[Buch] Willi Bleicher. Texte eines Widerständigen. Briefe aus dem KZ, Reden und Interviews
„Willi Bleicher, geb. 1907, ist in der Zeit der Weltwirtschaftskrise jahrelang arbeitslos. Aber er kämpft für eine gerechte Welt und gegen die braune Gefahr. Die Nazis zerstören seine erste große Liebe; sie stecken ihn ins Konzentrationslager, wo er Widerstand leistet und alles daran setzt, dass ein kleines Kind das KZ überlebt. Trotz Folter kriegen ihn SS und Gestapo nicht klein. Wenige Jahre nach dem Krieg sitzt Bleicher in der Chefetage der größten deutschen Gewerkschaft, der IG Metall. Doch dann wird er aus politischen Gründen degradiert. Er geht zurück an die Basis. In den sechziger Jahren ist er der wichtigste Streikführer der Bundesrepublik. Und Gegenspieler des früheren SS-Mannes Hanns Martin Schleyer, der den Arbeitgeberverband leitet. In dem von Bleicher-Biograf Hermann G. Abmayr herausgegebenen Buch werden erstmals Bleichers Briefe aus dem KZ veröffentlicht, viele seiner Reden und wichtige Interviews.“ Schmetterling-Verlag zum soeben erschienen Buch – siehe mehr zum Buch und als Leseprobe „Schuldbekenntnis der deutschen Arbeiterklasse“, die erste große öffentliche Rede nach 13 Jahren, 1946:
- Hermann G. Abmayr (Hrsg.): Willi Bleicher. Texte eines Widerständigen. Briefe aus dem KZ, Reden und Interviews
- Schmetterling-Verlag 2025, 460 S., br., 24,80 €.,ISBN: 978-3-89657-193-9
- Infos und Bestellung beim Schmetterling-Verlag
, siehe auch:
- Wir brauchen kein Denkmal. Willi Bleicher: Der Arbeiterführer und seine Erben. Anläßlich des aktuellen Erscheinens des Dokumentenbandes von Hermann G. Abmayr «Willi Bleicher. Texte eines Widerständigen. Briefe aus dem KZ, Reden und Interviews» gibt es das bereits seit langem vergriffene Buch in einer Ebookausgabe erneut – Infos und Bestellung beim Schmetterling-Verlag
- Klassenkampf statt Denkmal
„Eine Sammlung mit Briefen, Reden und Interviews erinnert an den Widerstandskämpfer und Gewerkschafter Willi Bleicher…“ Besprechung von Peter Nowak vom 29.05.2025 in ND online - Linker Dickschädel
„Der in Bad Cannstatt geborene Willi Bleicher war eine der prägenden Figuren der deutschen Gewerkschaftsbewegung nach dem Krieg. In einem großen Dokumentenband präsentiert der Journalist und Bleicher-Biograf Hermann G. Abmayr nun ein Nachschlagewerk, das neue und unerwartete Einsichten bietet…“ Besprechung von Oliver Stenzel vom 30.04.2025 in der Kontext:Wochenzeitung
______________________
Schuldbekenntnis der deutschen Arbeiterklasse
Erste große öffentliche Rede nach 13 Jahren, 1946
Es sind eigenartige Empfindungen, die mich im Augenblick beherrschen, da ich nach 13 Jahren zum ersten Mal wieder in diesem Saale spreche. Es ist fürwahr eine historische Stätte für mich und ich weiß auch für meine Zuhörer.
Hier haben wir vor 13 und mehr Jahren die ersten theoretischen Auseinandersetzungen geführt über das Wesen des Faschismus, hier haben wir gesprochen über die Notwendigkeiten eines gemeinsamen Kampfes als Resultat unserer tiefen Einsicht, dass Faschismus Krieg bedeute, und hier haben wir gleichsam mit den Spielregeln der Demokratie alle Fragen des werktätigen Volkes besprochen. Hierher sind wir gekommen mit unseren Sorgen, dass uns das große Werk unseres Genossenschaftsaufbaues bereitete.
