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„Menschenrechte gibt es seit dem Putsch nicht mehr“

Interview von Raoul Rigault mit Giles Ji Ungpakorn, zuerst erschienen in junge Welt vom 29.07.2015. Giles Ji Ungpakorn (61) ist ein thailändischer Marxist und Aktivist. 2006 war er Mitorganisator des Thai Social Forum. Bis zu seiner Flucht ins britische Exil nach dem Militärputsch 2009 lehrte er als Politikprofessor an der Chulalongkorn-Universität in Bangkok

„Menschenrechte gibt es seit dem Putsch nicht mehr“

Vor einigen Wochen hat das thailändische Militärregime, 13 Monate nach seinem letzten Putsch, das Kriegsrecht aufgehoben. Eine kosmetische Operation oder der Beginn einer Rückkehr zur Demokratie?

Trotz der Aufhebung des Kriegsrechts wendet die Diktatur weiterhin drakonische Gesetze an, um Widerspruch im Keim zu ersticken. Die Junta und ihre Lakaien sind jetzt eifrig damit beschäftigt, eine neue undemokratische Verfassung zu entwerfen. Die soll dem Militär und den Konservativen in Zukunft die Kontrolle eines Pseudo-Wahlsystems ermöglichen. Vorbild dafür ist Birma. Falls es tatsächlich Wahlen gibt, werden sie bedeutungslos sein.

Machtübernahmen durch die Armee sind in Thailand keine Seltenheit. Unterscheidet sich dieser Putsch qualitativ von den vorangegangen?

Auf jeden Fall. Der Staatsstreich vom 22.Mai 2014 hat die politische Uhr um 50 Jahre zurückgedreht. Wir haben es heute mit einer grausamen, bevormundenden und zur Selbsttäuschung neigenden Militärregierung zu tun, an deren Spitze ein Massenmörder steht. Generalissimus Prayut Chan-o-cha ist verantwortlich für die Erschießung von mindestens einhundert Pro-Demokratie-Demonstranten im Jahr 2010. Das Militär hat seine Barbarei im moslemischen Süden mit dem kaltblütigen Mord an unschuldigen Zivilisten fortgesetzt. Außerdem sind die Junta und die Sicherheitskräfte in den Menschenschmuggel von moslemischen Rohingya-Flüchtlingen aus Birma und ihre Abschiebung verstrickt.

Verschiedene internationale Organisationen kritisieren die Verletzung der Menschenrechte. Wie steht es um Meinungs- und Demonstrationsfreiheit und gewerkschaftliche Rechte?

Menschenrechte gibt es seit dem Putsch nicht mehr. Leute, die friedlich gegen die Diktatur protestieren, werden verhaftet. Die Anzahl der verfolgten Freigeister ist während der Geltung des drakonischen und illegitimen Kriegsrechts dramatisch angestiegen. All jenen, die sich vor Militärgerichten wiederfinden, werden jedwede Rechte verweigert. Selbst akademische Seminare wurden verboten. Aktivisten der Opposition wurden zur „Umerziehung“ in Militärcamps verfrachtet oder bedroht. In Thailand gilt nach wie vor das Recht, das aus den Gewehrläufen kommt.

Sind die jüngsten Studentenproteste ein Indiz für eine zunehmende Opposition gegen die Diktatur?

Diese mutigen jungen Studenten, die sich selbst „Neue Demokratische Bewegung“ nennen, haben eine Kampfansage lanciert. In einer Erklärung, die sie am Tag vor ihrer Festnahme verlasen, riefen sie die Menschen auf, sich zu erheben. Für ihre friedliche Forderung nach Freiheit und Demokratie wurden sie vor ein Militärgericht gestellt. Aber natürlich folgt auf einen solchen Aufruf nicht automatisch einen Massenaufstand. Was wir unbedingt brauchen, ist Organisation.

Vor dem Coup waren die so genannten „Rothemden“ eine progressive Massenbewegung. Wie stark und aktiv sind sie noch?

