenig eine Antwort hat wie die Aufständischen selbst.“ Beitrag von Katja Maurer vom 5.9.2022 bei medico externer Link
  • [Aufruf zum Mitzeichnen vor dem Plebiszit vom 4. September] „Apruebo“ Internacional, wegen der globalen Bedeutung: Für die neue Verfassung in Chile 
    Die Verfassung, über die Chile am 4. September in einem Referendum abstimmt, ist eine der demokratischsten und fortschrittlichsten der Welt. Bringen Sie mit Ihrer Unterschrift Ihre Unterstützung für die Annahme der neuen Verfassung zum Ausdruck…
    Chile ist zu verschiedenen historischen Zeitpunkten ein weltweiter Bezugspunkt für politische Prozesse, soziale Bewegungen, intellektuelle Debatten und große Veränderungen gewesen. In Bezug auf Demokratisierungsprozesse hat Chile seit seiner Unabhängigkeit einen starken Einfluss auf Lateinamerika ausgeübt. Das chilenische Modell des öffentlichen Gesundheits- und Bildungswesens war für viele Länder der Region seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Referenzpunkt. (…)
    Im globalen Vergleich ist die vorgeschlagene Verfassung in Chile eine der demokratischsten und fortschrittlichsten der Welt. Damit ist sie nicht nur Teil eines Prozesses der Wiedergutmachung und der Begleichung einer historischen Schuld gegenüber der chilenischen Bevölkerung, sondern auch ein Meilenstein für eine demokratische, solidarische und ökologische Zukunft. Damit kann die chilenische Verfassung auch über Chile hinaus Verfassungsreformen in anderen Regionen der Welt inspirieren, die das Überleben des Planeten und das Zusammenleben der Menschheit ermöglichen. (…)
    Mit der neuen Verfassung werden zwei große Schritte vorgeschlagen. Zum einen die Überwindung des autoritären Erbes der Diktatur. Aber darüber hinaus ist die neue Verfassung eine Antwort der chilenischen Gesellschaft auf die drängendsten Probleme der Menschheit und ein Plädoyer für eine solidarische, ökologische und würdige Zukunft.
    Das Plebiszit vom 4. September 2022 über die Annahme oder Ablehnung des konventionellen Vorschlags des Verfassungskonvents ist ein Meilenstein in der globalen Geschichte der Demokratie. Wir, die Unterzeichner*innen dieses Briefes, möchten unsere starke Unterstützung für die Annahme der neuen Verfassung in Chile zum Ausdruck bringen. Eine ABLEHNUNG (Rechazo) wäre ein Rückschlag nicht nur für die chilenische Demokratie, sondern für die emanzipatorischen Prozesse, die in Lateinamerika und der ganzen Welt stattfinden. Im Gegensatz dazu wird die ANNAHME (Apruebo) zweifellos ein Ausgangspunkt für die Erweiterung und Vertiefung der emanzipatorischen Perspektiven in Chile und in der ganzen Welt sein.“ Aufruf zum Mitzeichnen bei medico international externer Link
  • Chilenische anarchistische Erklärung: “Keine Verfassung wird die Herrschaft beenden!”
    Nachdem vor knapp drei Jahren ein massiver sozialer Aufstand die herrschende neoliberale Ordnung in Chile erzittern ließ, steht das lateinamerikanische Land in diesen Tagen vor einer Volksabstimmung für eine neue Verfassung. Ihre Verfechter*innen meinen, dass die neue Verfassung endlich die Forderungen der Straße durchsetzen kann und preisen den verfassungsgebenden Prozess als ein Glanzstück moderner Demokratie und Teilhabe. Dass dem nicht so ist, zeigt eine Erklärung, welche die Anarchistische Föderation von Satiago (FAS) kürzlich herausgegeben hat. In ihrem Text benennen sie den verfassungsgebenden Prozess als das, was er wirklich ist: Die Erneuerung der kapitalistischen Ausbeutung der lohnabhängigen Klasse und der kolonialen Unterdrückung der indigenen Gemeinschaften Chiles. Wir haben die Erklärung der Genoss:innen übersetzt, weil sie die Lügen des Reformismus widerlegt und ein anschauliches Zeugnis gegen den Reformismus und Opportunismus ist. Es bleibt dabei: Der einzige Weg zur Befreiung der lohnabhängigen Klasse sind Direkte Aktion und Organisation! Für den Aufbau von Gegenmacht von unten!…“ Vorwort von und bei dieplattform zur Übersetzung des Positionspapiers veröffentlicht am 2. September 2022 externer Link
  • In Chile ist sogar das Wasser privatisiert. Die neue Verfassung würde das ändern 
    Im Jahr 1980 ersetzte die Diktatur von General Augusto Pinochet die chilenische Verfassung durch eine neue Charta, die die Prinzipien des berühmten amerikanischen Marktwirtschaftlers Milton Friedman vertrat. Vierzig Jahre später ist die Diktatur vorbei, aber die Verfassung – und eine wichtige Bestimmung, das Nationale Wassergesetz, das Chiles riesige natürliche Wasservorräte privatisierte – ist immer noch in Kraft.
    Nach einem Aufstand im Jahr 2019, an dem Millionen Menschen im ganzen Land teilnahmen, und vor dem Hintergrund einer 15-jährigen Dürre, die in mehr als der Hälfte des Landes zu einem offiziellen Wassernotstand geführt hat, wurde ein vom Volk gewähltes Gremium damit beauftragt, die Verfassung von Grund auf neu zu schreiben. Sie haben nur ein Jahr Zeit für die Ausarbeitung des Dokuments und müssen versuchen, die Folgen der anhaltenden diktatorischen Politik und des verheerenden Wassergesetzes in ihrem neuen Entwurf zu korrigieren.
    Der Kurzfilm „Hasta la última gota“ oder „Bis zum letzten Tropfen“ verfolgt den Kampf um Wasser in der Provinz Petorca, dem Epizentrum der chilenischen Mega-Dürre, dem wirtschaftlichen Zentrum der chilenischen Landwirtschaftszone und einem heiß umkämpften Gebiet in der Verfassungsdebatte.“ engl. Artikel von Ben Derico vom 12. August 2022 in The Intercept externer Link samt dem Film
  • RAV-Stellungnahme zu dem Vorschlag für eine neue Verfassung von Chile 
    „Der RAV e.V. begrüßt den neuen Entwurf für eine demokratische Verfassung der Republik Chile sehr. Die Verfassung, die endlich die noch aus den Zeiten der Diktatur Pinochets stammende alte ersetzen wird, ist ein leuchtendes Beispiel für einen modernen, inklusiven und demokratischen Rechtsstaat. Die Bundesrepublik Deutschland kann nur mit Neid auf diesen Verfassungsentwurf blicken, der gerade in puncto Grundrechte der Bürger*innen neue Maßstäbe im 21. Jahrhundert setzt. Die Verfassung anerkennt, dass viele Nationen in der Republik Chile beheimatet sind. Sie betont die überragende Wichtigkeit des Schutzes der natürlichen Ressourcen für ein Leben in Würde in der Zukunft. Sie versucht, den Weg der Spaltung, des Auseinanderspielens von Arm und Reich zu überwinden; sie stellt zudem eine Geschlechterparität sicher. Der Gedanke des buen vivir (dt.: das Gute Leben) ist einer, der noch viele weitere Verfassungen auf der Welt in Zukunft prägen sollte. Als Teil der Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland hoffen wir, dass die chilenische Bevölkerung diese neue Verfassung als Chance begreifen wird. Wir werden den Verfassungsprozess in Chile weiterhin solidarisch und mit Interesse verfolgen und sind gespannt, was von diesem Text für Deutschland gelernt und übernommen werden kann.“ RAV-Stellungnahme vom 8. August 2022 externer Link
  • [Chile] Was beim Verfassungsplebiszit am 4. September auf dem Spiel steht 
