Tunis: Bericht vom Weltsozialforum

Bericht von Bernard Schmid zum WSF 2015: Teil I vom 7. April 2015

Dieser Teil I wird eher auf die „tunesischen“ Aspekte des und rund um das Weltsozialforum(s) 2015 eingehen, das vom 24. bis 28. März d.J. in Tunis stattfand. In Teil II wird näher auf einzelne Debatten und Workshops beim WSF eingegangen [werden]. Siehe auch die Fotostrecke zum WSF 2015 von Bernard Schmid

WSF2015: Protest gegen die marokkanische Besetzung der Westsahara (II)Es wird Alles verziehen. Auch dies: Auf ihren Flügen in der letzten Märzwoche dieses Jahres servierte die tunesische Fluggesellschaft TunisAir, die normalerweise eher korrektes Essen an Bord bietet, nur unverdauliche Sandwichs. Diese wurden aus Kartons serviert und schmeckten auch nach Karton. Davon betroffen waren auch jene der – je nach Angaben – zwischen 20.000 und 60.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Weltsozialforum (WSF), die mit TunisAir anreisten. Eine Mehrheit von ihnen brauchte dies allerdings nicht zu tun. Denn wenn auch die weltweite Beteiligung insgesamt rückläufig auslief, so hatte doch die tunesische Teilnahme gegenüber dem ebenfalls in Tunis abgehaltenen WSF vom März 2013 zugenommen. Aus fast allen Bevölkerungsschichten, auch wenn die studentische Komponente besonders stark vertreten war. Was auf den ersten Blick wie eine faktische Schikane für die anreisenden Ausländer/innen wirkte, fand jedoch alsbald eine freundlichere Erklärung. Denn das Catering am Flughafen von Tunis wird seit längerem bestreikt. Dies erfuhr man zwar nicht von der Luftfahrtgesellschaft, wohl aber von den beim WSF zahlreich anwesenden Vertretern des tunesischen Gewerkschaftsdachverbands UGTT. Die Union générale tunisienne du travail, die zwischen 500.000 und eine Million Mitglieder in dem alles in allem elf Millionen Einwohner/innen zählenden Land aufweist, zählt zu den mit Abstand stärksten Gewerkschaftsverbänden in Afrika und im arabischsprachigen Raum. Und der Arbeitskampf im Flughafenbereich ist nur einer von zahllosen Arbeitskonflikten, die in jüngster Zeit in Tunesien stattfinden. So wurde im Dezember 14 unter anderem an Schulen und Hochschulen gestreikt. Im Januar 15 wurde ein Streikaufruf für Kliniken und Bluttransfusionszentren nach einer Einigung zurückgezogen, doch die Finanzämter streikten. Im Februar 15 waren es etwa die Berufsschulen in Sousse, die Post und eine Coca Cola-Fabrik in Sfax. Im März 15 folgten die tunesische Telekom, und am 15. April 15 steht ein Streik des Lehrpersonals an Grundschulen auf dem Programm – eine Einigung scheiterte bislang.

Dies ist nur eine der Facetten einer Gesellschaft, die in Bewegung bleibt. Auch dann, wenn die seit dem 06. Februar dieses Jahres amtierende Regierung unter Habib Essid, eine Art Große Koalition unter Einschluss der bürgerlich und im Wahlkampf anti-islamisch auftretenden Partei Nidaa Tounès (Appell Tunesiens) sowie der stärksten islamistischen Formation En-Nahdha (Wiedergeburt), den gegenteiligen Eindruck erweckt. Die Partei Nidaa Tounès, die ein Sammelbecken darstellt und manche Gewerkschafter ebenso wie Liberale, Nationalisten und beruflich recyceltes Personal der alten Diktatur aus den Jahren von vor 2011 umfasst, wird derzeit von heftigen inneren Streitigkeiten durchzogen. Bisweilen scheint sie am Rand der Spaltung zu stehen. Und obwohl die Regierungsbildung in großkoalitonärer Logik den Anschein lähmender innenpolitischer Stabilisierungs- und Restaurationstendenzen erweckt, so kommt doch die Gesellschaft nicht so schnell zur Ruhe.

