Schöne neue Arbeitswelt: Verantwortung ohne Macht

postmodern times. Grafik der FAU Mannheim„Im Jahre 1943 hatte der Präsident von IBM ein schreckliches Erlebnis. Während eines Rundgangs durch das IBM-Werk in Endicott, einer Kleinstadt im Bundesstaat New York, entdeckte er eine Arbeiterin, die nichts tat. Obwohl sie ihre Maschine selbst hätte einrichten können, wartete die Arbeiterin auf einen Einrichter, da das Einrichten nicht zu ihren Aufgaben gehörte. Sie hätte – laut ihrer Aussage – auch ihre Arbeit selbst kontrollieren können, aber dafür wiederum war ein Fertigungskontrolleur zuständig. Würde Arvind Krishna, der heutige Chief Executive Office (CEO) von IBM, einen Rundgang durch die Büros und Abteilungen einer IBM Niederlassung tätigen, bliebe ihm ein solches Erlebnis erspart. Stattdessen würde er intensiv in ihre Arbeit vertiefte Beschäftigte sehen, die mit Maus oder Headset ausgestattet, unablässig auf ihren Computerbildschirm schauen und ihre Hände über die Tastatur bewegen. Er könnte sicher sein, dass die Beschäftigten nicht tatenlos verharren, sondern selbst für den Fluss ihrer Arbeit sorgen würden…“ Beitrag von Hermann Bueren vom 15. August 2023 in Telepolis externer Link („Wie Beschäftigte zu Verantwortungsträgern gemacht werden – und warum das nicht zu weniger Ausbeutung führt“ (Teil 1)) – siehe mehr daraus und die weiteren Teile:

  • Schöne neue Arbeitswelt: Die Zielvereinbarung – Verantwortungslast und Gegenwehr New
    Unternehmen nutzen Krise als Chance. Wie Herrschaftsverhältnisse anonymisiert werden – und wie Beschäftigte ihre Würde behalten.
    Es dauerte aber noch bis zur Jahrtausendwende, bis Unternehmen auf diese Machttechniken gezielt und umfangreich zurückgriffen. (…) Die Unternehmen nutzten diese Krise als Chance für einen raschen und unwiderruflichen Wandel in der betrieblichen Leistungspolitik. Seitdem sind Zielvereinbarungen in Unternehmen eine übliche und weit verbreitete Methode der Leistungsbeurteilung und der Einbindung der Beschäftigten im Sinne einer Mitverantwortung für das Unternehmen. (…) Im Kern geht es bei diesen Vereinbarungen um die Übertragung von Unternehmenszielen auf die Beschäftigten. (…) Die Beschäftigten werden dadurch für Ziele in die Verantwortung genommen, die ohne ihre Mitwirkung zustande gekommen und für die nicht sie selbst, sondern Management beziehungsweise Unternehmensleitungen verantwortlich sind. Am Ende soll die Summe der Einzelziele das vorher von der Unternehmensleitung festgelegte Renditeziel erreichen. (…) Der springende Punkt dieser Verantwortungsübertragung besteht darin, dass den Beschäftigten eine Verantwortung zufällt, die sie als Individuen eigentlich gar nicht übernehmen können, weil dieser keine reale Gestaltungsmacht entspricht. Vielmehr sind es die Rahmenbedingungen (Preise, Qualität der Produkte) und Marktverhältnisse des Kapitalismus, die Macht über sie ausüben und darüber entscheiden, ob sie „ihre“ Ziele erreichen. Die Zielvereinbarung stellt im Grunde die realen Machtverhältnisse auf den Kopf, indem sie suggeriert, die Verantwortungsträger seien die Gestalter der Marktverhältnisse. (…) Wer aber Verantwortung hat oder übertragen bekommt, ohne über eine entsprechende Mächtigkeit zu verfügen, gerät zwangsläufig in Konflikte – mit sich selbst oder denjenigen, die ihn/sie in diese Situation der Machtlosigkeit bringen. Zum Konflikt in und mit sich selbst kommt es, wenn übertragene Verantwortung über das eigene Leistungsvermögen hinausgeht. (…) In der Regel