    „Am 4. September entscheiden die Chilen*innen, ob in ihrem Land bald eine neue Verfassung in Kraft tritt. Die Kampagnen für das Apruebo (Zustimmung zur neuen Verfassung) und Rechazo (Ablehnung) haben bereits Anfang Juli begonnen, die landesweite Ausstrahlung der Fernsehwerbespots wird im August starten. Den fertig ausgearbeiteten Text für eine neue Verfassung hatte der 154-köpfige Verfassungskonvent am 4. Juli an Präsident Gabriel Boric übergeben. Eines der wichtigsten Merkmale des Verfassungsentwurfs ist, dass er neue Rechte vorsieht und die Rolle des Staates stärkt, indem er ihm die Verantwortung überträgt, die in der Verfassung verankerten Rechte zu garantieren. Gerade die eingeschränkte Rolle des Staates ist einer der größten Kritikpunkte an der aktuellen Verfassung, die während der Diktatur unter Augusto Pinochet verabschiedet und bei den Protesten 2019 als wichtige Ursache der sozialen Ungleichheit in Chile identifiziert wurde. In den 388 Artikeln des neuen Verfassungsentwurfs werden insbesondere die Rechte von Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderung, Frauen, der LGBTIQ*-Community und der indigenen Gemeinschaften gestärkt. Die neue Verfassung zielt außerdem auf die Anerkennung der Rechte von Hausangestellten und Gewerkschaften und auf die Festigung der öffentlichen Bildungs-, Gesundheits- und Sozialversicherungssysteme ab. Der Entwurf setzt sich außerdem für den Schutz der Umwelt und insbesondere des Wassers ein. (…) Neben sozialen, Umwelt- und feministischen Bewegungen schloss sich der Kampagne für die Zustimmung zu diesem Verfassungsentwurf auch Amnesty International an. Die internationale Menschenrechtsorganisation brachte kürzlich ihre Unterstützung für die neue Verfassung zum Ausdruck. In der aktuell gültigen Verfassung herrsche „ein deutlicher Unterschied zur heutigen Verfassung, [der] darin besteht, dass bestimmte wichtige Rechte, wie beispielsweise das Recht auf Wohnung, Wasser und Nahrung, nicht oder nur sehr unzureichend berücksichtigt werden, wie das Recht auf Gesundheit und soziale Sicherheit“, so hieß es. (…) Viele Monate lang lag die Zustimmung zur neuen Verfassung in Umfragen deutlich über der Ablehnung. Doch in letzter Zeit haben sich die Umfragewerte umgedreht: Die jüngste Umfrage des konservativen Meinungsforschungsinstituts Cadem, die Anfang Juli veröffentlicht wurde, kam zu dem Ergebnis, dass 51 Prozent der Chilenen dazu neigen, den Text abzulehnen, während 34 Prozent bereit sind, ihn anzunehmen. Dabei bleibt ein großer Anteil unentschlossener Wähler*innen…“ Beitrag von Cecilia Pérez Otero vom 11. Juli 2022 bei npla.de externer Link mit der deutschen Wiedergabe wichtige Aussagen im Verfassungsentwurf
  • Verfassungskonvent übergibt Verfassungsentwurf an Präsident Boric: Das Volk hat sich für mehr Demokratie entschieden
    Am Montag den 4. Juli fand die feierliche Übergabe des Verfassungsentwurfs an den chilenischen Präsidenten Gabriel Boric statt. Die monatelange Arbeit des Konvents ist damit beendet. „Eine historische Phase demokratischer Arbeit geht hiermit zuende“, erklärte die Präsidentin des chilenischen Verfassungskonvents, María Elisa Quinteros. „Dieser Verfassungsvorschlag, den wir heute überreichen, soll die Grundlage sein für das gerechtere Chile, von dem wir alle träumen. Viele Generationen haben für diesen Traum gearbeitet. Was uns angetrieben hat, war die Hoffnung auf ein neues gesellschaftliches Abkommen, das uns alle mit berücksichtigt.“ (…) In ihrer Rede erwähnte Quinteros auch die „sozialen Umwälzungen, die soziale und ökologische Krise von nie dagewesenem Ausmaß, die Pandemie sowie neue Kriege in der Welt“, die die Arbeit an der neuen Verfassung begleitet hatten. Weiter erklärte sie: „Wir haben den institutionellen Weg gewählt, um voranzukommen, um Balancen wiederherzustellen, um zu korrigieren, was ins Ungleichgewicht geraten ist , um Themen wieder in die Agenda aufzunehmen, die in Vergessenheit geraten waren.“ Diese nun vorliegende „erste paritätische Verfassung der Welt“ beinhalte die Überzeugungen einer breiten Mehrheit. Der vorgelegte Verfassungsentwurf ist das Ergebnis von 110 Tagen Arbeit des Konvents. Er umfasst 178 Seiten, 388 Artikel und 54 Übergangsbestimmungen. Am 4. September soll der Verfassungsentwurf dem chilenischen Volk zur Abstimmung vorgelegt und damit entschieden werden, ob die neue Verfassung angenommen oder die derzeit gültige Verfassung aus der Zeit der Pinochet-Diktatur beibehalten werden soll. Bei dieser Abstimmung besteht Wahlpflicht…“ Meldung vom 5. Juli 2022 beim Nachrichtenportal Latainamerika externer Link
  • Adiós Neoliberalismo: Zukunft verfassen. Chiles soziale Bewegungen unterstützen
    Sie ist fertig: Die Menschen in Chile haben erst gegen den Neoliberalismus revoltiert, dann haben sie sich eine neue Verfassung geschrieben. Ein Jahr lang hat ein demokratisch gewählter Verfassungskonvent die erste sozial-ökologisch-feministische Verfassung der Welt erarbeitet. Am 4. September wird in einem Referendum über ihre Annahme entschieden. Doch die Medien im Land gehören der alten Elite, die mit gezielten Falschinformationen Angst schürt, um die neue Verfassung zu verhindern. medico unterstützt soziale Initiativen und Partnerorganisationen in Chile in ihrer Kampagne für die neue Verfassung. Apruebo – Ja zum Neuanfang. Dabei brauchen wir eure Hilfe. Denn auch hier vor Ort können wir die Kampagne für eine neue Verfassung in Chile unterstützen…“ medico-Kampagne externer Link samt Veranstaltungen mit Manuela Royo vom chilenischen Verfassungskonvent
  • [Chile] Guter Kompromiss? Entwurf für die neue Verfassung vorgelegt 
    „Mitte Mai hat der chilenische Verfassungskonvent den ersten Entwurf für die neue Verfassung vorgelegt. Der Text durchläuft nun eine sogenannte Harmonisierungsphase, in die einzelnen im Verfassungskonvent beschlossenen Artikel miteinander in Einklang gebracht werden. Doch in den vergangenen Monaten hat der Verfassungskonvent in der Bevölkerung an Vertrauen verloren. Und obwohl der Entwurf moderater ausfällt als bisher angenommen, hat die politische Rechte bereits ihre Kampagne gegen den neuen Verfassungstext und die Regierung unter Gabriel Boric begonnen. Am 4. September entscheiden die Chilen*innen in einem Referendum endgültig über die neue Verfassung. Dabei haben sie zwei Optionen zur Auswahl: das Apruebo („Ja zur neuen Verfassung“ oder Rechazo („Nein“). Bekommt das Apruebo mehr als die Hälfte der Stimmen, tritt die neue Verfassung in Kraft – gewinnt das Rechazo, so bleibt die alte Verfassung aus Zeiten der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet gültig. Doch hinter beiden Wahlmöglichkeiten steckt eine lange Geschichte und mehr als ein „Ja“ oder „Nein“. (…) Die Gegner*innen des verfassunggebenden Prozesses haben sich derweil zum großen Teil auf ein Narrativ konzentriert: den Vergleich Chiles mit Venezuela. So klingt die Angstmache vor einem „Chilezuela“ aus den letzten beiden Präsidentschaftswahlen noch immer nach. Verschiedene Themen der alten Verfassung, etwa die Autonomie der Zentralbank oder die Eigentumsrechte, wurden als Vorteile des Erbes der Pinochet-Diktatur dargestellt. (…) Die unabhängigen Konventsmitglieder, die diese Fassung der Präambel verfasst haben, sind in den Medien sehr präsent und vertreten die feministischen, Umwelt- und indigenen Bewegungen des Landes. Es handelt sich um Vertreter*innen von Bewegungen, denen es gelungen ist, die Geschichte der sozialen Revolte im Oktober 2019 zu verkörpern und durch regelmäßige Mobilisierungen auf der Plaza Italia, die seitdem Plaza Dignidad („Platz der Würde“) heißt, eine starke soziale Legitimität sowie eine deutlich größere Medienpräsenz erreicht haben. Damit stehen sie für die Idee des Wandels und der Abkehr vom neoliberalen Modell, das die Politik der Militärdiktatur sowie die 30 Jahre seit der Rückkehr zur Demokratie bestimmt hat. Es gibt nichts Mächtigeres als solch eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Das Problem ist jedoch, dass sich die Zeiten ändern. Meinungsumfragen zufolge ist die Bereitschaft zur Annahme des Verfassungstextes stetig gesunken. (…) Eine demokratische Verfassung muss in der Lage sein, die marginalisierten und verlassenen Teile der Gesellschaft, die in den Demonstrationen vom Oktober 2019 zum Ausdruck kamen, aber auch diejenigen, die sich den traditionellen Identitäten des Landes zugehörig fühlen, einzubeziehen…“ Beitrag von Noam Titelman vom 5. Juni 2022 beim Nachrichtenportal Lateinamerika externer Link