Forum zur „Verteidigung der Minderheiten“

WSF2015: Debatte über Call Center in Nordafrika - mit französischen, belgischen, marokkanischen, tunesischen Gewerkschafter/inne/n (I)Einen Eindruck davon erweckt auch eine der Abschlussveranstaltungen, mit denen das WSF am frühen Samstag Nachmittag. In einem für den massiven Andrang schnell viel zu klein werdenden Hochschulraum präsentierte die „Tunesische Vereinigung für die Unterstützung der Minderheiten“ (ATSM), die seit 2011 tätig ist, ihre Aktivitäten. Kampf gegen Homophobie, gegen Judenfeindlichkeit, gegen die Diskriminierung der im Süden Tunesiens wohnenden schwarzen Minderheit; in jüngerer Zeit auch gegen Gewalttaten, die sich gegen zum Christentum konvertierte Tunesier sowie gegen Bahai richten – alles kam in einer konstruktiven Atmosphäre zur Sprache. Unter Teilnahme auch der „Vereinigung jüdischer Studenten in Frankreich“ (UEJF) wurden die diversen Diskriminierungs- und Gewaltphänomene, die insbesondere von Salafisten ausgehen, aber mitunter auch von Teilen der „Normalbevölkerung“ mitgetragen werden, thematisiert.

Amina von der ATSM unterstrich in ihrer Kritik auch Widersprüche in der Anfang 2014 verabschiedeten tunesischen Verfassung. Diese ist in ihrer Essenz weitgehend demokratisch und rechtsstaatlich ausgerichtet, betont in vielen Passagen die Rechtsgleichheit von Frauen und Männern – und dass auch En-Nahdha durch gesellschaftlichen Druck zur Zustimmung gezwungen war, kann als Fortschritt gewertet werden. Träume in Teilen der Parteibasis von einer Orientierung an der Scharia waren damit erledigt. Dennoch tauchen auch Widersprüche auf. Artikel 6 der Verfassung garantiert Glaubens- und Gewissensfreiheit, die auch Nichtreligiösen zugute kommen muss. Aber Artikel 74 schreibt vor, dass muslimischer Religion sein muss, wer zur Präsidentschaft kandidieren will. „Eine indirekte Art und Weise, die tunesische Staatsbürgerschaft zu definieren“, moniert Amina. Ebenso wird das „muslimisch-arabische Erbe“ Tunesiens betont, zwar „unter Öffnung für fremde Sprachen und Kulturen“. Doch aus Sicht von Amina ist diese Präzisierung schlimmer, als wenn kein Zusatz erfolgt wäre, weil etwa die oft diskriminierte Berberkultur im Land eben nicht „fremd“ ist und unerwähnt bleibt.

Viel wird in näherer Zukunft von der Auslegung des juristischen Texts, der in einigen Stellen sehr interpretierbar bleibt, abhängen. Auch lehnte eine Mehrheit der Abgeordneten es ab, neben dem Bezug auf arabische kulturelle Ursprünge auch den auf eine „mediterrane Identität“ in den Verfassungstext aufzunehmen. Dazu meinten Amina und andere Debattenteilnehmer, es seien gar nicht so sehr die Islamisten von En-Nahdha gewesen, die sich dem gegenüber dogmatisch versperrten, sondern die säkularen Nationalisten, denen dieser Mittelmeer-Bezug im Ansatz zu mulitkulturell gewesen sei.

