Sommermärchen haben kurze Beine. Die deutsche Willkommenskultur kommt zu sich

no lager - no isolation - für Bewegungsfreiheit

Mehr als neun Jahre dauerte es, bis herauskam, dass das deutsche „Sommermärchen“ von 2006 einer mit krimineller Energie erkauften Standortvergabe der Männerfußball-WM zu verdanken war. Nicht einmal neun Wochen brauchte es, bis der Lack auch vom zweiten deutschen Sommermärchen ab war. Längst verklungen ist im Münchener Hauptbahnhof der Begrüßungsapplaus für Menschen, die Krieg und Elend entfliehen konnten. Es dominieren Bilder von hasserfüllten Massendemos, Mordaufrufen und brennenden Flüchtlingsheimen. Doch wie auch immer sich die Dinge weiterentwickeln werden, eines lässt sich jetzt schon sagen: Man wird sich in Deutschland trotz WM-Bestechungsskandal weiter an der „endlich wieder normalen Nation“ besaufen und man wird sich, komme was wolle, auch in vielen Jahren noch mit den Bildern aus dem Münchener Hauptbahnhof brüsten. Denn „Weltmeister der Herzen“ zu sein ist nun mal deutsches Selbstverständnis par excellence…“ Beitrag von Lothar Galow-Bergemann [Vorabdruck aus dem „Modulator“ des Freien Radio für Stuttgart, Nr. 1112/15, Erscheinungsdatum 27.10. 2015; dokumentiert bei emma&fritz – anticapitalism revisited vom 18. Oktober 2015 externer Link]. Update: Das Ende des hier verlinkten Beitrags führte zu etwas Diskussion, weshalb wir dieses Ende, einen Leserkommentar und die Antwort des Autoren dazu ebenfalls veröffentlichen

  • Hier das Ende des Sommermärchen-Beitrags:
    … Antifaschistische Arbeit ist notwendiger denn je. Doch sollte man einen realistischen Blick auf ihre beschränkten Möglichkeiten haben. Die Verteidigung bürgerlich-demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse ist gerade in Krisenzeiten von unschätzbarem Stellenwert. Denn es könnte in diesem Lande – wieder einmal – etwas wesentlich Schlimmeres geben als eine leidlich funktionierende repräsentative Demokratie. Schon Mitte Oktober sprachen sich 56 % für die Einrichtung von Transitzonen, sprich Internierungslagern, an den Grenzen aus und 64% forderten eine Volksabstimmung über „die Flüchtlingsfrage“. Angesichts dieser Stimmung von „Direkter Demokratie“ zu träumen, darin gar einen fortschrittlichen und emanzipatorischen Akt zu erblicken, ist mindestens grob fahrlässig. Je weiter man im politischen Spektrum nach rechts schaut, um so häufiger begegnet einem die Forderung nach Volksabstimmungen. Die Rechten sind nicht blöd. Linke aber, die ihre fünf Sinne noch einigermaßen beisammen haben, sollten sich schleunigst von jedem naiven Glauben an „das Volk“ verabschieden…
  • Dazu die Reaktion von Karsten:
    Das scheint mir ein plumper „antideutscher“ Kommentar zu sein, der jeglichen Klassenstandpunkt verleugnet. Im Gegenteil: Man distanziert sich vom gemeinen Proll, der ja eh faschistisch ist und sucht den Schulterschluß mit Merkel, de Maizière, den bürgerlich-demokratischen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen. Ist es denn schon vergessen, welche Rolle die Geheimdienste beim NSU Terror spielten? Weiß man nicht mehr, daß Verantwortliche für die Aktenschredderei befördert worden sind? Die etwa 180 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 werden um ein vielfaches übertroffen durch die Abschottung Europas durch Frontex und Co. Allein in diesem Jahr sind 3000 Menschen im Mittelmeer ertrunken aufgrund der Flüchlingspolitik der „bürgerlich-demokratischen“ Staaten, führend die BRD. Der deutsche Innenminister trat selbst als Einpeitscher eines rassistischen gesellschaftlichen Klimas auf: „Ungefähr 30 Prozent der Menschen, die jetzt kommen und behaupten, sie wären Syrer, sind aber keine“, sagte de Maizière in der Talkshow „Maybrit Illner“(nach einer Recherche des ARD-Magazins „Panorama“ gibt es keinerlei Belege für diese Zahlen. Im Gegenteil: Bei einem Besuch der Reporter in der Erstaufnahme-Einrichtung Friedland bei Göttingen zeigte sich, dass dort höchstens ein paar Einzelfälle bekannt sind, bei denen der Verdacht auf eine falsche Angabe des Heimatlandes besteht.) Solidarität gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Rassismus paßt nicht zusammen mit der Verteidigung bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse.
  • Und die Antwort von Lothar:
    Ein bisschen viel der Unterstellung. Als ob ich bürgerliche Herrschaftsverhältnisse nicht gerade dafür kritisieren würde, dass sie Rassismus und Nationalismus hervorbringen. Als ob ich Merkel&Co nicht kritisierte. Also ob ich nichts zum mörderischen Grenzregime der EU sagte. Als ob ich nichts zum NSU-Skandal sagte. 98% des Textes komplett ignoriert. Zur bitteren Wahrheit, die manche Linke bis heute nicht einsehen wollen, gehört aber leider auch, dass sich nur eine kleine Minderheit in diesem Land wirklich über die NSU empört, für die Aufnahme von „Wirtschaftsflüchtlingen“ und für offene Grenzen ist. Stattdessen gibt es jede Menge Rassismus und Nationalismus in den Köpfen. Auch bei sehr vielen, die nicht zu Pegida gehen. Auch bei sehr vielen KollegInnen in Betrieb und Gewerkschaft. Wer glaubt, „Direkte Demokratie“ führe in einer solchen Situation zu besseren Verhältnissen, muss z.B. die Realität in der Schweiz völlig ausblenden. Wer aber nicht mehr unreflektiert an „das Volk“ glaubt und bezweifelt, dass jede Empörung „von unten“ automatisch zu Besserem führt, kommt auf andere Gedanken. Siehe z.B. http://emafrie.de/was-ist-regressiver-antikapitalismus/ externer Link oder auch http://archiv.labournet.de/diskussion/gewerkschaft/real/insekten.pdf
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=88054
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