  • [„feministische Regierung“] Widerstand von oben in Chile. Seit Freitag ist der linksreformerische Boric Präsident in Chile, wo der Klimawandel die Armen bereits bedroht
    „… Mit deutlicher Mehrheit siegte der ehemalige Studierendenführer und Parlamentarier [Gabriel Boric] am 19. Dezember 2021 in einer Stichwahl über den rechtsextremen Kandidaten José Antonio Kast. Damals hieß es, »die Hoffnung hat über die Angst gesiegt«. Boric trat mit einer Koalition – bestehend aus neulinken Parteien und Gruppierungen sowie der Kommunistischen Partei Chiles – an. Man versprach tief greifende Sozialreformen, eine feministische und grüne Regierung, die das Ende des chilenischen Neoliberalismus einleiten sollte. Mittlerweile prägt ein nüchternes Bild die Möglichkeiten der neuen Regierung. In ihrem Reihenhaus, mit engen Zimmern und kleinem Vorgarten, bereitet sich die 49-jährige Parlamentarierin Viviana Delgado auf ihren Einzug in den Kongress vor (…) Delgado ist Mitglied der kleinen ökologischen Partei (PEV), die zwei Sitze im Parlament ergattert hat und nicht der Regierungskoalition angehört. Sie begrüßt die neue Regierung: »Endlich wird ein starker Akzent auf Umweltthemen gesetzt.« Mit Maisa Rojas ist eine Wissenschaftlerin zur Umweltministerin ernannt worden, die an zwei Weltklimakonferenzen in Madrid und London teilgenommen hat. (…) Schon jetzt trocknen ganze Regionen aus und seit Wochen warnen Behörden und das Trinkwasserunternehmen vor möglichen Rationierungen in der Hauptstadt Santiago. Auch deshalb mahnt Delgado zum schnellen Handeln. Das Wasser müsse endlich entprivatisiert werden. Sie erklärt: »Bei uns in Maipú haben große Unternehmen eigene Quellen, wir müssen dafür sorgen, dass die Versorgung der Bevölkerung an erster Stelle kommt.« Das bedeutet, die Unternehmen zu enteignen und ihren Wasserverbrauch genauer zu kontrollieren. Delgado stockt und sagt: »Ich habe Zweifel, dass die Regierung so handeln wird.« Die soziale Herkunft vieler Regierungsmitglieder würde das verhindern, so Delgado. Sowohl Boric als auch ein Großteil der Regierungsmitglieder hat in privaten Schulen studiert und kommt aus gut situierten Haushalten. Delgado fragt: »Wer garantiert, dass sich Minister*innen gegen ihren Onkel, Cousin oder Bruder stellen werden?« (…) In Chile ist die Zugehörigkeit zur Elite noch immer eine Frage der Geburt. Und manche haben Angst, dieses Privileg zu verlieren. Schon jetzt machen Unternehmensverbände Druck auf die neue Regierung, die Reformen sollen nicht zu tief ausfallen. (…) Noch ist unklar, wie der Präsident auf den Druck reagieren wird. Am Freitag wurde erst einmal gefeiert…“ Artikel von Malte Benjamin Seiwerth vom 11. März 2022 in neues Deutschland online externer Link, siehe auch:

    • Zeitenwende in Chile: Amtseinführung von Gabriel Boric als Präsident
      Der ehemalige Studentenführer übernimmt die Regierungsgeschäfte in dem lateinamerikanischen Land. Weitreichende Reformprojekte (…) Mit der neuen Regierung sind Erwartungen an umfassende wirtschaftliche und soziale Reformen verknüpft, die aus der als „Estallido social“ weltweit bekannt gewordenen sozialen Protestbewegung gegen den chilenischen Neoliberalismus hervorgegangen sind.
      Nach der von „Mörder“-Rufen und Forderungen nach Gerechtigkeit begleiteten Verabschiedung von Ex-Präsident Sebastian Piñera wurden im Nationalkongress in der Hafenstadt Valparaíso Präsident Boric und die 14 Ministerinnen und 10 Minister seines Regierungskabinetts vereidigt. Während Mario Marcel, ehemaliger Chef der Zentralbank, den Posten des Finanzministers besetzt, übernehmen drei Frauen andere einflussreiche Ämter in der Regierung. (…) Beim Verlassen des Kongresses nahmen sich Boric und die neue „Primera Dama“, die Feministin und Akademikerin Irina Karamanos, demonstrativ Zeit für die auf sie wartende Menschenmenge, bevor sie im Hubschrauber in die Hauptstadt Santiago zurückkehrten. Im offenen Wagen wurde das Präsidentenpaar dann vom Flughafen zum Regierungspalast La Moneda chauffiert, wo sich seit dem Mittag bereits Tausende Anhänger in Volksfeststimmung versammelt hatten, um den neuen Staatschef in Empfang zu nehmen und seine Antrittsrede zu hören. Bevor Boric die Moneda betrat, machte er außerhalb des Protokolls einen kleinen Umweg, um der Statue Salvador Allendes seine Referenz zu erweisen. (…) Zwar bedeutet der Antritt der neuen Regierung das Ende der beiden politischen Blöcke Zentrum-Rechts und Zentrum-Links, die seit dem Ende der Diktatur 1990 die Regierungen stellten, jedoch hat die neue Regierung keine Mehrheit in den beiden Parlamentskammern. Wesentliche Voraussetzung für die großen sozialen und wirtschaftlichen Reformprojekte und die Lösung der gesellschaftlichen Konflikte des Landes ist daher der Verfassungskonvent, der das konstitutionelle Erbe der Pinochet-Diktatur beseitigen und bis zum Juni 2022 einen Verfassungsvorschlag vorlegen muss: „Eine Verfassung, die im Unterschied zu der, die mit Blut, Feuer und Betrug durch die Diktatur aufgezwungen wurde, in Demokratie auf paritätische Weise unter Teilhabe der indigenen Völker geboren wird. Eine Verfassung die sowohl für heute, als auch die Zukunft gelten soll“,betonte der neue Staatschef in seiner Rede…“ Beitrag von Benjamin Grasse vom 13.03.2022 in amerika21 externer Link
    • Die „feministische Regierung“ von Chiles Präsident Boric: Reiche besteuern und mehr Geld für den Sozialstaat
      Am 11. März beginnt die vierjährige Amtszeit von Gabriel Boric als chilenischer Präsident. Der 36-Jährige ist nicht nur der jüngste Präsident in der Geschichte des Landes, er ist auch jener mit den meisten Stimmen jemals. Sein Ziel: Weg von autoritärer Politik – und hin zur Ermächtigung der Bevölkerung. Obendrein will er Reiche und Konzerne besteuern, mehr Geld für Schulen, das Gesundheitssystem und höhere Löhne und Pensionen. Seine „feministische Regierung“ besteht aus 14 Frauen und 10 Männern und könnte die letzte unter der »Pinochet-Verfassung« und die Anfangsphase einer demokratischen Transformation sein…“ Artikel von Patricia Huber vom 11. März 2022 in kontrast.at externer Link
    • Große Visionen des Gabriel Boric: Er verspricht eine feministische und umweltbewusste Regierung
      „… Frauenministerin Antonia Orellana wird eng mit Boric zusammenarbeiten. Alle Ministerien sollen mit Gender-Perspektive geführt werden, kündigte sie an. Als erste Maßnahme soll ein Gesetz für das Recht auf ein Leben ohne Gewalt vorgelegt werden. „Die Frauen und Mädchen in Chile können nicht mehr länger warten“, sagte ­Orellana am Dienstag. Weiteres Ziel sei die Integration von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, die durch die Pandemie stark gesunken ist. Langfristig soll ein nationales Pflege- und Sorgesystem aufgebaut werden, um Frauen in der unbezahlten Sorgearbeit zu entlasten. „Eine feministische Regierung zu sein, bedeutet, unsere Beziehungen zu verändern und unsere Weltsicht, die zu viele Jahrhunderte lang von Männern dominiert wurde“, sagte Boric wenige Tage vor seinem Amtsantritt. Nicht nur im Hinblick auf Frauenrechte will der 36-Jährige Veränderungen anstoßen. Er will einen Sozialstaat aufbauen, der Grundrechte wie Bildung, Gesundheit und Renten absichert, die bisher in Chile wie private Konsumgüter behandelt werden und den Regeln des Marktes unterliegen. Das Budget für Kultur will Boric verdoppeln. Der Staat soll zudem Umweltschutz sowie den Zugang zu Wasser für alle Menschen garantieren. Chile leidet unter einer schweren Dürre – eine Folge des Klimawandels, die verschärft wird durch den hohen Wasserverbrauch der Agrarkonzerne, die Avocados, Trauben und Äpfel nach Europa, China und in die USA exportieren.