Dieser Saal war auch Heimstätte so manches Freundes, den wir hier nicht mehr begrüßen können und wehe wird es mir und ich weiß bei den andern, die noch etwas Menschlichkeit mit herübergerettet haben, wenn ich an die Familie Schlotterbeck denke, an die Sofie Klenk und an den Erich Heinser. Ihretwegen und all den tausend andern, die den gleichen Weg gegangen, wollen wir uns erheben und im stillen Gedenken auch all jener uns erinnern, die dieser Hitler-Krieg sterben ließ und die jetzt irgendwo unter Europas Fluren modern. Ihr Tod möchte uns Mahnung sein aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen, auf dass fortan Kriege und Regierungssysteme, die solche wünschen und wollen nicht mehr möglich sind, dass wir ökonomisch, politisch alle Voraussetzungen schaffen für den friedlichen Aufbau, für ein gedeihliches Zusammenleben der Völker, für die Schaffung des Sozialismus, der allein Garant dafür ist, dass die Menschen Brüder werden.
Wahrhaftig, wenn man heute so im politischen Leben und Geschehen unserer Tage mitten drin steht und wenn man an den Trümmerstätten, die uns all überall begegnen und unserem Wiederaufbau so hindernd im Wege stehen, dann kommt man immer wieder zu der Erkenntnis, dass alle materielle Not und das ganze europäische Trümmerfeld einem nicht so Bange machen könnte, hätte man nicht das Bewusstsein, dass die ideologische Not einen solch gewaltigen Umfang, eine solche Verwirrung der Geister eine solche Unsicherheit zur Folge hat.
Es ist jetzt ein großes Fragen hier zu Lande wohin, wozu – aber was taugt denn dieses Fragen, wenn man nicht Rechenschaft gibt, jeder Einzelne sich selbst, woher, warum. Diese Frage muss beantwortet werden, klar und eindeutig, ohne Winkelzüge. Nicht der Alliierten wegen, sondern um Kriegsschuldlügen, um Parteischuldlügen, um Dolchstoßlegenden, in welcher Form sie auch immer auftreten mögen, ein für alle Mal unmöglich zu machen. Sprechen wir laut und vernehmbar dieses «Schuldig», auf dass wir so recht den Standort bekommen, von dem aus wir den Weg in eine hellere Zukunft ahnen können.
Ich erinnere mich in dieser Stunde sehr gut eines Hochsommertages im Jahre 1932, als wir hier in diesem Saale zum letzten Male zusammengekommen sind, um allen Ernstes angesichts der auf uns zukommenden Gefahren des Faschismus, die Einheitsfront, und zwar die kämpfende Einheit der Arbeiterklasse zu schaffen. Den Anlass dazu gab der jetzt auf der Anklagebank in Nürnberg sitzende politische Erbschleicher [Franz] von Papen, der mit einem Federstrich das uns und unseren sozialdemokratischen Kameraden scheinende Bollwerk in Preußen, die Minister Severing und Braun aus dem Amte entfernte.428
Es war das letzte Signal und es wurde nicht verstanden, es hätte das Fanal sein müssen für die gesamte Arbeiterklasse, wenn man sich klar geworden wäre, dass der Hitlerfaschismus nicht bloß bürgerlicher Nationalismus ist, sondern tierischer Chauvinismus, dass es ein Regierungssystem des politischen Banditentums, ein System der Provokationen und Folterung gegenüber der werktätigen Bevölkerung gewesen [ist]. Man hätte sich klar werden müssen, dass der Faschismus nicht die Macht des Kleinbürgertums oder des Lumpenproletariats war, sondern dass es die Macht des Finanzkapitals selbst war. Dass diese Macht zwangsläufig zum Kriege treiben musste, war für jeden klar, der auch nur das primitivste ABC des Marxismus, der politischen Dialektik beherrscht.
Dass dieses Fanal nicht verstanden wurde, dass ist das historische Verschulden der deutschen Arbeiterbewegung. Nicht dass wir hier oder dort Fehler oder Halbheiten begangen hatten, scheint mir das Entscheidende, sondern weit mehr die Tatsache, dass parteiegoistische Interessen in Verbindung mit einer weitgehenden ideologischen Verflachung vor die Interessen der Klasse, d. h. des werktätigen Volkes gestellt wurden. Die Geschichte korrigiert grausam gründlich alle Halbheiten und Unzulänglichkeiten der Menschen.
Wir haben die Fehler der Vergangenheit bezahlen müssen mit Tausenden unserer Besten, mit der Blüte der Jugend der verschiedensten Nationen, wir haben sie zahlen müssen mit dem Verlust von sieben Millionen Toten, mit der bitteren Tatsache, dass ein Drittel der gesamten männlichen Bevölkerung nicht mehr ist, dass auf sieben bis acht Frauen in gewissen Bezirken unseres Landes ein männlicher Bewohner kommt; wir haben es bezahlen müssen mit Millionen von Krüppeln, mit Hundertausenden im Gefolge dieses Krieges noch an Tbc sterbenden Kindern, mit Millionen von Flüchtlingen, die irrend auf der Landstraße sich die Füße wund laufen und die Herzen krankstoßen an dem kalten Egoismus als Zeichen der moralischen Verwilderung großer Teile des deutschen, aber auch der europäischen Völker, als Ergebnis dieses Krieges, den wir hätten verhindern können.
