Intervention zur unsäglichen Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs: Der Rechtsstaat ist am Ende. Zwar (noch) nicht real, aber jedenfalls begrifflich.

Buchcover: "Recht, Rechtsstaat und Gerechtigkeit. Eine Einführung" von Hermann Klenner (2016)Immer häufiger nutzen nicht nur juristische Laien den Begriff, um eine law and order-Politik zu begründen. Gefährlich wird es, wenn der Rechtsstaat im kollektiven Sprachgebrauch einer Umdeutung zum Opfer fällt. (…) Einlassungen führender Regierungs- sowie Oppositionspolitiker(innen) (…) verdeutlichen ein Rechtsstaatsverständnis, das geprägt ist von Repression und Durchsetzung staatlicher Macht. Dass dies äußerst problematisch, ja geradezu rechtsstaatsgefährdend ist, zeigt sich aber erst, wenn die eigentliche, die richtige Bedeutung des Wortes Rechtsstaat zu Tage gefördert wird. (…) Denn ein Rechtsstaat zeichnet sich nicht etwa durch hohe Polizeipräsenz oder dadurch aus, dass er das bestehende Recht gegenüber dem Bürger konsequent und mit aller Härte durchsetzt, so wie es uns Frau Faeser und Herr Buschmann nahelegen. Vielmehr geht es gerade um das Gegenteil…“ Beitrag von Joel Sadek Bella im JuWissBlog vom 10. August 2023 externer Link – siehe mehr daraus und eine Anmerkung von Armin Kammrad:

  • Kampf um den Rechtsstaat: Der Politikwissenschaftler Maximilian Pichl erklärt, warum »Law« nicht »Order« ist New
    „»Der Rechtsstaat muss sich durchsetzen«, »der Rechtsstaat muss Zähne zeigen«, es brauche »die volle Härte des Rechtsstaats« – solche Sätze fallen zuhauf in der öffentlichen Debatte der letzten Jahre. Egal ob im Umgang mit Klimaaktivist*innen, bei Abschiebungen von Geflüchteten, im Nachgang zu Jugendkrawallen, zu Schlägereien im Schwimmbad oder der Vorstellung der neuesten Kriminalitätsstatistik: Immer wieder werden mit Bezug auf den Rechtsstaat parteiübergreifend – von CDU bis hinein in Teile der Grünen – Forderungen nach härteren Gesetzen, mehr Polizei oder einem »robusten Eingreifen« der Staatsgewalt laut. Auch die extreme und die neue Rechte beteiligen sich an der Umdeutung und Kaperung des Begriffs. Wenn die AfD sich beispielsweise als die »wahre Rechtsstaatspartei« bezeichnet, zielt sie tatsächlich darauf ab, einen neuen Ordnungsstaat mit einer von rechtlichen Fesseln unbeschränkten Exekutive zu etablieren. (…) Diese Debatten haben konkrete Konsequenzen: Der eigentliche politische und juristische Gehalt des Rechtsstaats wird unkenntlich; der Schutz des Einzelnen gegenüber dem staatlichen Gewaltmonopol, wie er in den Grund- und Menschenrechten verankert ist, spielt kaum noch eine Rolle. (…) Ursprünglich steht nicht der strafende und ordnende Staat im Zentrum rechtsstaatlichen Denkens, sondern gerade die Einhegung staatlicher Macht. (…) Doch die enge Verknüpfung des Rechtsstaates mit der kapitalistischen Entwicklungsgeschichte führte dazu, dass kritische Theorien und sozialistische Akteure ihm oft mit großer Ambivalenz begegneten. Und tatsächlich hatte der freiheitssichernde Kern des Rechtsstaats stets diese Kehrseite: Viele gesellschaftliche Gruppen blieben im modernen Rechtsstaatsprojekt (zumindest zunächst) unberücksichtigt, und auch für soziale Fragen war der herrschende Rechtsstaatsdiskurs systematisch blind. Sozialistische Theoretiker*innen wie der Politologe und Jurist Wolfgang Abendroth (1906–1985) setzten sich daher für einen sozialen Rechtsstaat ein, der die Handlungsmacht der Arbeiter*innen und Gewerkschaften stärken sowie die Möglichkeit zur Vergesellschaftung des Eigentums eröffnen sollte. Diese soziale Komponente hielt Abendroth für die Grundlage echter Demokratie. (…) Die erste wichtige Aufgabe besteht darin, die autoritären Strategien zur Eroberung des Rechtsstaates sichtbar zu machen. Aber auch gegenüber dem »Law and Order«-Diskurs des demokratischen Spektrums ist lautstarker Widerspruch geboten. (…) Es wäre jedoch falsch, den liberalen Rechtsstaat als beste denkbare Staatsform zu idealisieren. (…) Der Politikwissenschaftler Wolf-Dieter Narr hat in einem Beitrag für die Zeitschrift »Sozialistische Positionen« 2002 zutreffend gefordert, sich vom »herrschenden Rechtsstaatskonsens« mit seinem ordnungspolitischen und liberalen Fokus abzuwenden. Nur ein menschenrechtlich und sozial fundierter Rechtsstaat sei für progressive Bewegungen von Interesse, so Narr. Der Kampf um den Rechtsstaat(sbegriff) ist im Rahmen der aktuellen Herrschaftsverhältnisse alternativlos. Doch diese Verhältnisse sind es keineswegs. Eine umfassende sozialökologische Transformation der Arbeits- und Wirtschaftsverhältnisse sowie der politischen Institutionen kann am Ende dazu führen, dass neue gesellschaftliche Verkehrsformen zwischen den Menschen entstehen. So gesehen ist der Rechtsstaat nichts Naturgegebenes, sondern ein Produkt gesellschaftlicher, das heißt menschlicher Handlungen und Kämpfe. Die Geschichte, die die Menschen mit dem Rechtsstaat heute und morgen beschreiten wollen, ist noch nicht geschrieben.“ Artikel von Maximilian Pichl vom 12. April 2024 in Neues Deutschland online externer Link zu seiner neuesten Veröffentlichung bei der Edition Suhrkamp „Law statt Order: Der Kampf um den Rechtsstaat“ (260 Seiten, 18 Euro), erschien Mitte April 2024
  • Weiter aus dem Beitrag von Joel Sadek Bella im JuWissBlog vom 10. August 2023 externer Link: „… Der Rechtsstaat ist Rechtsstaat, weil das Recht den Staat in seinen Befugnissen begrenzt, weil der Staat sich an Gesetze halten muss und Freiheit und Eigentum nur auf gesetzlicher Grundlage beschränken darf. Volle Härte ist schon deswegen ausgeschlossen, weil Eingriffe im Rechtsstaat immer nur so weit gehen dürfen, wie unbedingt notwendig (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Das Pferd muss also von der anderen Seite aufgezäumt werden. Während immer mehr konservative und (leider) auch sich liberal nennende Politiker den Rechtsstaatsbegriff missbrauchen, um repressives Vorgehen des Staates zu legitimieren, ja sogar zu begründen, soll der Rechtsstaat den Einzelnen vor genau diesem Vorgehen schützen. Kurzum: Der Rechtsstaat dient nicht der Strafverfolgung; das machen Polizei und Staatsanwaltschaft. Der Rechtsstaat dient dem Schutz vor staatlicher Willkür, gerade in Form der Strafverfolgung. Indem der Rechtsstaatsbegriff immer und immer wieder auf diese falsche Weise verwendet wird, wird er in sein Gegenteil umgedeutet. Wohlwollende Beobachter könnten auf die Idee kommen, der Rechtsstaatsbegriff werde überhaupt nicht falsch verwendet und die oben zitierten Aussagen seien vielmehr dahingehend zu begreifen, dass sich die Strafverfolgung im Rahmen der geltenden Gesetze bewegen muss. Es solle eben nicht nur der Staat durchgreifen, sondern der an Recht und Gesetz gebundene Rechtsstaat. Zuzugestehen ist, dass nach streng juristischer Auslegung ausgehend vom Wortlaut ein solcher Bedeutungsinhalt möglich erscheint. Besonders wahrscheinlich ist er indes nicht. (…) Hilfsweise gelten folgende Überlegungen: Selbst wenn man den Hinweis auf den Rechtsstaat als Forderung nach Einhaltung von Recht und Gesetz verstünde (was nach dem Vorstehenden gut begründet sein will), stellt sich die Frage, warum es überhaupt nötig sein sollte, die Strafverfolgungsbehörden ohne konkreten Anlass ständig an ihre verfassungsrechtlichen Grenzen zu erinnern. Dazu kommt, dass eine solche Auslegung konsequenterweise dazu führen müsste, dass Äußerungen in denen nur der Staat (also nicht der Rechtsstaat) in Bezug genommen werden, so zu verstehen wären, dass keine Einhaltung von Recht und Gesetz gefordert ist. Die Begriffe Staat und Rechtsstaat stünden so in einem dichotomen Verhältnis zueinander. (…) Die Gefahr einer über Jahre andauernden Falschbezeichnung und daraus folgenden Aushöhlung des Wortes dürfte auf der Hand liegen. So gäbe es wohl auch berechtigten Aufschrei, wenn der Bundesjustizminister im Namen der Demokratie die Abschaffung von Wahlen forderte. Den Rechtsstaat für ein stärkeres Vorgehen gegen Bürger zu instrumentalisieren, steht dem in Sachen Widersprüchlichkeit in nichts nach…“
  • Anmerkung von Armin Kammrad: „Auch wenn Joel Sadek Bella Rechtstaatverständnis teilweise etwas problematisch ist, ist er wichtig, weil auch nach dem BVerfG (vgl. bes. BVerfGE 20, 331) die Unterwerfung der gesamten Staatsgewalt unter das Recht unverzichtbarer Kern des Rechtstaatsprinzips ist. Außerdem ist es, wie Joel Sadek Bella schön durch Beispiele aufzeigt, in der Tat aktuell wichtig, einem populistischen Rechtsstaatsverständnisses etwas entgegen zu setzen. Anzumerken ist jedoch, dass Joel Sadek Bella leider auch nicht ganz konsequent den Rechtsstaat des Grundgesetzes verteidigt, wenn er zwischen Staat oder staatliche Macht eine Unterscheidung zulässt oder gar selber macht. Widerspricht doch genau das dem Rechtstaatsprinzip aus Art. 20, 28 GG. Ein Staat, der kein Rechtsstaat ist, wäre verfassungswidrig, wobei nur anzumerken ist, dass dies solange kein fundamentales Problem ist, sofern Abhilfe möglich ist, d.h. eine unabhängige Judikative die Legislative und Exekutive in ihrem Handeln beschränken und angemessen steuern kann. Es sind genau diese drei Institutionen, die zusammen nicht nur den Rechtsstaat, sondern auch den Staat im Sinne des Grundgesetzes bilden.“

Siehe auch (zur Grafik): [Rezension] Produzierte Machtverhältnisse – Hermann Klenner verweist in seiner Einführung in die Rechtstheorie auf den gesellschaftlichen Ursprung der Gesetze

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=214301
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