Guter Zeitpunkt für Streiks. Wegen Personalmangel vor Kollaps: Deutsche Flughäfen hoffen auf Bundespolizei und türkische Arbeiter

Dossier

Kundgebung der WISAG-Arbeiter am Rhein-Main Airport am 17.Dezember 2020 gegen EntlassungFlugscham war gestern, die deutschen Luftdrehkreuze stehen vor einem Ansturm von Passagieren. Das für die Abfertigung nötige Personal aber wurde in der Krise entlassen. Manch Reise werde »mit Verzögerungen und langen Schlangen beginnen oder enden«, erklärte der Chef des Flughafens Düsseldorf, Thomas Schnalke. (…) Das Bundesverkehrsministerium sprach kürzlich noch von 2.000 fehlenden Flughafenmitarbeitern (»in allen Bereichen«), Betriebsräte von 5.500. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) erhöhte die Zahl am Mittwoch bei der Vorstellung einer neuen Studie auf 7.200. Vor allem fehlten »Servicefachkräfte« für Check-in, Bodenverkehr, Gepäckabfertigung etc. – schlecht bezahlte Knochenjobs. (…) Der Zeitpunkt für Streiks in der Luftfahrt bleibt günstig, vielerorts wird das Momentum genutzt…“ Artikel von Alexander Reich in der jungen Welt vom 25.06.2022 externer Link – siehe dazu Neues und Hintergründe:

  • Kritik an Arbeitsbedingungen: Flügellahme Flugbranche New
    Auf vielen deutschen Flughäfen herrscht seit Wochen Chaos. Als Grund wird die hohe Nachfrage bei gleichzeitig angespannter Personallage genannt. Doch das Problem sitzt tiefer. Tausende nicht abgeholter Koffer, genervte Passagiere, die stundenlang anstehen und dann doch ihren Flieger verpassen: So sieht der Flugverkehr im Sommer 2022 aus. Die Lufthansa hat fast 6000 Flüge allein für Juli und August gestrichen. Dahinter aber stecken Arbeitsbedingungen von Flughafen-Beschäftigten, die teilweise so schlecht sind, dass die Leute einfach nicht mehr dort arbeiten wollen – oder krank werden.
    Verdrängungswettbewerb zulasten der Beschäftigten?
    Der Wirtschaftssoziologe Erik Sparn-Wolf hat seit 2018 im Auftrag der Linken die Arbeitsbedingung in der Flugbranche untersucht. Seine Studie trägt den Titel „Verlierer*innen in einer beflügelten Branche“. Denn auch wenn es durch Corona besonders schwierig geworden sei – die Arbeitsbedingungen rund um den Flugverkehr sind aus seiner Sicht bereits seit Jahren schlechter geworden. „Die Ursachen liegen ursprünglich eigentlich in politischer Deregulierung und Liberalisierung seit den 1990er-Jahren, die auf der EU-Ebene angestoßen wurden“, erläutert Sparn-Wolf. „In der Folge ist es heute ein regelrechter Konkurrenz- und Verdrängungswettbewerb unter den Anbietern im Luftverkehr in allen Gewerken, der letztlich über Personalkosten und damit auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird.“ (…)
    Zumindest eine Teil-Erklärung ist der immens hohe Krankenstand. Ein ehemaliger Mitarbeiter des Flughafens Frankfurt, der anonym bleiben will, schildert, dass durch die körperlich belastende Arbeit auf dem Rollfeld oder bei der Reinigung der Flugzeuge eine Krankenrate von zehn bis 15 Prozent immer schon bestand. Jetzt liege sie bei bis zu 30 Prozent. (…)
    Die vorliegende Studie zur Luftverkehrsbranche allerdings betont, dass sich die Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer über Jahre und Jahrzehnte massiv gewandelt und verschlechtert hätten. Wirtschaftssoziologe Sparn-Wolf sieht die Unternehmen selbst in einem „radikalen ökonomischen Konkurrenz- und Verdrängungswettbewerb, in dessen Zuge die Personalstrukturen und Arbeitsverhältnisse unter enormen Rationalisierung- und Kostendruck gerieten“.
    Billig-Tarife auf Kosten der Beschäftigten
    Sparn-Wolf hat seit 2018 mit Beschäftigten aus verschiedenen Bereichen der Luftverkehrsbranche gesprochen, alle waren seit vielen Jahren dort beschäftigt. Was er dabei erfuhr, offenbart den großen Druck, unter dem die Mitarbeitenden der Branche zu leiden haben. Auffällig dabei: Probleme gibt es offenbar in allen Einkommensklassen. (…) Gerade beim Reinigungspersonal sind an manchen Orten nur noch die Hälfte derer beschäftigt, die vor zehn Jahren geputzt haben. Dazu kommt, dass die Leute oft nur für kurze Schichten eingesetzt werden und dabei große Flexibilität gefragt ist. Daher ist es kaum möglich, noch einen anderen Nebenjob zu machen, der aber wirtschaftlich nötig wäre. Deshalb reicht auch der Mindestlohn kaum. (…)
    Und die Studie weist noch auf einen weiteren Aspekt hin, der wichtig ist, für alle, die fliegen: Wenn zunehmend erschöpfte, frustrierte und überlastete Mitarbeit im Luftverkehr eingesetzt werden, dann können daraus schlimmstenfalls Ablauffehler und Sicherheitslücken erwachsen. Wenn dazu noch immer neue Mitarbeitende angelernt werden müssen und deren Schulungen – so wie jetzt – unter großem Zeitdruck durchgeführt werden, dann senkt das nicht nur die Qualität der Arbeit – es macht Fliegen auch weniger komfortabel und weniger sicher für alle Fluggäste.“ Beitrag von Kerstin Palzer vom 25.07.2022 bei tagesschau.de externer Link
  • Sicherheitsdienste und Reinigungskräfte sind systemrelevant, besonders für Flughäfen – 20 Jahre Lohndumping rächen sich jetzt 
    „… Die ‚große Resignation‘ externer Link hat also auch die Flughäfen erfasst, und immer mehr Sicherheitskräfte und Reinigungskräfte verlassen ihren Arbeitsplatz. Sogar auf einer Branchenwebseite wird die Frage gestellt: „Wird das Bodenpersonal unterbewertet? In den letzten zweieinhalb Jahren hat der Gewerkschaftsverband UNI Europa mit Unterstützung der Europäischen Union ein Projekt namens RETAIN externer Link durchgeführt, das sich mit dem Arbeitskräftemangel, der Personalbindung und der Fluktuation in den Bereichen Reinigung und Sicherheit befasst. Die Engpässe gab es schon vor der Covid-19-Krise. Bereits 2018 berichteten Arbeitnehmervertreter, Vertrauensleute und Betriebsratsmitglieder, dass Arbeitskräftemangel und Fluktuation ein dringendes Problem sind. Ihre Unternehmen konnten nicht genügend Arbeitnehmer für ihre Verträge rekrutieren. Ein Unternehmensvertreter aus den Niederlanden berichtete, dass es zehnmal so viele offene Stellen wie Bewerber gab. Digitalisierung und Robotisierung sind kein Allheilmittel für solche Engpässe. Jahrelang rühmten sich Sicherheits- und Reinigungsunternehmen, in digitale Technologien und Lösungen zu investieren, ohne die Löhne der Beschäftigten zu erhöhen – obwohl Sicherheit, Reinigung und Facility Management nach wie vor arbeitsintensiv sind. Roboter werden das Reinigungs- und Sicherheitspersonal in absehbarer Zeit nicht ersetzen. Sogar auf Flughäfen mit großen Flächen sind Menschen erforderlich, um Sitze zu reinigen, Müll zu entsorgen und Toiletten zu putzen. Die Automatisierung eines Großteils der Flughafensicherheit macht sie anfälliger für Cyberangriffe, und es bedarf des menschlichen Auges, um digitale Systeme zu überprüfen und zu kontrollieren, sowie von Mitarbeitern mit mehrsprachigen und interkulturellen Kenntnissen an vorderster Front…“ engl. Artikel von Mark Bergfeld, erschienen am 4. Juli 2022 auf Social Europe externer Link („Airport chaos: security guards and cleaners still key”). Siehe zu dem Thema auch:

  • Fraport-Bilanz: Luftfahrt leidet an Pandemie-Folgen
    Einerseits können es die Deutschen kaum erwarten, wieder in den Urlaub zu reisen. Andererseits ist der Fachkräftemangel in der Luftfahrtbranche inzwischen ein riesiges Problem. (…) In den Cockpits und den meisten anderen Bereichen herrscht wegen der Programme zum Stellenabbau akuter Personalmangel, bestätigt die Gewerkschaft der Piloten VC. Die “Fehlplanungen” würden massive Flugausfälle provozieren, die den Unternehmen und deren Anteilseignern Schäden in Millionenhöhe zufügen würden. Insgesamt sei die Stabilität des Luftverkehrs in Deutschland und Europa gefährdet. Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht: Bei neuem Personal dauerte es Monate, bis man dieses auch einsetzen kann. Für Langstreckenflüge dauerte es gar ein Jahr, bis die Ausbildung abgeschlossen ist. Eine spürbare Entlastung rückt damit in weite Ferne. Auch die Zahl der Fraport-Beschäftigten schrumpfte deutlich: Knapp 4.000 Mitarbeiter verließen das Unternehmen. Die Arbeitskräfte suchten sich Neues und fehlen nun beispielsweise am Check-in, bei den Sicherheitskontrollen, der Logistik. Fraport will dieses Jahr 1.000 neue Mitarbeiter einstellen. Doch bislang konnten erst etwa 300 Stellen besetzt werden…“ Beitrag von Dennis Berger vom 24.05.2022 beim ZDF externer Link
  • Siehe im LabourNet aktuell die beginnende Lufthansa-Tarifrunde – und die 9. Streikwoche der Tarifbewegung für Entlastung an den Unikliniken in NRW während „ganz Deutschland“ von Warteschlangen beim Abflug in den Urlaub redet…
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=202138
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