Dieses Schuldbekenntnis der deutschen Arbeiterklasse ist Ausgangspunkt der Regeneration dieser Klasse und ihrer Bewegungen. Nie und nimmer aber Anlass für gewisse Kreise und auch nicht für Minister, diese Arbeiterklasse als den Teil des Volkes zu bezeichnen, der am widerstandslosesten die Dinge der hinter uns liegenden Jahre über sich habe ergehen lassen. Oh nein, Herr Minister, die Entnazifizierung beweist und andere statistische Erhebungen bringen jederzeit den Nachweis, dass dem nicht so ist. Ich empfinde auch gar nicht das Bedürfnis angesichts des von mir mit wenigen Pinselstrichen gezeichneten Bildes des Grauens und des Schmerzens mich nach dieser Richtung in Recherchen einzulassen, sondern es gilt die Ursachen, die zu solchen Katastrophen führen könnten, zu beseitigen.
Ich will nur hier feststellen und im Buche der Geschichte wird es mit goldenen Lettern eingetragen sein, dass es in den vergangenen zwölf Jahren zu jeder Stunde Männer gab, die für Ihre sozialistischen Ideale nicht nur mit Worten einstanden, sondern auch mit Taten. Noch gab es eine proletarische Jugend, die für ihre Überzeugung zu sterben wusste; hinreißend das Bild jener Tapferen [in Österreich], welch ein Symbol in den Februarkämpfen des Jahren 1934, mit ihren Leibern, den Karl-Marx-Hof [in Wien] deckten, die im Granathagel überschüttete, ausharrten oder die nach verlorener Schlacht in vierstündigen Märschen mit der Waffe in der Hand sich den Rückzug zur Landesgrenze erzwangen.
Dieser Helden wird heute überall gedacht, wo Proletarierherzen schlagen, ihrer Taten Lob wandert von Mund zu Mund, von ihnen wird man in den Hütten der Armen singen und sagen, wenn von Ihren Besiegern längst nichts mehr anderes übrig sein wird, als die wage Kunde gewalttätigen Banditentums.
Wie kann es auch anders möglich sein, wenn man bedenkt die Tatsache, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung kaum geboren war, als die entsetzliche Vielheit ihrer Schrecken in den edelsten Geistern der Menschheit den brennenden Wunsch wachrief, eine Neugestaltung der Dinge herbeizuführen. Über das Ziel, den Kapitalismus durch den Sozialismus zu ersetzen wurde man sich verhältnismäßig bald einig.
Schon in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gab es nur mehr wenige erlauchte Denker, die nicht den Sozialismus, diese erstrebende neuen Welt erblickten. Wie schwer war es dagegen diesen Weg zu diesem neuen Ziele zu finden. Karl Marx und Friedrich Engels haben die tiefste Wesenheit der geschichtlichen Entwicklung aufgehellt, indem sie die Klassenkämpfe als ihren bestimmenden Hebel erkannten, nicht das Bewusstsein bestimme das Sein, so lehrten sie, sondern das Sein das Bewusstsein. Nicht der Ideengehalt selbst der Größten unter den Menschen, sondern die materiellen Interessen, der Millionen Kleinen bewirken die entscheidenden Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens, die kapitalistische Gesellschaftsordnung werde nicht verschwinden, weil die größten Denker unserer Zeit ihre Verwerflichkeit erkannt haben, sondern weil die Millionen versklavter Proletarier in allen Ländern durch ihr hartes Los gezwungen werden, sich zum Kampfe für eine bessere Gesellschaftsordnung zu erheben.
Die Arbeiterklasse wird durch ihre Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess gezwungen, aber auch befähigt den Kampf um den Sozialismus zu führen. Auf ihren starken Schultern ruht die Zukunft des Menschengeschlechtes, aber den durch die Geschichte bestimmten Befreiungskampf muss die ganze Arbeiterklasse führen. Es ist ein Aberwitz zu glauben, dass sich die gesellschaftliche Entwicklung durch kleine taktische Manöver überlisten lässt oder dass ein Teil des werktätigen Volkes durch einen kühnen Handstreich das erreichen könne, was notwendigerweise der ganzen Klasse mühevolle Aufgabe ist. Diese Aufgabe erkannte die Kommunistische Partei vom ersten Tage ihres Seins.