Erstmals traten auch die tunesischen Homosexuellenvereinigungen anlässlich des Weltsozialforums explizit an die Öffentlichkeit. Am Mittwoch, den 25. März 15 hielten sie eine eigene Demonstration im Rahmen des WSF ab, die auch durch die Medien Tunesiens aufgegriffen wurde. Und am Donnerstag waren sie bei einer durch „FRIDA, the young feminist fund“ organisierten Debatte über Feminismus in Nordafrika und im Nahen Ost massiv präsent, die Debatte drehte sich letztendlich vor allem um die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare. Zwar wird Homosexualität seit 1990 in Tunesien offiziell nicht mehr als „Krankheit“ definiert, und in den 2000er Jahren wurden auch die Lehrbücher diesbezüglich umgeschrieben, berichtete ein tunesischer Masterstudent der Psychologie. Doch der in der französischen Kolonialzeit eingeführte Paragraph 230 des Strafgesetzbuches, der sittenwidriges Verhalten unter Strafe stellt und gegen Sodomie angewandt wird, richtet sich zwar theoretisch gegen alle sexuellen Orientierungen – aber in der Praxis gegen Homosexuelle. Seine praktische Anwendung bleibt selten, unterhält jedoch ein Klima der Diskriminierung. Eine Studie der „Gesellschaft zur Bekämpfung sexuell übertragbarer Krankheiten“ habe ergeben, dass 13 Prozent der tunesischen Bevölkerung homosexuell seien. „Es ist an der Zeit, dass wir an die Öffentlichkeit treten“, meinte der Psychologiestudent unter Applaus. Der Aktivist Hamza vertrat die marokkanischen Homosexuellenvereinigungen, in deren Land homosexuelle Handlungen theoretisch mit Haft zwischen sechs Monaten und drei Jahren belegt werden können.

Die „Vereinigung für die Rechte unverheirateter Mütter“ aus Tunesien, die algerische AIDS-Hilfe und andere – zahllose Kräfte aus der so genannten Zivilgesellschaft waren auf diesem Forum präsent, die noch vor wenigen Jahren nicht deutlich an die Öffentlichkeit getreten wären. Unvermittelt stand ihre Präsenz oft in räumlicher Nachbarschaft mit jener von völlig anderen Kräften. Etwa mit der Anwesenheit einer kleinen, aber lautstarken Gruppe von iranischen Regimeanhängern oder –agenten. Letztere traten in diesem Jahr diskreter auf als noch auf dem WSF von 2013, aber mit einer ähnlichen Strategie: Anfänglich gaben sie sich nicht offen zu erkennen, im Laufe der Tage zeigten sie jedoch immer frecher und unverhohlener Präsenz. Am ersten Tag sah man nur Fotos von mehr oder weniger verheerenden Auswirkungen israelischer Militäraktionen im Gazastreifen, doch am dritten Tag die iranische Flagge und ein Plakat, auf dem die Reichweite iranischer Raketen gepriesen wird. Hingegen mischten tunesische Islamisten wesentlich weniger auf dem und rund um das Forum mit als noch 2013, als das damalige WSF in die Zeit ihrer Regierungsführerschaft fiel. Heute regieren sie nur noch als kleinere Partner der stärkeren Säkularisten von Nidaa Tounès mit.

Jihadismus & restaurative Tendenzen

Negative Auswirkungen befürchten viele Anwesende jedoch auch von den politischen Maßnahmen, die unter Berufung auf den jihadistischen Mordanschlag im Bardo-Museum vom 18. März 15 eingeführt oder gefordert werden. Denn ein Teil der politischen Elite, mit Unterstützung auch aus Segmenten der tunesischen Gesellschaft, nutzt die Gunst der Stunde, um errungene Freiheitsrechte wieder kassieren zu wollen. Menschenrechte gälten „nicht für Terroristen“, skandierte etwa ein Nidaa Tounès-Abgeordneter. Eine Ingenieurin, die auf der von Zehntausenden Menschen besuchten Kundgebung am Sonntag, den 29. März 15 gegen den jihadistischen Terror teilnahm und durch mehrere französische Medien zitiert wurde, rief ihrerseits aus: „Sie verdienen den Tod, das sind keine Menschen, das sind Tiere.“ Die Motive und Ausdrucksformen der Teilnehmer waren jedoch unterschiedlich. Andere Menschen auf der Kundgebung bekundeten etwa, sie seien gerade gekommen, um zu bekunden, dass die Tunesier eine friedliebende Bevölkerung seien und Gewalt verabscheuten.