reagieren Betroffene so, wie es die responsible Methodik intendiert: Sie suchen die Schuld bei sich selbst und führen innere Monologe über eigenes Versagen und Erfolglosigkeit. Schon längst hat der moderne Kapitalismus diesen Umgang mit der Überlastung in seinen Diskursen zum Thema gemacht und zu einer Ideologie der Selbstaktivierung verdreht. Zum besseren „Handling“ eigener Verantwortung werden den Beschäftigten Resilienztrainings empfohlen. (…) Aber: Achtsamkeit oder Resilienz schaffen die Probleme der Verantwortungsübertragung und fehlender Mächtigkeit nicht aus der Welt. Und nicht immer reagieren Beschäftigte so, wie es die responsible Methodik uns glauben macht. Sie suchen nicht die Schuld bei sich selbst und versuchen sich auf ihre Art und im Rahmen ihrer Möglichkeiten dieser Machtechnik zu entziehen. Manche lösen den Konflikt von hoher Verantwortung und eigenen Handlungsmöglichkeiten individuell. Sie verlassen das Unternehmen und suchen sich eine Arbeit, in der sie sich mit ihrem Verantwortungsgefühl aufgehobener fühlen. Andere verbleiben im Unternehmen, wollen aber ihrer Verantwortungsbereitschaft Grenzen setzen. Sie leisten nicht mehr als vertraglich vereinbart – ein Phänomen, das gegenwärtig unter dem Stichwort „Quiet Quitting“ als ein neuer Arbeitstrend thematisiert wird. In Betrieben mit Betriebsräten und gewerkschaftlich engagierten Kolleg:innen existieren Ansätze kollektiver Widerständigkeit. Teams und Beschäftigte streiten hier mit dem Management über Aufwandseinschätzungen, erforderliche Ressourcen und Entscheidungsverantwortung agiler Projektarbeit. Mal gelingt es Projekt- oder Teamziele zu vereinbaren, was zu einer Verantwortungsentlastung des Einzelnen führen kann. Mal gelingt es, wie bei der Telekom, die Kopplung von Zielvereinbarungen mit variablen Entgeltbestandteile aufzulösen. So erleiden Beschäftigte wenigstens keine Lohneinbußen bei verfehlter Zielerreichung. Ob individuell oder gemeinsam: Diese Widerständigkeiten verkörpern den Willen der Beschäftigten, sich mit den Zumutungen übertragener Verantwortung zu arrangieren, ohne sich aber dieser Managementmethode mit Haut und Haaren zu verschreiben: Erhalten bleibt eine innere Distanz zur übernommenen Verantwortung und der Anspruch schon aus Gründen der Selbstachtung und des Schutzes der eigenen Gesundheit sich nicht ohne Wenn und Aber den Unternehmenszielen zu unterwerfen. Mit anderen Worten: Man/Frau tut das Notwendige, um den Erwartungen des Managements zu entsprechen, achtet aber darauf, keinen Schaden an Person und Würde zu nehmen. Mit dieser Haltung der Resistenz und des Eigensinns haben sie durchaus Ähnlichkeiten mit ihrer Vorgängerin in Endicott, die auch ihren eigenen Weg des Eigensinns und der Würde zu gehen wusste.“ Beitrag von Hermann Bueren vom 17. August 2023 in Telepolis externer Link – 3. und letzter Teil
  • Schöne neue Arbeitswelt: Verantwortung für die „Gesundheit“ der Maschinen 
    Wie Beschäftigte zu Verantwortungsträgern gemacht werden – und warum das nicht zu weniger Ausbeutung führt. Über den Diskurs und die Techniken.
    Die Erweiterung der Arbeitsaufgaben, die im IBM-Werk in Endicott das Problem der Störungen im Produktionsfluss beseitigen sollte, war im Grunde ein untauglicher Lösungsversuch. Denn solange die Beschäftigten sich trotz vergrößerter Arbeitsbereiche nicht als verantwortlich für Unterbrechungen der Produktion betrachten, taucht das Problem von Maschinenstopps, Ausfallzeiten und nicht ausgelasteten Kapazitäten immer wieder auf.