      Aber um das Regierungsprogramm umzusetzen, sind tiefgreifende Veränderungen im Wirtschaftsmodell Chiles notwendig, das momentan auf dem Export von Rohstoffen aus dem Bergbau wie Kupfer und Lithium sowie Agrar- und Forstwirtschaftsprodukten wie Obst und Zellulose basiert. Diese Wirtschaftssektoren sorgen für Umweltprobleme, Wassermangel und Landkonflikte mit Indigenen. Sie schaffen zudem nur wenige Arbeitsplätze und bereichern hauptsächlich Großkonzerne. Die sind es, die sich den Veränderungen vermutlich entgegenstellen werden. Chile hat mehr als 26 Freihandelsabkommen unterschrieben, die ein Problem für Boric darstellen können, da viele von ihnen festlegen, dass Konzerne den chilenischen Staat vor privaten Schiedsgerichten auf Entschädigungszahlungen in Milliardenhöhe verklagen können, wenn dieser durch politische Entscheidungen ihre Gewinne beeinträchtigt…“ Artikel von Sophia Boddenberg vom 11.3.2022 in der taz online externer Link
  • [Chile] Die soziale Bewegung und die Regierung Boric 
    Im Interview der Lateinamerika-Nachrichten Nr. 572 vom Februar 2022 analysiert der chilenische Historiker Sergio Grez externer Link den Wahlsieg des linken Gabriel Boric gegen den extrem rechten José Antonio Kast in der Stichwahl am 19. Dezember: „… Der hohe Stimmenanteil von knapp 56 Prozent und der sprunghafte Anstieg der Wahlbeteiligung vor allem in den ärmeren Schichten zeigen, dass seine [Gabriel Boric’s] Kandidatur bei einem großen Teil der Bevölkerung Hoffnung auf Veränderungen geweckt hat. Zwar gibt es darunter einen bedeutenden Prozentsatz von Linken, die ihn widerwillig gewählt haben, weil sie Boric neben der Gefahr, die von Kast ausging, für das „kleinere Übel“ hielten. Dennoch verkörpert er bis jetzt die Sehnsucht nach Wandel und der Überwindung des neoliberalen Modells. Das hat sich schon während des Wahlkampfes nicht nur in persönlichen Äußerungen, sondern auch in vielen Erklärungen sozialer Organisationen gezeigt. (…) Vieles deutet darauf hin, dass die Organisationen und Bewegungen nun einige Zeit in Erwartungshaltung verharren werden. Noch ist nicht abzusehen, ob Borics Amtsantritt ihre Mobilisierungskraft hemmen oder im Gegenteil beflügeln wird – etwa um Druck auf die neue Regierung auszuüben, ihre Wahlversprechen schnell und umfassend zu erfüllen. Die Arbeit des Verfassungs-*konvents, der in einem großen Teil des Landes ebenfalls Hoffnungen geweckt hat, könnte ähnlichen Einfluss auf das weitere Handeln der Bewegungen haben. (…) Ein Faktor, der die Basisorganisation mittelfristig fördern könnte – wenn auch stärker reguliert und kontrolliert – ist eine versprochene Reform des Streikrechts. Borics Programm zufolge sollen Streiks und Tarifverhandlungen künftig auch nach Produktionszweigen möglich sein, bisher waren nur firmeninterne Tarifverhandlungen zulässig. Diese und andere Faktoren mit noch unklaren Auswirkungen deuten auf ein komplexes und unvorhersehbares Szenario hin, insbesondere vor dem Hintergrund der anhaltenden gravierenden sozialen Probleme. Das konkrete Handeln der politischen Akteure wird also entscheidend sein. Denn nach den allgemeinen Aufforderungen an die Bewegungen, Boric bei der Wahl zu unterstützen und möglichst „keine Wellen zu schlagen“, ist die Frage aus ihrer Sicht jetzt nicht mehr, wie die Menschen Boric unterstützen werden, sondern, wie Boric ihre Kämpfe unterstützt und die Forderungen zu ihrer Zufriedenheit erfüllt…“ Siehe dazu:

    • Die zweite Halbzeit läuft – Der Verfassungskonvent arbeitet gegen die Zeit
      „Viel Zeit bleibt nicht mehr. Spätestens im Juli 2022 muss der neue Verfassungstext vorliegen, über den die chilenische Bevölkerung dann per Plebiszit abstimmen soll. Noch gibt es keine konkreten Entscheidungen, doch die ersten inhaltlichen Abstimmungen laufen bereits. Worüber wird debattiert? Und wird das Gremium die Frist einhalten können?“ Beitrag von Caroline Kassin & Martin Schäfer aus den Lateinamerika-Nachrichten Nr. 572 vom Februar 2022 externer Link – leider Abo-pflichtig!!
  • [rechtsextremer Kandidat gewinnt den ersten Wahlgang] Kampf um Chiles Zukunft 
    „… Wie konnte es passieren, dass ein rechtsextremer Kandidat und offener Unterstützer des ehemaligen Diktators Augusto Pinochet mit 27,91 Prozent der Stimmen den ersten Wahlgang gewann? Für Gabriel Boric, einen ehemaliger Anführer der Studierendenproteste von 2011 reichte es mit 25,83 Prozent nur für den zweiten Platz, obwohl Umfragen seinen Sieg vorhergesagt hatten. (…) J. A. Kast, inspiriert vom Populismus Bolsonaros und Trumps, konnte die Wahl für sich entscheiden. Zwar mangelt es seinem politischen Programm an großen Ideen, doch diese Leerstelle füllte er mit besessener Law-and-Order-Rhetorik und Hass auf Migrantinnen und Migranten. Zwei Themen wurden von Kast deshalb besonders hervorgehoben: Erstens fokussierte er sich auf den lang anhaltenden Konflikt zwischen den Mapuche und dem chilenischen Staat über Gebiete in Araucania. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen, im Zuge derer mehrere Angehörige der Mapuche ermordet oder verhaftet wurden, dominierten im letzten Jahr die Medien. Zweites Hauptthema von Kasts Wahlkampf war die wachsende Migrationskrise, die von der Regierung Piñera katastrophal gehandhabt wurde. Migrantinnen und Migranten aus Kolumbien, Venezuela und Haiti werden dazu gezwungen, auf öffentlichen Plätze und Stränden ohne sanitäre Anlagen zu wohnen und müssen versuchen, irgendwie selbständig an Nahrungsmittel und Arbeit zu gelangen – und das alles im ungleichsten Land in der gesamten Region. Kasts christlicher Hintergrund macht ihn bei Abtreibungsgenerinnen und Evangelikalen beliebt, welche den wachsenden urbanen Liberalismus verteufeln und einen ländlichen Lebensstil sowie ein traditionelles Familienbild propagieren. (…) Die einfache Formel des Rechtspopulismus konnte viele für sich gewinnen, welche zu anfangs Hoffnungen in den linken Transformationsprozess unter der Führung von Boric gesetzt hatten. Doch genau hier liegt das Problem. Bei den sozialen Protesten wurde massenhaft Unzufriedenheit mit dem Establishment mobilisiert, was zu Unruhen und Gewalt in den Städten führte. Dank der medialen Berichterstattung der Proteste gelang es Kast, eine moralische Panik auszulösen, welche die Gewalt mit Sündenböcken wie Terroristen, Kommunisten und Migranten in Zusammenhang brachte. Kast konzentrierte sich auf den Ruf nach gesellschaftlichem Frieden, der in seiner Vorstellung allerdings auf staatlicher und familiärer Autorität basiert – ein zutiefst reaktionäres Programm. (…) Für uns außenstehende Beobachterinnen und Beobachter bleibt zu hoffen, dass die chilenische Linke nicht den gleichen Fehler wie die brasilianische Linke mit ihrer Kampagne »Ele Não« (»Der nicht!«) begeht, die sich ausschließlich auf das Image und die persönliche Geschichte von Bolsonaro bezog, ohne die tieferen Gründe für seinen Erfolg zu adressieren. (…) Die Ängste der Menschen direkt anzusprechen, könnte die einzige Lösung sein. Denn für Defätismus bleibt keine Zeit, wenn die Barbarei direkt vor der Tür steht.“ Analyse von Melany Cruz am 2. Dezember 2021 in Jacobin.de externer Link in der Übersetzung von Alexander Brentler
  • [Chile] Welche Hoffnungen knüpft die Linke an den Verfassungskonvent?
