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Frankreich vor dem zehnten Aktionstag am morgigen Dienstag: Tritt der Konflikt in eine möglicherweise entscheidende Phase?

Solidaires gegen die Rentenreform in Frankreich: Streiks, Blockaden und Demos müssen gesteigert werdenPremierministerin Elisabeth Borne und Staatspräsident Macron versuchen verbale Beruhigung (kein 49,3 mehr; offene Tür für Gewerkschaften), ohne über die „Reform“ diskutieren zu wollen – In Paris tritt nach der öffentlichen Müllabfuhr nun auch die private Abfallbeseitigung, die für die andere Hälfte der Stadt zuständig war, in einen Streik ein – Diskussion um Gewalt und Polizeiübergriffe weitet sich aus; Europarat erklärt sich besorgt; nun auch heftige Auseinandersetzungen bei einer Umwelt-Demonstration und ein Protestierender im Koma – Nach dem abgerissenen Daumen einer Schulbediensteten in Rouen am vorigen Donnerstag wird nun auch ein zerstörtes Auge eines Eisenbahners und Gewerkschaftsmitglieds (SUD Rail) bekannt – Mancherorts faschistische Attacken auf streikende Studierende – Auch ein Grund, warum die Gewerkschaften das Kräftemessen nicht verlieren sollten: Auf politischer Ebene steht der rechtsextreme RN als Gewinner der augenblicklichen Situation dar (jüngste wahlbezogene Umfrage: 26 %)...“ So der Überblick zum Artikel von Bernard Schmid vom 27.3.2023, Teil 1 – wir danken! Siehe nun Teil 2 – vor den Demonstrationen am Dienstag, den 28. März – zur Debatte um Militanz, Polizeigewalt und die extreme Rechte in Frankreich New

Teil 2 – vor den Demonstrationen am Dienstag, den 28. März – zur Debatte um
Militanz, Polizeigewalt und die extreme Rechte in Frankreich

Unser Teil 1 endete mit der Feststellung: „Schlussendlich wäre ebenfalls denkbar, dass das Regierungslager sich als „Partei der Ordnung“ durchzusetzen (vgl. https://www.lefigaro.fr/politique/avec-l-irruption-de-la-violence-emmanuel-macron-veut-incarner-le-camp-de-l-ordre-20230326 externer Link) versucht, indem sie darauf baut, eine zunehmende Tendenz zu Militanz-/Gewaltaktionen an den Rändern der Massenprotestbewegung werde die öffentliche Meinung kippen und es zum Show-down kommen. Auch dies ist nicht völlig undenkbar. Dagegen (dass es aufgeht) spricht jedoch, dass zumindest bisher auch bei etablierten Meinungsforschungsinstituten eine Mehrheit der Befragten klar die Regierung für beginnende Gewalt verantwortlich macht. (https://www.lefigaro.fr/politique/retraites-emmanuel-macron-n-a-jamais-aussi-peu-convaincu-le-soutien-a-la-mobilisation-en-hausse-20230323 externer Link)

Eine solche Positionierung stünde nicht im Widerspruch zu der Diabolisierungsstrategie, welche auch Staatspräsident Emmanuel Macron verfolgte, als er die Protestierenden in seinem TV-Auftritt vom vorigen Mittwoch, den 22. März d.J. als foule (Menge, Masse, Mob) charakterisierte, welche gegenüber „dem souveränen Volk, das durch seine Repräsentanten vertreten wird, keine Legitimität innehat“. Worauf übrigens ein Protestschild in der Demonstration vom darauffolgenden Tag in Paris mittels eines Wortspielts antwortete: fool toi-même! (Wobei das englische Wort fool – für Narr, Dumpfkopf, Idiot – gleich ausgesprochen wird wie la foule im Französischen.) Vor allem aber sorgte es für ein Anfachen des Zorns, dass Macron es sich herausnahm, Teilnehmer oder Teilnehmerinnen am Sozialprotest, hielten diese sich nach Abschluss der parlamentarischen Prozedur nun nicht zurück, explizit mit dem tatsächlichen, antidemokratischen und antihumanistisichen Mob auf dem Kapitol von Washington D.C. am 06. Januar 2021 sowie jenem in Brasilia am 08. Januar dieses Jahres zu vergleichen.

Zu diesem Punkt sei zusätzlich angemerkt, dass besonders der amtierende Innenminister Gérarld Darmanin – wenn er auch in ruhigem Tonfall spricht – eine Art Strategie der Spannung zu favorisieren scheint, die die (wahlweise) militanten Aktionen oder auch Gewalttaten etwa von Kleingruppen mehr oder minder freudig als Vorwand für eine allgemeine repressive Offensive nimmt. Und dafür dann faktisch Öl ins Feuer schüttet.