    Stillstände aller Art sind aber in einem kapitalistischen Unternehmen das Worst-Case-Szenario schlechthin: Sie stellen die Betriebsabläufe auf den Kopf und vermindern den Mehrwert. „Folglich“, schreiben die Sozialwissenschaftler Luc Boltanski und Eve Chiapello mit Blick auf die Frage, die Unternehmensleitungen und Management zu lösen hatten und bis heute haben, „ist es nunmehr von grundlegender Bedeutung, das Bedienungspersonal so auszubilden, dass es eine behelfsmäßige Wartung gewährleisten, Pannen antizipieren und diagnostizieren und im Bedarfsfall zügig Fachpersonal heranziehen kann. Die Arbeiter für die „Gesundheit“ der Maschinen in die Verantwortung zu nehmen, ist also unerlässlich geworden.“ (Luc Boltanski, Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, S. 123)
    Unternehmerisch denken und handeln
    Für die Diskussion der Frage, wie man Beschäftigte dazu bringen könne, Verantwortung zu übernehmen, spielt Peter Drucker, der wohl bekannteste Unternehmensberater der Nachkriegszeit, eine wichtige Rolle. Er forderte in dem 1956 erschienenen Buch „Die Praxis des Managements“ eine „unternehmerische Haltung“ der Arbeitenden ein. (…) Er kritisierte die Unternehmen für ihr Unvermögen, die Arbeiter:innen von der Notwendigkeit der Steigerung von Rentabilität und Profit zu überzeugen. Der daraus resultierende Widerstand sei nur zu überwinden, wenn die Unternehmen den „Glauben an die Würde des Menschen [so stärken], wie er im Begriff von der Verantwortung des Einzelnen für das Ganze ausgedrückt ist.“ (…)
    Im Sinne Druckers liegt also eine verantwortliche Haltung vor, wenn Beschäftigte ihre eigenen Arbeitsinteressen hintanstellen und sich die Perspektive ihres Arbeitgebers aneignen. Wie aber bringt man die Beschäftigten dazu, einen solchen Wechsel der Perspektive zu akzeptieren? Durch ein „Management by Objectives (MbO)“, zu Deutsch: die Vereinbarung von Zielen, lautete die Antwort von Drucker. „Jeder Manager, vom ‚obersten Chef‘ bis herunter zum Vorarbeiter oder Büroleiter“, lautete seine Maxime, „braucht klar umrissene Ziele. Diese müssen zeigen, welche Leistung von der Arbeitsgruppe, der der Betreffende vorsteht, erwartet wird.“ Damit gab Drucker nicht nur den Anstoß für eine Managementmethode, die heute als „Zielvereinbarung“ oder „Führen mit Zielen“ bezeichnet wird. Er gab auch dem Verantwortungsbegriff, der bis dahin durch das tayloristische Verständnis vom Management geprägt war, eine andere Note. (…)
    Mit der Figur des verantwortungsvollen Beschäftigten legte er auch – in Anlehnung an einen Begriff des Soziologen Stefan Lessenich – den Grundstein für eine subtile Moralisierung des eigenen Arbeitshandelns. Verantwortlich für das Unternehmen zu sein und sich als solche zu erweisen, soll den Beschäftigten das gute Gefühl geben das Richtige zu tun. (…)
    Mit der Figur des verantwortungsvollen Beschäftigten legte er auch – in Anlehnung an einen Begriff des Soziologen Stefan Lessenich – den Grundstein für eine subtile Moralisierung des eigenen Arbeitshandelns. Verantwortlich für das Unternehmen zu sein und sich als solche zu erweisen, soll den Beschäftigten das gute Gefühl geben das Richtige zu tun.
    Die Verantwortlichmachung
    Eine weitere Methode, die zur selben Zeit wie die Dezentralisierung entstand, wird heute in den Sozialwissenschaften als Responsibilisierung bezeichnet. Zu verstehen ist darunter ein Vorgang, durch den Akteure individuell für eine Aufgabe verantwortlich gemacht werden, die zuvor die Verpflichtung eines anderen Akteurs war oder überhaupt nicht als Verantwortung anerkannt wurde. Dies geschieht in der Regel in Form eines Appells, der Einzelne und besonders deren Bedürfnis nach Eigeninitiative und Selbständigkeit anspricht. Durch den Appell sollen sie zu erhöhtem Engagement veranlasst und ihre Verantwortung in die Richtung gelenkt werden, die der Appellierende anstrebt. (…)
    Bei der Responsibilisierung handelt es sich also um eine Verschiebung von Verantwortung auf Individuen. Im Sinne einer neoliberalen Machttechnik will sie Unternehmensinteressen nicht gegen Menschen durchzusetzen, sondern diese aktivieren und in ihre Strategie der Machtausübung einspannen. Die „Clou“ dieser Methodik besteht darin, dass die Aktivierten den auslösenden Anstoß für ihr Aktivierung in sich selbst verorten und davon überzeugt sind, es sei ihrer eigenen Motivation geschuldet, für eine Sache Verantwortung zu übernehmen, die zuvor noch jemand anderes innehatte. Zudem vermittelt ihnen die Übernahme von Verantwortung das gute Gefühl das moralisch Richtige zu tun (…)
    Unternehmensleitungen und Management können nun Verantwortung für das Unternehmen ohne Furcht vor eigenem Machtverlust verlagern und ihre Beschäftigten zu einer (Mit)Verantwortung verpflichten, ohne dass diese über die notwendige Handlungsmacht verfügen. Auch die Tatsache, dass diese heute in Folge einer dezentralisierten Form von Arbeitsorganisation zweifellos über größere Handlungsspielräume und Selbständigkeit verfügen, ändert an ihrer fehlenden Mächtigkeit wenig.