    „… Welche Bedeutung hat der Verfassungskonvent, und was hat er mit der rebellischen kämpferischen Atmosphäre zu tun, die immer noch auf den Straßen zu spüren ist? Um einen Einblick in die aktuellen Entwicklungen zu bekommen, sprach Radio Matraca mit verschiedenen Akteur*innen aus dem Umfeld des Konvents und mit Aktivist*innen der historischen Kämpfe, die die Aufbruchssituation überhaupt erst möglich gemacht haben. „Die Menschen wollen mitmachen, sie wollen einbezogen werden, sie wollen die Kontrolle über das, was passiert“, meint Doris González. Sie leitet die Organisation Ukamau, die sich für das Recht auf Wohnen und das Recht auf Stadt einsetzt. (…) Natürlich gibt es auch innerhalb der Linken abweichende Positionen, auch hinsichtlich des Verfassungskonvents. Kritiker*innen betrachten die Idee des Konvents als Ausweg, der die Energie des Volksaufstands zwar aufgreift, sie aber nicht hinreichend zusammenbringt. Dazu der in Berlin lebende Exilpolitiker Orlando Mardones: „Der Grundstein für den Verfassungskonvent wurde am 15. November gelegt: Die Bevölkerung wollte die Verhältnisse, so wie sie waren, nicht mehr hinnehmen. Ihre Selbstermächtigung brachte die politische Elite und die Regierung des Landes so zur Verzweiflung, dass sie sich verbündeten, um diesem „grausamen und unerbittlichen Feind“, wie unser Präsident die sozialen Bewegungen nannte, mit einem Abkommen entgegenzutreten, an dem dieser Feind nicht beteiligt sein sollte, obwohl er doch ein legitimer Gegenspieler war.“ Emiliano Salvo, Historiker und Berater des Verfassungskonvents, ist anderer Meinung: „In Chile gehen Veränderungsprozesse ihren ganz eigenen Weg. In den siebziger Jahren zur Zeit der Unidad Popular waren die Augen der ganzen Welt auf Chile gerichtet. Man war gespannt, wie sich das Experiment der sozialistischen Transformation durch eine demokratische Wahl entwickeln würde. Was heute in Chile passiert, ist etwas ganz Besonderes. Dieses Land drohte in einer Krise zu versinken, aus der es scheinbar keinen Ausweg gab. Doch irgendwie haben wir es geschafft, eine demokratische Lösung zu finden, und das ist der Verfassungskonvent. (…) Was tun? Unnachgiebig bleiben, nichts für gut befinden und am Ende verlieren? Oder eine Zukunft gestalten, in der Gerechtigkeit und gegenseitiger Respekt ihren festen Platz haben? Der Verfassungskonvent mag nicht perfekt sein, aber er ist ein greifbares und konkretes Ergebnis des Volksaufstands. Seine Arbeit besteht darin, die Spielregeln festzulegen für eine Zukunft, die der Rettung der menschlichen Spezies mehr Bedeutung beimisst als den Machtimperien. Ob dieser Weg der richtige ist, muss sich noch zeigen. Auch wie die Stichwahl am 19. Dezember ausgeht, ist heute nicht abzusehen. Fest steht hingegen, dass die verfassungsgebende Versammlung die Unterstützung der traditionellen progressiven Sektoren UND der neuen Aktivist*innen des estallido social gut gebrauchen kann. Auch um den Vormarsch der rechtsextremen konservativen Kräfte zu stoppen, ist die Bündelung aller progressiven Kräfte die wirksamste Strategie. Nur durch entschlossene Gegenwehr kann verhindert werden, dass die Ultrarechten die neue Regierung stellen.“ Analyse vom 25. November 2021 vom und beim Nachrichtenportal Lateinamerika externer Link
  • Ende des Neoliberalismus? Der Verfassungsprozess in Chile 
    „… Der 4. Juli 2021 war ein historischer Tag für Chile. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes trat eine vom Volk gewählte verfassunggebende Versammlung zusammen, um innerhalb des nächsten Jahres eine neue Verfassung auszuarbeiten. Alle bisherigen Verfassungen wurden immer in kleinen elitären Zirkeln erarbeitet und vom Militär durchgesetzt. Die aktuelle Verfassung von 1980 stammt aus der Zeit der Militärdiktatur und zählt zum dauerhaftesten Erbe des Pinochetregimes. Sie wird – zurecht – dafür verantwortlich gemacht, dass Chile immer noch eines der neoliberalsten Länder der Welt ist, in dem essentielle Grundrechte wie der Zugang zu Bildung, Gesundheit oder Wasser privatisiert und zu auf dem Markt verhandelbaren Gütern geworden sind. Diese Verfassung der Diktatur ist einer der wichtigsten Gründe, warum Chile zu den am stärksten von Ungleichheit geprägten Ländern der Welt zählt. Die Mitglieder der aktuellen verfassunggebenden Versammlung haben jetzt die Chance, sie durch eine moderne, sozial gerechtere Verfassung zu ersetzen. (…) Dass es zu dieser Chance gekommen ist, verdankt das Land den sozialen Aufständen von Oktober 2019 und dem darauffolgenden demokratischen Wahlprozess, in dem sich die Bevölkerung mit großer Mehrheit gegen eine Fortsetzung des Neoliberalismus ausgesprochen hat. Um die Aufstände zu beenden, hatten sich fast alle politischen Parteien noch im November 2019 darauf geeinigt, ein Plebiszit über eine neue Verfassung abzuhalten, allerdings mit dem Zusatz, dass in der verfassunggebenden Versammlung der neue Text mit zwei Dritteln der Stimmen angenommen werden muss. Dadurch hatte sich die Rechte, so glaubte man, eine Sperrminorität erhalten, über die sie weitreichende Änderungen blockieren könnte, denn bis dahin hatten die rechten Parteien bei allen Wahlen immer mindestens ein Drittel der Stimmen erhalten. Im Oktober 2020 stimmten dann fast 80 % der ChilenInnen für eine neue Verfassung und für eine demokratisch gewählte verfassunggebenden Versammlung. (…) Die Wahl zeigte also, dass die ChilenInnen endgültig genug haben vom neoliberalen System, welches in der Diktatur errichtet wurde und auch die letzten 30 Jahre Demokratie kaum einschneidende Veränderungen erfahren hat. (…) Chile, wo der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus Ende der 1970er Jahre unter der Pinochetdiktatur begonnen hatte, könnte diesmal der Vorreiter für die Überwindung dieses ungerechten wirtschafts- und sozialpolitischen Systems sein.“ Artikel von Stephan Ruderer vom 7. September 2021 in der Graswurzelrevolution 461 vom September externer Link
  • Große Hoffnungen der Gewerkschaften bei der Neufassung der arbeitnehmerfeindlichen Verfassung in Chile 
    „… Warum sind die Chilenen so scharf darauf, ihre Verfassung zu ändern? Die derzeitige Verfassung hat, wie jeder chilenische Gewerkschaftsaktivist bestätigen wird, einige ernsthafte Probleme, wenn es um soziale und wirtschaftliche Rechte geht, um es gelinde auszudrücken. Sie wurde von rücksichtslos arbeiterfeindlichen neoliberalen Intellektuellen aus der Pinochet-Diktatur geschrieben und verankert die Idee, dass öffentliche Dienstleistungen und soziale Grundrechte dem Markt und privaten Interessen untergeordnet sind. Eine neue Verfassung könnte daher den Weg für eine radikale Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft ebnen. (…) „Das Wichtigste ist, dass diejenigen, die gewählt haben, erwarten, dass dieser große Prozess uns aus dem Elend herausführt, in dem uns die Regierungsparteien seit der Diktatur gehalten haben“, sagte Claudio Sagardias, der Präsident des Gewerkschaftsbundes der Handelsangestellten, der die Beschäftigten des Einzelhandels und der Lebensmittelgeschäfte vertritt. (…) Was die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer betrifft, so sollten wir zunächst das Offensichtliche feststellen. Die privatisierten und wirtschaftlich segregierten Renten-, Bildungs- und Gesundheitssysteme sind vorbei – es ist unwahrscheinlich, dass es eine Zweidrittelmehrheit geben wird, die bereit ist, für die Beibehaltung der Art und Weise zu stimmen, in der diese Sozialprogramme heute funktionieren – die Delegierten haben ein klares Mandat und die Zahlen, um weitreichende Änderungen in diesen Bereichen umzusetzen. Weniger klar ist, was mit den Gewerkschaften und den Rechten der Arbeitnehmer geschehen wird. Die derzeitige Verfassung und das Rechtssystem stehen der Bildung mächtiger Mehrheitsgewerkschaften