Schon im Jahre 1895 schrieb Engels im Vorwort die Klassenkämpfe in Frankreich: »Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewussten Minoritäten an der Spitze bewusstloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie eintreten sollen, das hat uns die Geschichte der letzten 60 Jahre gelehrt.»
Diese historische Wahrheit gilt es festzuhalten denn sie ist eine der vielen alles zerstörenden Waffen im Kampfe der Klassentitanen. Sie allein garantiert den Sieg, und nur jene Klasse kann die Wahrheit ertragen, die den menschlichen Fortschritt will und vorwärtstreibt, trotz der unglaublichen Anstrengungen die Ihn aufhalten oder sogar zurückschrauben wollen. Die stählerne Wahrheit der Geschichte siegt immer und der Stuck der Lüge bröckelt früher oder später ab wie stark er auch vergoldet sei. Was bedeutet auch dieser kleinliche Stuck, was bedeuten auch diese verwischten Fehler einzelner Persönlichkeiten, die Taten der jungen kommunistischen Partei und ihre Opfer, die sie auf den Altar des Befreiungskampfes gelegt, werden Jahrhundertelang hell lodern, und der klägliche Qualm menschlicher Irrtümer kann dieses alles erwärmende Feuer nicht beeinträchtigen, sondern nur die Wahrheit bestätigen, dass Revolutionen nicht nach der Fibel gemacht werden, sondern [dass] ihre Schritte schwere Schritte sind. Diese kommunistische Partei weiß um das geschichtliche Muss und wird deshalb nicht zu taktischen Manövern greifen, wenn es gilt die deutsche Nation in ihrer Substanz zu erhalten.
Es entspringt nicht taktischen Überlegungen, wenn diese kommunistische Partei sich zum demokratischen Prinzip des Neuaufbaus unseres Staates bekennt. Wir sind nicht Demokraten geworden, weil dies im Augenblick Mode ist, wir bekennen uns nicht zu einer antifaschistischen demokratischen Republik, weil dies andere auch für zweckmäßig halten und weil sie diese Zweckmäßigkeit ableiten von der Tatsache, dass sie bereits vor dem Jahre 1933 sich Demokraten nannten und sich zur Weimarer Republik bekannten. Wir Kommunisten sind Kommunisten geblieben und sagen es laut und vernehmbar, dass unsere Prinzipien die wirkliche Demokratie beinhalten, nämlich, dass die Mehrheit des werktätigen Volkes die Mehrheit erlange über eine Handvoll von Trustmagnaten, Finanzgewaltigen.
Wir Kommunisten haben die Weimarer Republik nicht abgelehnt im Prinzip, wir haben in ihr den Kampf geführt, um die Verwirklichung der Demokratie. Wir waren der Überzeugung und sind es noch heute, dass diese Demokratie zuweilen die Spielregeln derselben in Geltung ließ, aber auf Grund der Tatsache, dass die ökonomischen Machtmittel in der Hand der Bourgeoise geblieben sind, auch die politischen Machtmittel in ihren Händen vereinigt waren.
An der Pforte dieser Republik lagen die Leichen von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, feige ermordet von Söldlingen der Reaktion, ohne dass der Arbeiterklasse für den Verlust ihrer Besten Sühne gewährt wurde. Der Staatsapparat und die Verwaltungsorgane blieben im Wesentlichen in den Händen derer, die sie bereits in der Monarchie innehatten. Wir Kommunisten bekennen uns zu der heutigen Demokratie, weil wir der festen Überzeugung sind, dass durch die restlose Liquidierung des faschistischen Macht- und Staatsapparates alle Voraussetzungen geschaffen sind, um diesen Staat und diese Demokratie zu einer wahren antifaschistischen Demokratie auszugestalten.
Wir wissen um die Gefahren, die dieser Demokratie bereits heute schon [drohen], und wir werden darin nichts unversucht lassen, diesen Gefahren wirksam zu begegnen. Wir wissen auf Grund der Erfahrung aus der Vergangenheit, dass eines der wirksamsten Mittel gegen diese Gefahr und zur Überwindung des Chaos die Einheit des gesamten werktätigen Volkes im weitesten Sinne des Wortes notwendig ist. Die Schaffung der Einheit ist für die Kommunisten unabdingbar, wenn sie nicht mitschuldig werden wollen am Siege der Reaktion.