Am Abend des Donnerstag, den 23. März etwa bemühte Darmanin sich um einen martialischen Tonfall, als er vor die laufenden Kameras gab und betonte, „die radikale Linke“ sei angeblich zu der Demonstration vom Tage gekommen, „um Polizisten zu töten“. (https://www.dailymotion.com/video/x8jea3b externer Link und https://www.bfmtv.com/economie/economie-social/social/en-direct-reforme-des-retraites-nouvelle-journee-de-mobilisation-ce-jeudi-au-lendemain-de-l-interview-d-emmanuel-macron_LN-202303230035.html externer Link)

Nichts, aber auch gar nichts untermauerte diesen Vorwand einer behaupteten Mordabsicht; auch nicht die Zusammenstöße im Laufe des Tages mit verletzten Polizisten, welche wir erwähnten. (https://www.labournet.de/internationales/frankreich/gewerkschaften-frankreich/frankreich-zuspitzung-der-protestsituation-setzt-die-staatsmacht-auf-eine-strategie-der-spannung/) Und für welche die Einsatzkräfte, durch den Anstieg der Spannungen im Vorfeld, jedenfalls mitverantwortlich sein dürfen. (Vgl. dazu dieses einschlägige Video vom Knüppeleinsatz am 23.03.23 auf der place de la République, d.h. nach einer knappen Hälfte der Demostrecke; erbaulich besonders ab 3 min und 30 sec.: https://www.bfmtv.com/replay-emissions/bfm-story-week-end/manifs-chaque-soir-la-police-peut-elle-tenir-24-03_VN-202303240685.html externer Link)

Zwei Teilnehmer einer Umweltdemonstration am Wochenende im Koma

Unterdessen kam es am Wochenende des 25./26. März, zwei Tage hindurch, am Rande einer Demonstration gegen das umweltzerstörerische Projekt überdimensionierter Wasserrückhaltebedenken für die Intensivlandwirtschaft im westfranzösische Sainte-Soline (vgl. dazu ausführlich: https://www.labournet.de/internationales/frankreich/lebensbedingungen-frankreich/frankreich-kein-wintermaerchen-rentenreform-und-arbeitslosenversicherung-klimaaktivismus-und-umweltmilitanz-sowie-ein-neues-auslaendergesetz/#Teil2 und das LabourNet-Dossier dazu) zu heftigen Auseinandersetzungen.

Die Demonstration war im Vorfeld durch die Präfektin im Bezirk (Département Deux-Sèvres) verboten worden. Diese berief sich darauf, die Demonstration könne eine gewisse Anzahl von kampferprobten Personen aus dem autonomen Spektrum anziehen. Durch die öffentliche Ankündigung im Vorfeld wurde sie dadurch natürlich erst recht zum Magneten für Personen aus diesem Bereich.

Die Protestdemonstration im ländlichen Bereich wurde von Anfang durch ein riesiges Polizeiaufgebot (bzw. ein Aufgebot der Gendarmerie) empfangen. Letztere verschoss lt. eigenen Angaben 4.000 Granaten mit Tränengas, Reizgas und anderen Inhaltsstoffen. Protestierende oder ihre Unterstützer/innen sprachen überdies von vierzig Verletzten durch den Einsatz des Gummigeschosswerfers LBD, welchen Innenminister Darmanin jedoch bestreitet; laut seinen Worten bei seiner Pressekonferenz am Spätnachmittag des Montag, 27.03.23 kamen „nur“ Granatschüsse zum Einsatz.

Die Staatsmacht behauptet, 47 Gendameriebeamte seien verletzt worden, und zählt auch „sieben verletzte Demonstranten“. Letztere wiederum sprechen von über zweihundert Verletzten. Drei unter ihnen gelten als Schwerverletzte, von ihnen liegen zwei (ein 32- und 34-jähriger; einer gilt als Autonomer, der andere als „friedlicher Demonstrant“) mit schweren Kopfverletzungen im Koma. Der Zustand des Erstgenannten wird als „zwischen Leben und Tod“ befindlich beschrieben. Insgesamt nahmen laut staatlichen Angaben „7.000 friedliche Demonstranten und 1.000 gewaltbereite“, laut denen der Veranstalter/innen hingegen „20.000“ Menschen am Protestzug gegen das – besonders in Zeiten aktueller Dürre und des Klimawandels ökologisch unsinnigen und gefährlichen – Großprojekts teil.