Die Oppositionsbewegungen wurden alle zum Schweigen gebracht. Die Rothemden waren die größte pro-demokratische soziale Bewegung in der Geschichte Thailands. Millionen einfacher Leute haben sich an den Protesten für eine Ausweitung der demokratischen Spielräume beteiligt. Anders als von den Reaktionären behauptet, waren es nicht nur die „einfältigen Bauern“, die dem ehemaligen Ministerpräsidenten (von Februar 2001 bis September 2006; jW) und Geschäftsmann Taksin Shinawatra hinterher liefen, sondern sie kämpften für ihre Rechte und für ihre Würde. Ihre Führung stand Taksin allerdings nahe und hat jetzt beschlossen, vor dem Militär zu kapitulieren. Die Tragödie der Rothemden ist, dass die meisten der linksgerichteten, progressiven Rothemden, die Taksin ablehnten, sich weigerten, eine einheitliche und inhaltlich stimmige alternative politische Organisation zu gründen, um den Führern Contra zu bieten.

Also ein abgeschlossenes Kapitel?

Nicht ganz. Auch wenn die Rothemden-Bewegung tot ist, heißt das nicht, dass einzelne Rothemden nicht in einer neuen Demokratie-Bewegung wiederbelebt werden können. Es ist zu hoffen, dass dies unter Einbeziehung neuer Kräfte passieren wird, und zwar unter einer basisnäheren politischen Leitung. Sie müssen sich mit den neuen studentischen Aktivisten zusammentun, die jetzt die Junta herausfordern.

Inwieweit hat der Tourismus und die Wirtschaft insgesamt unter dem Regime gelitten?

Die thailändische Wirtschaft steckt in ernsten Schwierigkeiten. Die Wachstumsrate fiel im letzten Jahr auf nur noch 0,7 Prozent. Investitionen, ein Schlüsselindikator für ökonomisches Vertrauen, schrumpfte 2013 um zwei und 2014 um weitere 2,8 Prozent. Der Ausstoß der Produktion fiel 2014 um 4,6 Prozent und der Einzelhandelsumsatz um 6,1 Prozent. Im Mai 2015 sank die Produktion im Vergleich zum Vorjahresmonat sogar um 7,6 Prozent. Ursache ist die rückläufige Elektronik- und Automobilproduktion. Mehr als 1.300 Arbeiter in der Samsung-Fabrik in Korat wurden entlassen. Die Landwirtschaft wurde von einer schweren Dürre heimgesucht. Verantwortlich für die stockende Wirtschaftsentwicklung sind die politische Instabilität, die Herrschaft des Militärs und die weltweite Rezession.

Und wie ist die Lage der arbeitenden Massen?

Die Militärjunta hat angekündigt, dass sie den nationalen Mindestlohn von 300 Baht (7,80 Euro) pro Tag, der von den vorherigen, demokratisch gewählten Regierungen eingeführt wurde, im nächsten Jahr streichen will. Stattdessen wollen sie in den einzelnen Provinzen unterschiedliche Mindestlöhne einführen, wie es die Fanatiker des freien Marktes bevorzugen. Heute, wo die Exporte zurückgehen, kann eine Senkung der Kaufkraft der thailändischen Arbeiter die Dinge nur verschlimmern. Die Binnennachfrage würde durch niedrige Löhne gedrückt und könnte die Exportverluste nicht ausgleichen.

Das Wichtigste ist aber, dass diese Löhne schon jetzt viel zu niedrig sind, um den Beschäftigten einen guten Lebensstandard zu ermöglichen. Das Niveau der ökonomischen Ungleichheit in Thailand ist absolut inakzeptabel. Seit dem Putsch im letzten Jahr haben die Eliten sich selbst riesige Gehaltserhöhungen genehmigt und andere Vorteile verschafft. Die Militärausgaben sind dramatisch gestiegen. Gleichzeitig droht die Junta den Leuten, dass sie in Zukunft für die bislang kostenlose Gesundheitsversorgung zur Kasse gebeten werden.

Thailand hatte einmal eine starke Kommunistische Partei und Guerilla. Welche Zukunftsperspektiven hat die Linke in ihrem Land heute?

Nach dem Kollaps der von China unterstützten maoistischen KP in den 80er Jahren hat das Fehlen einer linken politischen Partei zu ernsten Schwächen geführt. Leider gibt es keine progressive Organisation, die die Studenten unterstützt. Die Herausforderung für uns alle lautet heute, wie wir dabei helfen können, eine neue Massenbewegung für Demokratie und eine politische Partei aufzubauen, die all die drängenden gesellschaftlichen Themen mit dem Kampf für Demokratie verbindet

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=84722
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