Die Gemeindewahlen430 in Württemberg sind Warnung und Aufforderung zugleich diese Einheit zu schaffen. Ich bin der festen Überzeugung, ein gemeinsames Vorgehen hätte Kristallisationspunkt werden müssen, hätte den Zweifelnden Ziel und Richtung gewiesen, wenn die gesamte werktätige Bevölkerung jenen festen Kern gebildet hätte, der wie bei der Bildung eines neuen Gestirns alle um diesen Kern lagernden Spiralnebel anzieht, um eines Tages selbstherrlich zu werden.
Diese Gemeindewahlen müssen für jeden Einsichtigen Grund sein zu der Frage, warum diese Ergebnisse. Sie sind nur das Spiegelbild der ideologischen Verfassung des deutschen Volkes, das heißt seiner ideologischen Verflachung.
Oh, werfen wir doch nur kurz den Blick auf unsere Jugend. Es ist bitter ihre seelische Not zu kennen und dabei noch zu wissen, dass sich diese Jugend dieser Not gar nicht bewusst ist. Wie kann es auch anders sein, sie hat in den vergangenen zwölf Jahren nie Kameradschaft kennengelernt. Jene Kameradschaft, die das Ergebnis des gegenseitigen Verstehens und Begreifens ist und des daraus resultierenden Wollens, gemeinsam zu gestalten. Ihnen ist der Begriff der individuellen Freiheit seit [Beginn?] ihren Lebens fremd geblieben. Man hat sie gelehrt Ansprüche an den Staat zu stellen, der dieselben auch weitgehendst gewährte in der sicheren Gewissheit, den Wechsel eines Tages zu präsentieren und er wurde präsentiert mit dem Jahre 1939. Nun steht sie ideell und materiell vor dem Nichts.
Neue Lebensideale sind notwendig. Eine positive Kraft könnte für sie verpflichtend sein, diese Kraft kann nur die geschlossene und geeinte Arbeiterschaft darstellen. Auf einen Mann sieben bis acht Frauen, was beinhaltet diese Tatsache an seelischen und materiellen Sorgen und Nöten, welche Resultate zeitigt dies hinsichtlich der Stellung der Frau im Produktionsprozess und damit in unserem werdenden Staat? Wie schwer hat es sich gerade die Frau werden lassen müssen in den vergangenen Jahren, wie viel Demütigungen hat sie eingesteckt und wie ist auch sie nach der moralisch-etischen Seite ins Rutschen gekommen.
Wie notwendig wäre gerade hier die Herausstellung einer Kraft, die stark genug wäre, um die aus dem oben geschilderten Zustand zwangsläufig sich ergebende Reaktion Ziel und Richtung zu weisen. Welch ungeheure Impulse könnte diese geeinte Arbeiterklasse wecken, welche unbegrenzten Energien könnten frei gelegt werden. Wie würde er sich recken, dieser Riese «Arbeiterklasse », wenn er sieht, dass eine in sich geschlossene Arbeiterbewegung vorhanden ist. Wo nur ist die Kraft, die alle Gefahren für Frieden und Freiheit bannen, die dunklen Mächte der Reaktion, des Militarismus und Faschismus endgültig überwinden kann? Diese Kraft kann nur die gesamte Arbeiterklasse in Bündnissen [mit] der Bauernschaft und der schaffenden Intelligenz sein.
In der gegenwärtigen Lage, nachdem der Hitlerfaschismus durch seine Kriegsverbrechen, durch seine millionenfachen Missetaten gegen fremde Völker, die nationale Einheit Deutschlands aufs Spiel gesetzt hat, kann nur die Einheit aller antifaschistischen und demokratischen Kräfte des Volkes die Aktionseinheit über ganz Deutschland hinweg die nationale deutsche Einheit verkörpern und tragen. Diese Einheit kann nur dann stabil und von Dauer sein, wenn die Einheit der Arbeiterbewegung ihr festes Rückgrat bildet. Keine dieser Aufgaben aber kann die Arbeiterklasse erfüllen, wenn sie nicht die Einheit ihrer eigenen Reihen immer fester und tiefer gestaltet. Ich weiß nicht ein Problem, das es jetzt zu meistern gilt, wozu nicht als erste Voraussetzung die Einheit der Arbeiterschaft von Nöten wäre.