Teilnehmende berichten überdies darüber, das Eintreffen von Rettungskräften sei auf Betreiben der Einsatzleitung hin verzögert worden, mehrere Rettungsrufe seien zwischen circa 13.45 Uhr und 15.30 Uhr für Schwerverletzte abgesetzt worden. Innenminister Darmanin bestreitet auch dies und behauptet, Ärzte seien mit Steinen beworfen worden. Auch wenn bürgerliche Medien dazu z.T. oft Sensationsberichterstattung betrieben, eine Auswahl daraus, auch weil diese einschlägige Bilder liefert:

Selbstredend trugen die Ereignisse von Saint-Soline ebenfalls zur Anheizung der innenpolitischen Spannung und des repressiven Klimas bei.

Innenminister Darmanin und die Einsatzleitung behaupteten, Demonstrierende hätten „Äxte, Beile und andere Waffen“ mit sich geführt, und präsentierte solche auf einem Tisch. Dagegen wandte eine Mitveranstalterin in den Medien – die trotz Verbots an der Demo teilnahm – ein, am Samstag habe es im Vorfeld keine In-Polizei-Gewahrsam-Nahme gegeben, was aber erstaunlich wäre, wenn zugleich zu dem Zeitpunkt solche Waffen gefunden worden wäre. Darmanin behauptet, entsprechende Personen seien mit Tötungsabsicht angereist.

Repression im Zusammenhang mit Prosteten zur Rentenreform (und zum Artikel 49 Abs. 3, d.h. Demokratiebeschränkung)

Aus einer Reihe von Städten, nicht allein aus Paris, treffen inzwischen Berichte über polizeiliche Übergriffe aus Anlass von Demonstrationen ein. Vgl. bspw.:

Zu den Übergriffen auf Medienschaffende äußerte sich, neben der bereits bei uns zitierten Journalistengewerkschaft SNJ, auch u.a. die Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“, französisch RSF abgekürzt. Vgl. dazu auch:

Auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty international hat sich eingeschaltet, um Frankreich für faktische Einschränkungen des Rechts auf friedliches Demonstrieren und eine „besonders repressive Herangehensweise“  zu kritisieren: https://www.lanouvellerepublique.fr/a-la-une/maintien-de-l-ordre-l-approche-francaise-est-particulierement-repressive externer Link

Inzwischen hat sich ebenfalls der in Strassbourg ansässige Europarat eingeschaltet, um einen kritischen Kommentar zum Vorgehen der französischen Politik abzugeben: „Aber sporadische Gewalttaten einiger Demonstranten oder andere verwerfliche Handlungen anderer während einer Demonstration können die exzessive Anwendung von Gewalt durch staatliche Stellen nicht rechtfertigen.“

In Antwort darauf erklärte Innenminister Darmanin anlässlich seiner Pressekonferenz am Montag Spätnachmittag (27.03.23), bei welcher er die Aufstellung der Polizei und sonstigen Sicherheitskräfte für die morgigen Demonstration ankündigte – 13.000 Polizisten/Polizistinnen und Gendarmen werden mobilisiert, davon 5.500 allein in Paris -, der Europarat könne ruhig „Beobachter schicken“. Vgl.:

Zerstörtes Auge bei SUD-Gewerkschafter

Zur Bilanz der Polizeieinsätze zählt auch die schwere Verletzung, die sich nicht allein die bei uns am vorigen Freitag im vorletzten Absatz erwähnte Schulbedienstete in Rouen zuzog – bei ihr handelt es sich übrigens um eine AESH, also eine Angehörige des speziellen Begleitpersonals für behinderte Schüler und Schülerinnen -, sondern auch das zerstörte Auge eines Mitglieds der Eisenbahngewerkschaft SUD Rail (SUD Schienenverkehr).