äußerst feindlich gegenüber. Das vielleicht eklatanteste Beispiel ist die Verankerung der „Gewerkschaftsfreiheit“ als konzeptioneller Rahmen, in dem das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung verstanden wird. Dies bedeutet, dass die Gründung einer Gewerkschaft eine individuelle Entscheidung und kein kollektives Recht ist, was wiederum garantiert, dass jeder Arbeitnehmer einer Gewerkschaft beitreten und sie verlassen kann, wann immer er will. Ähnlich wie die Auswirkungen der „Right-to-Work“-Gesetze in den Vereinigten Staaten hat es die „Gewerkschaftsfreiheit“ den Arbeitgebern sehr leicht gemacht, Anreize zu schaffen und Druck auf die Beschäftigten auszuüben, damit sie aus den Gewerkschaften austreten, und es den Gewerkschaftsorganisationen sehr schwer gemacht, ihre Mitgliederzahl und ihre Macht zu erhalten oder auszubauen. Zweitens sind die Gewerkschaften durch die Verfassung an einen bestimmten Arbeitgeber gebunden. Nach chilenischem Recht kann ein Arbeitgeber jeden seiner Betriebe zu einer eigenen juristischen Person machen. Das bedeutet, dass die Gewerkschaften auf einen Betrieb beschränkt sein können und nicht berechtigt sind, andere Betriebe zu vertreten oder im Namen anderer Betriebe zu verhandeln, selbst wenn diese von demselben Unternehmen geführt werden. Es gibt noch viele weitere Beispiele dafür, wie der von der Diktatur geschaffene Rechtsrahmen die Gewerkschaften daran hindert, Macht auszuüben. Infolgedessen sind viele, wenn nicht sogar die meisten Gewerkschaften in Chile zersplittert, schwach und kurzlebig. Als eine progressive Regierung kürzlich versuchte, ein Arbeitsgesetz zu verabschieden, das die Gewerkschaften erheblich gestärkt hätte, wurde es für verfassungswidrig erklärt. So wie die derzeitige Verfassung die potenzielle Macht der chilenischen Arbeitnehmer drastisch einschränkt, könnte eine neue Verfassung die Tür für eine radikale Umgestaltung der Arbeiterbewegung und eine größere Verhandlungsmacht der chilenischen Arbeiterklasse öffnen: Sie könnte das Streikrecht zu einem Grundrecht für alle Arbeitnehmer erklären. Sie könnte das Recht auf Beschäftigung als Grundrecht verankern und allen Arbeitnehmern in der Privatwirtschaft einen Schutz aus triftigen Gründen gewähren. Es könnte festlegen, dass die Gewerkschaften die einzigen Vertretungsorgane am Arbeitsplatz sind (im Gegensatz zum derzeitigen Modell, das es den Arbeitgebern ermöglicht, konkurrierende, unternehmensfreundliche „Gewerkschaften“ zu gründen, die die Verhandlungsmacht der tatsächlichen unabhängigen Gewerkschaften untergraben). Sie könnte das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung als unverzichtbar und unveräußerlich festschreiben. Schließlich könnte sie sektorale Tarifverhandlungen für alle Branchen einführen und damit die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer radikal stärken. Dies würde es ihnen ermöglichen, mit allen Arbeitnehmern in ihrer Branche gemeinsam zu verhandeln, und zwar in viel größerer Zahl und daher mit viel größerem Einfluss. Jeder dieser Punkte für sich genommen würde die Möglichkeiten zur gewerkschaftlichen Organisierung der Beschäftigten in Chile grundlegend verbessern. Alle zusammen könnten Chile zu einem Leuchtturm der Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte für die gesamte Region machen. Unbestreitbar ist, dass dieser Kampf erst am Anfang steht, und die chilenischen Arbeitnehmer und Gewerkschaften müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass diese Chance Wirklichkeit wird.“ Zusammenfassende Übersetzung des umfangreichen Artikels „Union Hopes High as Chileans Rewrite Anti-Labor Constitution“ von Yoel Bitran am 27.7.2021 bei LaborNotes externer Link – Yoel Bitran ist Organizer bei Global Labor Justice – Internationales Forum für Arbeitnehmerrechte mit Sitz in Santiago, Chile.
  • Verfassungskonvent in Chile wählt Indigene zur Vorsitzenden
    Sprachlehrerin Elisa Loncón steht dem Gremium vor / Ausarbeitung einer neuen Verfassung soll maximal ein Jahr dauern, In Chile hat die verfassungsgebende Versammlung ihre Arbeit aufgenommen und eine Vertreterin des Volkes der Mapuche zur Vorsitzenden gewählt. Die Sprachlehrerin Elisa Loncón wurde mit 96 von 155 Stimmen zur Vorsitzenden bestimmt, wie die Tageszeitung »La Nación« am Sonntag (Ortszeit) berichtete. »Ich möchte allen dafür danken, dass sie eine Mapuche und eine Frau gewählt haben, um die Geschichte dieses Landes zu verändern«, sagte Loncón in ihrer ersten Rede nach der Wahl, die sie auf Mapudungun, der Sprache der Mapuche, und auf Spanisch hielt. »Dieser Konvent wird Chile in ein plurinationales Chile, in ein interkulturelles Chile verwandeln.« Auch der ebenfalls gewählte Vize-Präsident Jaime Bassa, ein unabhängiger Anwalt, steht für eine neue Politik in dem südamerikanischen Land...“ Meldung vom 05.07.2021 im ND online externer Link
  • Chile nach den Protesten: Adiós Neoliberalismo
    Am 4. Juli tagt in Chile erstmals die Versammlung, die eine neue Verfassung ausarbeiten wird. Sie will dem Erbe der Pinochet-Diktatur ein Ende setzen. Von der Plaza de la Dignidad zum Verfassungskonvent – so lautet das Motto des Protestmarschs an diesem Sonntag in Chiles Hauptstadt Santiago. Dazu aufgerufen hat die „Lista del Puebloexterner Link, eine Gruppe von Parteiunabhängigen und Ver­tre­te­r*in­nen sozialer Bewegungen, die Teil des Verfassungskonvents sind. Der wird ebenfalls am Sonntag zum ersten Mal zusammenkommen, um in den kommenden Monaten ein neues Grundgesetz auszuarbeiten. (…) Mehr als die Hälfte der 155 Mitglieder sind Parteiunabhängige, die sozialen Bewegungen und Organisationen angehören: der feministischen Bewegung externer Link, regionalen Umweltbewegungen und Nachbarschaftsversammlungen. „Wir sind eine Alternative zu den politischen Parteien, die jahrelang vom Wirtschaftssystem profitiert haben, das aus der Zeit der Diktatur stammt“, sagt Elsa Labraña. Sie ist Mitglied eines feministischen Kollektivs und mehrerer Umweltschutzorganisationen. (…) Die parteiunabhängige Lista del Pueblo („Liste des Volkes“), zu der Labraña gehört, erhielt bei den Wahlen im Mai 27 Sitze im Verfassungskonvent. Weil sich landesweit parteiunabhängige Kan­di­da­t*in­nen zu dieser Liste zusammenschlossen, hatten sie eine Chance gegen die traditionellen Parteien, die vom Wahlsystem profitieren. Die rechten Regierungsparteien erreichten das von ihnen erhoffte Drittel der Sitze nicht, mit dem sie Veränderungen hätten blockieren können. (…) „Der Verfassungskonvent hat eindeutig eine linke Tendenz und es ist zu erwarten, dass er eine anti-neoliberale Agenda haben wird“, sagt Claudia Heiss, Politikwissenschaftlerin an der Universidad de Chile. „Es ist außerdem zu erwarten, dass die öffentlichen Institutionen und die Rolle des Staats gestärkt werden, hin zu einem Sozialstaat als Gegenposition zum neoliberalen Staat, den die Verfassung von 1980 garantiert.“ (…) „Wir wollen, dass das ganze Land am verfassungsgebenden Prozess teilnimmt, nicht nur die 155 Mitglieder des Konvents. Der Regierung ist das aber egal“, sagt Elsa Labraña. „Es sind keine Maßnahmen zur Bürgerbeteiligung vorgesehen. Wir organisieren deshalb selbst basisdemokratische Treffen.“…“ Artikel von Sophia Boddenberg vom 3.7.2021 in der taz online externer Link
  • „Stimme der Völker“: Neuer linker Akteur beim Verfassungsprozess in Chile 