Nehmen wir doch den örtlich begrenzten Rahmen Untertürkheim, ohne diese praktische gemeinsame Arbeit im Arbeitsausschuss hätten wir im vergangenen Frühjahr manchmal kein Brot gehabt, da wir erst das Getreide von Mergentheim herholen und dann das Mehl von Esslingen wieder [zu] den Untertürkheimer Bäckern schaffen mussten. Ohne dieses gemeinsame Wollen aller positiv gerichteten Kräfte hätten wir nicht diese Kartoffeln gegessen, die wir wirklich gegessen haben, wäre das Fleisch oft und oft nicht da gewesen, das Sie auf Ihre Marken zu bekommen hatten, dann hätten wir vor allen Dingen in diesem Winter mehr gefroren als wir ohnehin gefroren haben.
Wir haben unter Beweis gestellt, dass man trotz den größten Schwierigkeiten doch etwas schaffen kann. Wir haben das Flüchtlingsproblem nicht zur Besorgung politischer Geschäfte benutzt, wie das von gewissen Kreisen zurzeit geschieht, und zwar von Kreisen, denen Politik sehr schlecht zu Gesichte steht, sondern wir haben im Verlauf des vergangenen Sommers durch unsere gemeinsamen Anstrengungen fast eine halbe Million Soldaten, Evakuierter und Flüchtlinge betreut.
Es steht gewissen Kreisen schlecht an, mit der Not der Flüchtlinge uns zu belasten. Das Flüchtlingsproblem steht nicht erst seit dem Jahre 1945, sondern stand schon, meine Herren hören Sie zu, im Jahre 1933, als charakterlich festgebliebene Männer, um ihrer Überzeugung treu bleiben zu können, um den Schergen der Gestapo zu entrinnen, über die Grenze flüchteten. Es stand auch im Jahre 1939, als man im Osten die Menschen von Hof und Haus verjagte, und die wir dann als Fremdarbeiter hierzulande kennenlernten und es stand erst recht im Jahre 1942, als man ganze Länder einfach okkupierte, die Bevölkerung liquidierte, um die anderen als Arbeitssklaven nach Deutschland verfrachtete.
Freilich, damals stand dieses Problem unter anderen Vorzeichen, aber es war allemal so in der Geschichte: Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Ich sage, es ist eine Schweinerei, wenn katholische Polen katholische Deutsche mit Kind und aller Habe von Haus und Hof verjagen und ich sage, es ist eine politische Schande, wenn der protestantische Tscheche, den protestantischen Deutschen von Haus und Hof verjagt. Aber diese Tatsachen sind ja nur das Ergebnis unseres Verhaltens und damit nehme ich die Verpflichtung auf mich zu helfen wo nur irgendwie möglich, um die Not dieser Menschen zu lindern, nicht aber um parteiegoistisch Interessen zu frönen.
Ich sage, wir müssen von vorne beginnen, das ist die Erkenntnis, der ich nach zwölf Jahren so recht drastisch, nachdem ich mich wieder so gewissermaßen im zivilen Leben bewege, bewusst geworden bin. Wohin ist unser einstiger Genossenschaftsgeist gekommen, der es zustande brachte, dass wir trotz aller Not und finanzieller Sorgen diese Genossenschaft so gewissermaßen aus dem Nichts schufen, nur im Vertrauen auf die starke Solidarität, als Ergebnis unserer Weltanschauung. An die Stelle des Genossenschaftsgeistes trat der kalte Egoismus, das sich Zurückziehen in seine vier Wände, freilich, man hat in den vergangenen zwölf Jahren die Genossen nie gefragt und zur Mitbestimmung aufgerufen. An die Stelle des gemeinsamen Beratens und Arbeitens trat der Ortsgruppenleiter und es war nicht Sache der Genossen darüber zu bestimmen, ob der Geschäftsführer 650 Reichsmark Gehalt bezog oder 400. Es war nicht Sache der Genossen, mitzusprechen bei der Frage, ob es gut ist und der Gemeinnützigkeit unserer Genossenschaft förderlich und dienlich, wenn man drei Häuser baut.
Ich will hier nur andeuten, wie wir alle die Begriffe verloren, die einstens an der Wiege dieser Genossenschaft Selbstverständlichkeiten gewesen. Und weil wir um diese politisch schwachen Charaktere wissen, deshalb sind wir bemüht die Entnazifizierung positiv zu betreiben. Wir wollen damit verhindern, dass Menschen um Geldes und Vorteil willen Ideale preisgeben, nicht Rache steht Pate bei unserem Tun und Wollen auf diesem Gebiet, sondern allein die Einsicht, dass die, die da in erster Linie mitschuldig geworden sind an unserem ganzen Elend, sich zunächst hintenanstellen müssen, weil sie von zu Hause aus nicht die Voraussetzung mitbringen einen antifaschistisch demokratischen Staat aufzubauen.