Viele verbanden ihre Präsenz auch mit ökonomischen Beweggründen und erklärten, ein Einbruch des Tourismus drohe ihr Land zu ruinieren. Ein Berufsverband von Fremdenführer/inne/n hatte eine große Mobilisierung mit eigenen Bussen und Plakaten organisiert. Tatsächlich vermeldete die französische Presseagentur AFP am Montag dieser Woche, die Buchungen für den Fremdenverkehr in Tunesien seien seit dem Attentat um 60 Prozent zurückgegangen. Präsident Béji Caïd Essebsi („BCE“) sucht unterdessen ökonomische Abhilfe in den Golfstaaten. Wie die tunesische Zeitung La Presse berichtet, bemühte er sich am Rande des Gipfels der Arabischen Liga im ägyptische Seebad Scharm el-Scheikh besonders darum, Investitionen aus den Golfmonarchien anzuziehen, und bezeichnete dabei solche Versuche zum Ankurbeln der Wirtschaft explizit als Mittel gegen den Terrorismus. La Presse berichtet ausführlich über Unterredungen des Präsidenten mit dem Emir von Kuwait und dem König von Bahrain.

Der Innenminister der neuen tunesischen Regierung, der 54jährige Najib Gharsalli, war unter dem alten Regime über zehn Jahre lang Vorsitzender Richter in Kasserine, seit 2000. In dieser Stadt in Westtunesien starben in den letzten vierzehn Tagen der Ben Ali-Diktatur besonders viele Menschen durch Schusswaffeneinsätze der staatliche Sicherheitskräfte. Gharsalli, dessen Staatssekretär für Innere Sicherheit Rafik Chelly seinerseits Sicherheitschef von Ben Alis Vorgänger Habib Bourguiba – Präsident von 1956 bis 1987 – war, verkörpert in Vieler Augen eine besonders starke Kontinuität zum Ancien Régime. Seit dem Amtsantritt von Gharsalli und Chelly wurde viel Personal im Funktionärsapparat der tunesischen Polizei ausgetauscht. Und dies nicht allein, um die „Parallelpolizei“ im Innenministerium zurückzudrängen, die En-Nahdha in der Zeit ihrer Regierungsführerschaft am Gesetz vorbei aufbaute.

Mostapha Tlili, der aus Tunesien stammende Exekutivsekretär des in Brüssel ansässigen Internationalen Gewerkschaftsbunds (IGB) für die arabischsprachigen Länder, machte beim Gewerkschaftertreffen am letzten Tag des WSF (Samstag, den 28. März d.J.) seinen Befürchtungen Luft. Die Gelegenheit erscheine vielen Kräften gar zu günstig, „individuelle und kollektive Rechte wieder zu kassieren“ und etwa Streiks in Zeiten des Notstands nur noch als unnütze Ablenkung vom Wichtigen zu unterstreichen. Der UGTT-Vertreter Sadok Chaibi pflichtete ihm bei und sprach von „restaurativen, ja faschistischen Tendenzen“.

Aus teilweise ähnlichen, teilweise anderen Gründen sagte unterdessen die tunesische Linkspartei Front populaire (ungefähr, vergröbert übersetzt: „Volksfront“), drittstärkste Kraft im Parlament, ihre Teilnahme an der Großkundgebung vom Sonntag, den 29. März – welche nach dem Abschluss des WSF stattfand – im Vorfeld ab. Besonders wollte sie dadurch gegen die Präsenz von En-Nahdha, die als Co-Organisatorin auftrat, protestieren. Innerhalb des Front populaire ist die Haltung zu Nidaa Tounès umstritten, aber jene zu En-Nahdha stiftet einen Konsens: Beide Parteien werde als „zwei Facetten der Reaktion“, der säkularen und der islamistischen Reaktion, betrachtet. Umstritten bleibt, ob dabei Erstere noch als kleineres Übel durchgehen könne oder nicht. Am Sonntag dominierte aber der Wunsch, sich auf jeden Fall vom größeren Übel zu distanzieren.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=78245
nach oben