    Denn die mit Selbstständigkeit einhergehende Zunahme an Verantwortung ist eben nicht mit einem Machtgewinn verbunden, sofern wir darunter eine reale, die Verhältnisse ändernde Handlungsmacht verstehen. Zudem leisten die Techniken einer sozialpartnerschaftlichen Ideologie im Sinne einer „Wir sitzen in einem Boot“-Rhetorik wertvolle Dienste, können doch die Unternehmen im Zuge der Umsetzung dieser Methoden ihre Beschäftigten als Mitverantwortliche, ja sogar als Mitunternehmer hofieren, ohne sie an den wirklich relevanten Entscheidungen zu beteiligen.“ Beitrag von Hermann Bueren vom 16. August 2023 in Telepolis externer Link (Teil II)
  • Wie Beschäftigte zu Verantwortungsträgern gemacht werden – und warum das nicht zu weniger Ausbeutung führt
    Weiter aus dem Beitrag von Hermann Bueren vom 15. August 2023 in Telepolis externer Link: „… Diese alltäglichen Begebenheiten verdeutlichen wie sehr individuelle Verantwortung gewachsen und zu einem charakteristischen Merkmal unserer Arbeit geworden ist. Auch sind die Zeiten, in denen Arbeitgeber an das Verantwortungsgefühl ihrer Beschäftigten lediglich Appelle gerichtet haben, längst vorbei. Sie nehmen die Beschäftigten ganz selbstverständlich in die Verantwortung und betrachten Verantwortungsübernahme inzwischen als eine Art Verpflichtung, die die Beschäftigten zu erfüllen haben. Das in diesem Zusammenhang verwendete Schlüsselwort lautet „Eigenverantwortung“, ein Begriff, der ursprünglich im Kontext der neoliberalen Hartz-IV-Reformen Anfang der 2000er-Jahre vermehrt auftauchte. Beschäftigte werden aufgefordert, „Leistungen zu erbringen und Verpflichtungen zu übernehmen, die zum Erreichen übergeordneter Ziele und zum Gesamterfolg des Unternehmens beitragen“, wie die Gewerkschaft ver.di feststellt. Die Verteilung der Rollen ist dabei klar: Das Unternehmen definiert Kontext und Rahmenbedingungen, unter denen die Beschäftigten dann „eigenverantwortlich“ agieren und vereinbarte Ziele erfüllen sollen. (…) In arbeitssoziologischen Analysen wird die Zunahmen von Verantwortung als Zeichen einer „Subjektivierung“ des Arbeitshandelns gedeutet. Verstanden wird darunter ein ambivalenter Prozess. Einerseits sei eine höhere Verantwortung Ausdruck gestiegener Ansprüche der Beschäftigten an ihre Arbeit, andererseits stehe der Begriff für das gesteigerte Interesse der Unternehmen am profitablen Einsatz ihrer Arbeitskräfte. Verantwortung erscheint in diesem Zusammenhang als subjektive Eigenschaft, die von den Beschäftigten nicht nur eingefordert, sondern als Fähigkeit beziehungsweise Arbeitsvermögen von Management und Unternehmensleitungen auch systematisch genutzt wird. (…)In engem Bezug dazu entstanden zur gleichen Zeit einige Machttechniken, die heute als Dezentralisierung und Responsibilisierung bezeichnet werden und auf eine Lösung des Verantwortungsproblems im Sinne von Management und Unternehmensleitungen hinarbeiteten. Sich für das eigene Team oder für den reibungslosen Ablauf des Arbeitsprozesses verantwortlich zu fühlen und zu zeigen, ist demnach nicht einfach so entstanden oder etwas, was sich Beschäftigte im Laufe der Zeit angeeignet haben. Es ist vielmehr eine Folge konkreter Maßnahmen, die zum Ziel haben, Leistung und Motivation der Beschäftigten zu steigern. Die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown versteht die genannten Techniken in diesem Sinne als „eine Herrschaftsform, in der die singuläre menschliche Fähigkeit zur Verantwortung entfaltet wird, um Subjekte zu konstituieren und zu regieren und durch die ihr Verhalten organisiert und gemessen wird, wodurch sie für eine neoliberale Ordnung umgestaltet und neu ausgerichtet werden.“…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=214399
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