Diese schwere Verletzung ereignete sich ebenfalls am Donnerstag, den 23. März 23, im Falle des Bahnbeschäftigten Sébastien in der Pariser Demonstration. Sein geschädigtes Auge wird definitiv erblindet bleiben. Es wurde mutmaßlich durch einen Splitter einer Polizeigranate getroffen. Die Gewerkschaft SUD Rail kündigte ihrerseits an, „diese Aggression“ werde „nicht ungestraft bleiben“. Vgl. diesbezüglich:

Mindestens einen Verteidiger hat die Polizei dabei gefunden. Denn der im vorigen Jahr glücklose (weil gegen seine innerrechte Konkurrentin Marine Le Pen unterlegene) rechtsextreme Präsidentschaftskandidat Eric Zemmour erklärte dazu rundheraus: „Es gibt keine Polizeigewalt.“ (Siehe https://www.youtube.com/watch?v=gvshPK2YGv8 externer Link und https://www.europe1.fr/politique/manifestations-contre-la-reforme-des-retraites-il-ny-a-pas-de-violences-policieres-estime-eric-zemmour-4174389 externer Link)

Zur Rolle der extremen Rechten

Zemmour übernimmt dabei den Part der ideologisch geeichten, jedoch – im Unterschied insbesondere zu Marine Le Pen – weitgehend auf die Ausnutzung der „sozialen Frage“ verzichtenden Variante der extremen Rechten.

Zur aufgeworfenen Sachfrage der Haltung zur Renten„reform“ selbst erklärte Zemmour im Übrigen rundheraus: „(Wäre ich Abgeordneter), würde ich ihr zustimmen.“ (https://www.dailymotion.com/video/x8i4gmy externer Link)

Ansonsten setzt Zemmour sich zwar auch verbal von Emmanuel Macron ab – aufgrund von dessen Inkompetenz und seines angeblich linksliberal-minderheitenfreundlichen Profils sei jener nicht der Mann, der die Bevölkerung erfolgreich zu (sozialen) Opfern auffordern könne -, doch bleibt er auf einer klar elitären Linie. Die bürgerlichen Dissidenten von Les Républicains, die beabsichtigten, in der Nationalversammlung gegen die Rentenreform zu stimmen, zichtigt er so einer „Mitte-Links-Position“. Als „verantwortlich für das Klima“, das die Gewalteskalation ermögliche, attackiert Zemmour unterdessen vehement die parlamentarische Linksopposition und Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon (als ihren Mentor, Mélenchon gehört inzwischen nicht mehr der Nationalversammlung an).  Vgl.:

Darüberhinaus forderte Eric Zemmour die französische Regierung dazu auf, sich „vom Mail Oussekine-Komplex freizumachen“. Malik Oussekine war der Name eines jungen Mannes, den im Dezember 1986 – als Unbeteiligter – am Rande einer Studierendendemonstration Angehörige der voltigeurs, einer damalige (daraufhin aufgelöste) motorisierte Sondereinheit der Pariser Polizei, buchstäblich totschlugen. Dessen Schicksal wurde kürzlich auch zum Gegenstand einer relativ erfolgreichen Verfilmung. (Vgl. https://www.lepoint.fr/politique/manifestations-zemmour-appelle-l-executif-a-se-defaire-du-syndrome-malik-oussekine-26-03-2023-2513591_20.php externer Link)

Diese Aufforderung Zemmours kann man nur als Wunsch nach einer Lizenz zum beherzten Zuschlagen, eventuell ohne Tötungshemmung, auffassen…

Dagegen hat die Hauptpartei der extremen Rechten, der Rassemblement national (RN) – wie wir des Öfteren darstellten -, eine wesentlich stärker auf soziale Demagogie abstellende Position. Und versuchte, zwar gewiss nicht auf der Straße (die Rechtsextremen sind in den Gewerkschaftsdemonstrationen explizit nicht willkommen, CGT-Chef Philippe Martinez etwa erklärte den RN für „unvereinbar mit gewerkschaftlichen Werten und Zielsetzungen“), jedoch im Parlament als die vermeintlich entschlossenste Opposition aufzutreten. Unter anderem dadurch, dass die Partei einigen Lärm um ihren Antrag auf „eine Volksabstimmung über die Reform“ verabschiedete, wenn dieser auch abgelehnt wurde. (https://www.bfmtv.com/politique/front-national/reforme-des-retraites-l-assemblee-nationale-rejette-une-demande-de-referendum-du-rn_AD-202302060697.html externer Link)

Was ihm in den Augen von Teilen der Öffentlichkeit auch gelungen ist. Nicht oder kaum in jenem Teil der Gesellschaft, der aktiv gegen die Rentenreform streikt, wohl aber beim Fernsehpublikum und in wachsenden Segmenten der Wahlbevölkerung. Und bei den Menschen, die an Demonstrationen teilnehmen, wird in Paris oder in westfranzösischen Städten wie Rennes, Nantes und Toulouse kaum ein nennenswerter Teil für den RN stimmen – doch in Landstrichen wie Pas-de-Calais (Nordostfrankreich), in der Picardie oder in Lothringen, wo der RN eine echte „Volkspartei“ mit starkem Unterklassen-Votum darstellt, dürfte dies anders aussehen. Dort darf er auch im Zusammenhang mit der Rentenreform wachsende Zustimmung ernten.