«Überantifaschisten», welch inhaltslose Phrase! Der, der jenes Wort geprägt, möchte die Millionen von Frauen fragen, deren Männer dem Hitler-Krieg zum Opfer gefallen, sie möchten jene Frauen fragen, deren Männer jetzt irgendwo in Kriegsgefangenschaft schmachten, während dem die Aktivisten auf Grund der Tatsache, dass sie UK gestellt waren431, sich noch in den Straßen unserer Vorortsgemeinden herumtreiben. Ihre destruktiven Gedanken an den Mann bringen das Hitlertestament kolportierend, zu dessen Wiedergabe sich deutsche Zeitungen bereitfanden. Kann man sich denn überhaupt eine widerlichere Szene vorstellen, wie jene Trauung in irgendeinem Bunker Berlins, während Millionen in die Gefangenschaft gingen; Während dem noch die heftigsten Kämpfe in den Straßen unserer Städte stattfanden, da wagt es diese Kreatur, dem deutschen Volke in Erinnerung zu rufen, dass wenn er jetzt durch Freitod aus dem Leben scheide, er es tue in der Gewissheit, dass man sich seiner liebend noch erinnern werde.
Überantifaschisten bezeichnet uns der Herr Minister, dieweil die Studenten in Erlangen bereits wieder Protestkundgebungen veranstalten und ihr nationalsozialistisches Ideengut versuchen wieder an den Mann zu bringen. Überantifaschisten, dieweil in Bremen sich Richter finden, die einen Soldaten, der desertierte in der Absicht damit den Krieg nicht zu verlängern, dass er weiter an der Front stehe, nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft zu zwei Jahren Gefängnis verurteilten. Nein, so haben wir nicht gewettet. Diese billigen Phrasen werden zu Schanden, werden gleich jener, die uns beschuldigt Agenten einer fremden Macht zu sein. Wahrhaftig, diese Macht, für die wir uns angeblich verpflichtet haben, hat es nicht nötig unsere Hilfe in Anspruch zu nehmen, sie hat jedem Einsichtigen gezeigt, wie stark sie ist. Eines muss ich aber feststellen, ohne diese Macht hätten am Sonntag keine Wahlen stattgefunden, könnten wir nicht in diesem Saale zusammensein.
Wir Kommunisten haben es nicht nötig, angesichts der auf uns zukommenden Entwicklung im nationalen und internationalen Maßstab, die Hilfe fremder Mächte anzurufen. Wir deutschen Kommunisten haben nicht die Absicht russische Staats- und Regierungsverhältnisse auf Deutschland zu übertragen. Nicht deshalb, weil die Prinzipien des russischen Staats-und Gesellschaftslebens nicht mehr die unsrigen wären, sondern weil uns die ganz anders verlaufene gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland bedingt durch ihre ganz anders geartete ökonomische Struktur, ganz andere politische Ergebnisse zeitigen muss. Die Anschuldigungen sind nicht neu, bereits Bismarck hat sie der alten Sozialdemokratie ins Gesicht geschleudert und sie haben ihn nicht bewahren können davor als die Zeit der Reife gekommen, von der politischen Bühne zu verschwinden.
Unser Weg ist klar, er wird vorgezeichnet durch die ungeheure Not, in der wir stehen. Dass zuweilen an unser Ohr klingende Gekläff soll uns nur Beweis sein, dass wir reifen und wenn wir uns für einen Augenblick diesem ganzen politischen Tageslärm verschließen und uns in die Wissenschaft und Geschichte vertiefen, dann haben wir die Gewissheit, dass diese Partei der Garant der Zukunft ist, weil sie den Weg zeigt, der gegangen werden muss, um aus den augenblicklichen Niederungen herauszukommen. Ich denke jetzt nur an die Bodenreform. Seit Jahrhunderten war man bemüht, von Seiten der armen und landlosen Bauern dieses Problem irgendwie zu lösen. Jetzt ist es angefasst worden, und zwar in der Absicht erstens: den ökonomischen Boden des Großadels und der ostelbischen Junger, die das biologische Rekrutierungsfeld des deutschen Militarismus gewesen [sind], zu entziehen. Es ist müßig sich in einer solchen historischen Stunde darüber zu unterhalten, ob die ostelbischen Junker doch nicht vielleicht ein paar Zentner mehr Getreide aus dem Morgen herausgewirtschaftet haben. Ich sage, wenn wir nichts erreicht hätten, als nur die Bodenreform, dann ist dies bis heute ein ungeheurer Fortschritt.