    „34 Mitglieder des gewählten chilenischen Verfassungskonvents haben die Plattform „Stimme der Völker“ (Vocería de los Pueblos) gegründet. Die Initiative geht mehrheitlich auf Vertreter:innen der „Volksliste“ (Lista del pueblo) zurück, die bei der Wahl des Konvents im Mai 26 Sitze gewann. Aber auch unabhängige Kandidat:innen sowie gewählte Vertreter:innen der indigenen Völker schlossen sich der Initiative an. (…) Das gute Abschneiden der „Volksliste“ bei den Wahlen zeigt das Gewicht, das Vertreter:innen der sozialen Bewegungen zunehmend in der politischen Landschaft Chiles zukommen könnte. Die Vereinigung der Vertreter:innen, die sich nun unter dem Namen „Stimmer der Völker“ wiederfinden, sei, so Alondra Carillo, gewähltes Mitglied im Verfassungskonvent, keine Überraschung, sondern Ausdruck einer Arbeit, die die Basisbewegungen und indigenen Völker lange vor den Wahlen zum Konvent begonnen hätten. (…) Die Mitte Juni geschaffene Plattform „Stimme der Völker“ will innerhalb des Verfassungskonvents auf einen tiefgreifenden Wandel des chilenischen Modells hinwirken und sich – laut einem mittlerweile von 38 Vertreter:innen unterschriebenen Aufruf – gleichzeitig als Repräsentantin der sozialen Bewegungen behaupten. Die Plattform tritt schon jetzt auch als politischer Akteur auf. So fordert sie in einer ersten Presseerklärung die Freiheit für alle politische Gefangenen, Gerechtigkeit bezüglich der Menschenrechtsverletzungen im Zuge der Proteste seit Ende 2019 sowie Entschädigungen für die Opfer staatlicher Gewalt, ein Ende der ökologischen Zerstörung sowie die Entmilitarisierung der indigen geprägten Region der Araucanía im Süden des Landes…“ Beitrag von Jakob Graf vom 28. Juni 2021 bei amerika21 externer Link
  • 30 Pesos. Chilenisches Tagebuch
    Es begann mit einem Aufstand, nun bekommt Chile eine neue Verfassung. Wird der Neoliberalismus an einer seiner Geburtsstätten überwunden? Im Chilenischen Tagebuch berichten Pierina Ferretti und das Kollektiv Nodo XXI von den Entwicklungen rund um den verfassungsgebenden Prozess…“ Chilenisches Tagebuch externer Link in mehreren, fortzuführenden Folgen bei medico international , siehe auch das Editorial vom 17.6.21 „Götterdämmerung des Neoliberalismus?“ von Katja Maurer und Mario Neumann externer Link
  • Wahl des Verfassungskonvents: Historische Niederlage der Rechten / Das Ende der neoliberalen Verfassung 
    Am 15. und 16. Mai fand die Wahl der 155 Personen statt, die mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung betraut werden sollen. Das neue Verfassungsdokument soll die während der Diktatur von Augusto Pinochet verabschiedete und seit 1980 geltende Verfassung ersetzen. Außerdem mussten 354 Bürgermeister*innen, 2.252 Stadträt*innen und die Gouverneur*innen der 16 Regionen des Landes bestimmt werden. (…) Wie die chilenische Wahlbehörde nach Auszählung von 96,2 Prozent der Stimmen mitteilte, erhielt die regierende Rechtskoalition Vamos por Chile 37 Sitze, gefolgt vom Linksbündnis Apruebo Dignidad (Parteien der Frente Amplio und Partido Comunista) mit 28 Sitzen, die Liste Apruebo (die Parteien des ehemaligen Parteibündnisses Democracia Cristiana, Partido Socialista, Partido por la Democracia und Partido Radical) erhielt 25 Sitze. Die unabhängigen Kandidat*innen konnten 65 Sitze für sich behaupten. Für die Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien, deren Stimmanteil normalerweise bei etwa 30 Prozent liegt, ist das Ergebnis ist eine historische Niederlage, während Linke und die Unabhängige den Wahlausgang als Triumph betrachten. Dass sie einen entscheidenden Einfluss auf die Ausarbeitung der neuen Verfassung haben werden, steht nun fest…“ Beitrag vom 17. Mai 2021 beim Nachrichtenpool Lateinamerika externer Link, siehe auch:

    • Wahlen in Chile: Das Ende der neoliberalen Verfassung
      Chilen:innen bestimmen Mitglieder einer verfassunggebenden Versammlung. Gleichzeitig finden Kommunal- und Regionalwahlen statt. Zwei Wahltage wegen Corona-Sicherheitsmaßnahmen angesetzt (…) In der Santiagoer Gemeinde San Miguel tritt die Basisorganisation La Minga mit einem eigenen Bürgermeisterkandidaten an. Im Gespräch mit amerika21 sagt der Kandidat Danilo Panes: „Nach sechs Jahren der politischen Arbeit auf lokaler Ebene, mit kulturellen Aktivitäten, den Kampf um Sozialwohnungen und solidarischen Aktionen, haben wir beschlossen diesen Weg zu gehen“. Den Basisorganisationen geht es darum, den Wandel, der durch den verfassunggebenden Prozess vorangetrieben wird, auf lokaler Ebene fortzusetzen. „Unsere Aufgabe ist es, die lokale Verwaltung zu übernehmen, um von hier aus den gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozess voranzutreiben“, erklärt Panes. Unabhängig vom Ergebnis liegt das Ziel von La Minga darin, ihre politischen Ideen zu verbreiten, um die kommenden vier Jahre maßgebend zu prägen. Die verfassunggebende Versammlung ist der bislang einzige sichtbare Erfolg der Revolte von 2019. Zum ersten Mal weltweit wird ein genderparitärer Verfassungskonvent mit 17 reservierten Plätzen für Indigene eine neue Verfassung schreiben. Ziel der linken Parteien und Bewegungen ist es, das neoliberale Erbe der Militärdiktatur hinter sich zu lassen und soziale Grundrechte in der Konstitution zu verankern…“ Artikel von Malte Seiwerth, Santiago de Chile, vom 16.05.2021 bei amerika21 externer Link
  • Die Kandidaturen für die verfassungsgebende Versammlung in Chile stehen fest: Nur die Rechte marschiert einig – und wer da alles „unabhängig“ sein will…
    „… 2.230 parteiunabhängige Kandidat:innen haben sich für die Wahl der 155 Plätze des Verfassungskonvents in Chile am 11. April registriert. Bis zum 11. Januar hatten sie Zeit, die notwendigen Unterschriften zu sammeln und sich in Listen zusammenzuschließen. Insgesamt hatten sich über 22.000 vorläufige Kandidat:innen im ganzen Land eingeschrieben. Ende Oktober 2020 hatten bei einem Referendum knapp 80 Prozent dafür gestimmt, dass eine neue Verfassung von einer zu 100 Prozent aus gewählten Bürger:innen zusammengesetzten verfassunggebenden Versammlung ausgearbeitet werden soll. In der Hauptstadt Santiago, in der mehr als etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung Chiles lebt, haben soziale Bewegungen und Nachbarschaftsversammlungen gemeinsame Listen aufgestellt. (…) Die Coordinadora Feminista 8 de Marzo konnte für ihre drei Kandidatinnen mehr als 22.000 Unterschriften sammeln. In Anlehnung an den Beginn der Revolte in Chile am 18. Oktober 2019, als Schüler:innen im Protest gegen eine Fahrpreiserhöhung gemeinsam über die Drehkreuze der Metro sprangen, sagte Karina Nohales nach der Registrierung der Liste: “Wir rufen dazu auf, alle Drehkreuze dieses Prozesses zu überspringen, unseren eigenen Kräften zu vertrauen. Wir rufen dazu auf, diesen Prozess autonom zu gestalten, unabhängig von den politischen Parteien, die 30 Jahre lang den Neoliberalismus verwaltet haben.” Sie machte außerdem deutlich, dass die sozialen Organisationen keine Finanzierung für ihre Kampagnen erhalten und nicht von den großen Medienhäusern unterstützt werden…“ – aus dem Bericht „In Chile stehen die Kandidat:innen für den Verfassungskonvent fest“ von Sophia Boddenberg am 19. Januar 2021 bei amerika21.de externer Link über die als unabhängig proklamierten Kandidaturen. Siehe dazu drei weitere aktuelle Beiträge, die dazu beitragen, die verschiedenen Kandidaturen genauer zu verstehen sowie den Hinweis auf unseren bisher letzten Beitrag zum Kampf um eine neue Verfassung in Chile:

    • „Rechte vereint“ von Frederic Schnatterer am 14. Januar 2021 in der jungen welt externer Link hatte unter anderem hervor gehoben: „… In Chile stehen drei Monate vor der Abstimmung die Kandidaten für den Verfassungskonvent fest. Am Dienstag (Ortszeit) informierte die Wahlbehörde Servicio Electoral de Chile (Servel) in einer Mitteilung, dass sich am 11. April mehr als 3.500 Personen um die insgesamt 155 Mandate in dem Organ bewerben werden. Etwas mehr als 2.000 davon seien »Unabhängige«, also nicht Mitglieder politischer Parteien. (…) Die politische Rechte wird am 11. April vereint mit der Liste »Vamos por Chile« zur Abstimmung antreten. In dieser haben sich unter anderem Vertreter der Regierung von Sebastián Piñera mit der Republikanischen Partei von Antonio Kast zusammengetan. Kast gilt als ausgewiesener Anhänger des ehemaligen Diktators Pinochet und arbeitet mit erklärten Faschisten zusammen. Die Opposition wird hingegen gespalten zur Wahl antreten. Am relevantesten dürfte einerseits die »Lista del Apruebo« werden, der sozialdemokratische Parteien rund um das Mitte-links-Bündnis »Concertación« angehören. Auf der anderen Seite hat sich eine Koalition mehrerer linker Kräfte wie dem Frente Amplio sowie der Kommunistischen Partei in der Liste »Chile Digno« zusammengefunden. Am Montag erklärte der KP-Vorsitzende Guillermo Teillier gegenüber der Presse, »Chile Digno« repräsentiere »die Forderungen des Aufstands sowie derjenigen, die sich für eine neue Verfassung und ein neues Entwicklungsmodell aussprechen« – eine »auf Veränderung setzende und antineoliberale Liste«. Zwar habe man anfangs auch das Ziel verfolgt, sich auf eine einzige Liste links von der Regierung zu einigen, das sei jedoch aufgrund von Meinungsverschiedenheiten nicht möglich gewesen. Die Zersplitterung der Linken bei gleichzeitiger Einheit der Rechten birgt nach Ansicht von Analysten die Gefahr, dass letztere überproportional stark aus der Wahl am 11. April hervorgehen könnte. Entscheidungen müssen im Verfassungskonvent mit einer Zweidrittelmehrheit gefällt werden. Die Ausarbeitung eines grundlegend anderen Grundgesetzes wird so noch unwahrscheinlicher...“
    • „Chile. Candidatos constitucionales: Ni independientes ni neutrales ni autoproclamados“ von Ricardo Cares am 17. Januar 2021 bei kaosenlared externer Link ist ein Beitrag, der sich genauer mit den unabhängigen Kandidaturen befasst. Und dabei sich von der Frage leiten lässt, wie genau die jeweiligen Kandidaturen zustande gekommen seien – wobei es solche gäbe, die eben in Nachbarschaftsversammlungen nach breiten Debatten beschlossen worden seien, aber eben vor allem nach den diversen Ausgangsbeschränkungen usw. auch viele, mehrheitlich, solche, bei denen sich bekannte VertreterInnen auch der sogenannten staatstragenden Opposition das Label „unabhängig“ angemaßt hätten, inklusive KandidatInnen, die etwa dem früheren Concertacion-Regierungsbündnis angehörten oder der Frente Amplio, die ja ihrerseits auch gegen jene „auf der Straße“ Stellung genommen habe, die den wahren Kampf geführt hätten und weiterhin führen würden, und dies auch künftig, wenn eine neue bürgerliche Verfassung gelte. Im konkreten Augenblick aber sei das, was die ganze Zeit eine Stärke der Bewegung gewesen sei, nämlich ihre lokale Unabhängigkeit gegenüber dem Aufmarsch der Parteien eine Schwäche geworden…
    • „Chile: Partidos e independientes llenan la escena política de candidatos a constituyentes, municipios, etc. Veamos la propuesta de municipio autónomo de Putaendo“ am 11. Januar 2021 bei Clajadep-LaHaine externer Link steht hier als Beispiel für eine ganze Reihe von Berichten (auf die zumindest teilweise auch verlinkt wird) über das Zustandekommen alternativer Kandidaturen für Nachbarschaften, die sich ihre eigenen künftigen Grundbedingungen geben wollen – und dafür beispielsweise alle nicht berücksichtigen, die bisher als RepräsentantInnen politischer Parteien bekannt waren oder sind…
  • „Chile stimmt mit überwältigender Mehrheit dafür, Pinochets Verfassung zu begraben: Wie geht es weiter?“ am 26. Oktober 2020 bei Klasse gegen Klasse externer Link ist die Übersetzung eines Beitrags aus La Izquierda Diario worin – unter anderem – zu Vorgeschichte, Grenzen und Absichten des Referendums erinnert bzw. zusammen gefasst wird: „… Dieses Plebiszit ging aus dem so genannten „Abkommen für Frieden und eine neue Verfassung“ hervor, das vom Parlament im Einvernehmen mit der Regierung von Sebastian Pinera am 15. November 2019 verabschiedet wurde. Das Abkommen wurde als „parlamentarische Küche“ bekannt, weil die Menschen sahen, wie im Kongress verhandelt wurde, während die Straßen in Flammen standen. Es fand inmitten der sozialen Explosion statt, die am 18. Oktober aufgrund steigender U-Bahn-Preise während der Hauptverkehrszeit begann, die aber schnell den Angriff auf die Grundpfeiler des chilenischen Neoliberalismus zum Hauptmotto machte. Mit dem Slogan „Es geht nicht um 30 Pesos (der Erhöhung), sondern um 30 Jahre (des Neoliberalismus)“ stellten sie unter anderem die privatisierte Bildung und Gesundheit, die Prekarität der Arbeit und die Repression in Frage.  Diese „parlamentarische Küche“, an der die rechten Parteien und die Vertreter:innen der Mitte-Linken und des Neo-Reformismus wie die Kommunistische Partei und die Frente Amplio („Breite Front“) teilnahmen, hatte das Ziel, die Krise zu „kanalisieren“ und die Straßenproteste in einen verfassungsgebenden Prozess umzuleiten, der viele Beschränkungen in Bezug auf die Art und Weise, wie über tiefgreifende Veränderungen entschieden werden sollte, aufweist. Die neue Verfassung und ihre Regeln müssen von „zwei Dritteln“ gebilligt werden, was bedeutet, dass eine neoliberale und klassisch rechte Minderheit ihr Veto gegen jede wichtige Reform durchsetzen kann; außerdem dürfen internationale Verträge nicht angetastet werden, die in ihrer großen Mehrheit die nationale Ausplünderung durch große multinationale Konzerne in Bereichen vom Bergbau bis zur Rentenversicherung zulassen; junge Menschen unter 18 Jahren, also diejenigen, die die enorme Massenrebellion, die das Land durchlebt hat, initiiert haben, werden nicht wählen oder gewählt werden können; Gewerkschaftsführer:innen oder Anführer:innen sozialer Organismen werden nicht kandidieren können, ohne auf diese Rolle zu verzichten. Außerdem wird der Verfassungskonvent nach den Regeln des derzeitigen parlamentarischen Wahlsystems gewählt, was den großen Parteien der Bosse zugute kommt…“
  • „Diese Kräfte wollen eine neue Verfassung in Chile verhindern“ von Harald Neuber am 26. Oktober 2020 bei telepolis externer Link zu keineswegs begeisterten Reaktionen auf das Ergebnis unter anderem: „… Präsident Piñera, der am Sonntagabend von einem „Sieg der Demokratie“ sprach, hatte alles versucht, das Vorhaben zu vereiteln. Schon mit seiner Rede in Santiago de Chile am Sonntagabend sorgte er für erneute Kritik, als er sagte, dass „eine Verfassung nie von neuem aus der Taufe gehoben wird, weil sie einen Kompromiss der Generationen darstellen muss“. Sie müsse „auch das Erbe der vorherigen Generationen enthalten“, so der rechtskonservative Politiker, in dessen Kabinett sich mehrere Fürsprecher der Pinochet-Diktatur befinden. Piñera trat damit direkt einem zentralen Aspekt des Referendums entgegen, der als „hoja en blanco“ (weiße Seite) bezeichnet wurde: Dass die neue Verfassung komplett neu verfasst und die alte Verfassung nicht nur umgeschrieben wird. Für Kritik sorgte Piñera, der in Umfragen zuletzt nur noch zwischen 16 Prozent und 24 Prozent Zustimmung lag, auch mit der Bemerkung, Chile habe in den vergangenen Monaten „wirklich schwierige Zeiten durchmachen müssen“. Ein Grund dafür sei vor allem „die Welle der Gewalt und Zerstörung, die der chilenischen Gesellschaft so viel Schaden zugefügt hat“, so Piñera mit Blick auf die Proteste, ohne aber auf die selbst von der UNO harsch kritisierte Polizeigewalt einzugehen. Den politischen Tunnelblick hat Piñera mit dem Auswärtigen Amt in Berlin gemein, das heute von einem „guten Tag für die Demokratie in Lateinamerika“ sprach. Die Bundesregierung aber hatte in den vergangenen Jahren den Export von Reizgas und Polizeiausrüstung nach Chile ermöglicht und auf dem Höhepunkt der Polizeigewalt gegen die Bewegung für eine Verfassungsreform im Dezember 2019 und Januar dieses Jahres Bundes- und Landespolizisten nach Santiago de Chile entsandt, um eine Polizeikooperation zu prüfen und die Ausbildung von V-Leuten zu unterstützen“.
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=180401
nach oben