Aber was könnten wir denn alles erreichen, wenn wir als Arbeiterklasse organisatorisch und in unserem Wollen einheitlich zusammengeschlossen wären. Dieser Zusammenschluss, das ist die Voraussetzung zur Überwindung des Chaos. Und keine Mühe kann groß genug sein und darf gescheut werden auf dem Weg zur Einheit. Und die Mühen sind nicht so unüberwindlich und zwar ganz einfach, weil nur weniges Trennendes zwischen uns steht, aber die ganze Entwicklung tausendmal mehr Einigendes in den Vordergrund stellt und stellen wird. Kein anderes Rezept vermag ich Ihnen zu geben als diese Erkenntnis zur Überwindung des Chaos.
Wie wir die Schulen aufbauen, wie das Währungsproblem gelöst werden soll, wie die Kriegsinvaliden in den Produktionsprozess eingereiht werden sollen, wie den Waisen und Witwen dieses Hitlerkrieges ihre Lebensexistenz gesichert werden soll, wie den Invaliden und Altersrenten ein Leben gesichert werden soll, das man als solches noch bezeichnen kann, wie der Wiederaufbau in Gang kommen soll, um die Millionen Obdachlosen wieder in Wohnungen unterzubringen, wie man den Gesundheitszustand unserer Kinder rasch und schnell heben muss, wie der Kriminalität vorgebeugt werden soll, wie der moralischen Verlotterung auf allen Gebieten Einhalt zu schaffen und an die Stelle der Verlotterung eine Moralethik gestellt werden muss, die uns auch draußen in der Welt wieder Achtung verschafft, wie und auf wessen Schultern in erster Linie die Wiedergutmachung gelegt werden soll, wie unsere parlamentarische Demokratie unsere kommunale Selbstverwaltung am wirksamsten zu gestalten ist und wie wir den separatistischen Bestrebungen am ehesten begegnen und eine Zentralregierung schaffen, die die Einheit des Reiches garantiert, wie wir unsere Wirtschaft auf einer trust- und konzernfreien Basis wieder in Gang und in Ordnung bringen, dies alles sind Fragen, die uns beschäftigen und die wir eines Tages lösen müssen. Aber diese Lösung kann nicht von der Schreibtischperspektive aus erfolgen, sondern muss das Ergebnis unseres gemeinsamen Wollens sein, des gemeinsamen Wollens der stärksten und ausschlaggebendsten Gesellschaftsklasse, nämlich des werktätigen Volkes.
Ich kann Ihnen zur Überwindung des Chaos nur den einen Weg zeigen, in dem ich sage, überwinden Sie Ihr ideologisches Chaos, prüfen Sie frei und ohne Voreingenommenheit unsere Weltanschauung des Sozialismus. Nehmen Sie als einfachen Maßstab zur Beurteilung dieser unserer Weltanschauung das auch Ihnen geläufige Bibelwort: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Treten Sie heraus aus Ihrer Lethargie, lassen Sie die grenzenlose Not Mahner und Forderer sein zur aktiven Mitarbeit. Scheuen Sie keine Kritik, wenn Sie glauben damit unserer Sache zu dienen, einer Sache um derentwillen Millionen auf dem ganzen Erdenrund ihr Leben hingegeben. Ich habe sie zu Tausenden sterben gesehen den protestantischen und die katholischen Geistlichen, den polnischen und französischen Offizier, die Fremdarbeiter aller Länder, aber so ruhig, so gefasst mit so viel Heroismus als Resultat seiner tiefsten Einsicht in das geschichtliche Muss habe ich niemanden auf das Schafott steigen, unter den Strang treten sehen als meine Genossen.
Je dunkler die Nacht gewesen in den vergangenen zwölf Jahren, je klarer glänzte für sie der Stern ihrer Weltanschauung, der völkerversöhnende vom Joch der Ausbeutung befreiende Sozialismus. Lassen Sie mich schließen mit der Strophe: Atme Freund, lass Dich erfüllen ganz von der Gefährten Zuversicht, einmal sind wir Einen doch die Vielen und die stumpfe Welt zerbricht.