Unverdient zwar, denn in der Sache hat die neofaschistische Rechte gar nicht viel zur Rentenreform zu sagen. Insbesondere nichts zu Berufsbildern mit ihrer körperlichen Erschwernissen oder ihrer Arbeitsmonotonie und zu beruflichen Krankheiten, auf die die Gewerkschaften sich berufen, um gegen eine Anhebung des Rentenalters einzutreten. Inhaltlich besteht das Einzige, was die Rechtsextremen zum Thema beisteuern – vor der umstrittenen Rentenreform Sarkozys von 2010 traten sie selbst für eine erhebliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit an, ließen diese Programmpunkt jedoch aufgrund des damaligen Meinungsklimas dann fallen -, in der Aussage, wer in jungen Jahren vor dem Alter von zwanzig schon arbeitete, müsse auch relativ früh in Rente gehen können, verdientermaßen. Ansonsten bleibt die rechte Agitation im Parlament gegen die Reform eher inhaltslos. RN-Parteichef Jordan Bardella erklärte in einem seiner TV-Interviews, zu beruflichen Anforderungen und Arbeitsbedingungen brauche seine Partei nichts zu sagen, denn jene, die unter erschwerten Konditionen arbeiteten, seien ohnehin identisch mit denen, die schon vor zwanzig malochen mussten. Eine fadenscheinige Ausflucht.

VgL. zu den jüngsten Auftritten von Jordan Bardella zum Thema:

Was die Demonstrationen und die Militanz / Gewalt betrifft, so verteidigt der RN die Polizei „als Institution“; gibt aber gleichzeitig Emmanuel Macron in der Öffentlichkeit die Hauptschuld an wachsenden Spannungen, da er „auf die Gewalt spekuliert“, um die Situation umkippen zu lassen. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/flash-actu/retraites-bardella-accuse-macron-de-speculer-sur-la-violence-20230326 externer Link und https://www.bfmtv.com/politique/front-national/reforme-des-retraites-jordan-bardella-accuse-emmanuel-macron-de-speculer-sur-la-violence_AN-202303260226.html externer Link)

Was die Partei nicht daran hindert, mittels einer Petition eifrig die „Auflösung der linksradikalen Milizen“ zu fordern; welche er im Übrigen als „nützliche Idioten“ von Macron und Regierung hinstellt, wie (aus anderen Gründen) auch die parlamentarische Linksopposition, welche lediglich eine Chaos-Show im Parlament abziehe. (Vgl. zur jüngst aufgelegten Petiton: https://rassemblementnational.fr/petition/exigeons-la-dissolution-des-milices-dextreme-gauche externer Link)

Das Stimmvolk scheint ein solches Auftreten zumindest in Teilen zu honorieren. Laut einer jüngsten Befragung im Auftrag der Sonntagszeitung JDD schnitt der Rassemblement national (RN) im Hinblick auf hypothetische Parlamentswahlen mit 26 % der Stimmabsichten als mit Abstand stärkste Partei ab (vgl. https://www.lejdd.fr/politique/sondage-le-rn-profite-du-rejet-de-la-reforme-des-retraites-134031 externer Link). Das Umfrageinstitut präzisiert, die Zustimmung zu ihm sei in jenen Wähler/innen/schichten am stärksten, die der Reform am stärksten ablehnend gegenüber stehen (wobei sich deren Ablehnung quer durch die Wählerschaft zieht).

26 %, das ist erheblich höher als das Stimmergebnis des RN bei den letzten Parlamentswahlen im Juni 2022 (damals: 18,68 %, zuzüglich 4,24 % für die durch Eric Zemmour gegründete rechtsextreme Partei mit stärker elitärem Profil, Reconquête ! oder R !).

Doch zur extremen Rechten zählen auch stiefelfaschistische Gruppen, die sich nicht unbedingt in den an Parlamentswahlen teilnehmenden Parteien dieses Spektrums – die durch ihre Wahlorientierung notwendig Rücksichten auf gesellschaftliche Akzeptanzfähigkeit nehmen – wiedererkennen.

In der Anfangs- und Entwicklungsphase der aktuellen sozialen Protestbewegung in Frankreich hielt diese (außerparlamentarische) extreme Rechte sich zunächst weitgehend zurück. Denn einerseits möchte sie sicherlich nicht als Verteidigerin des Regierungslagers und der „Reform“ auftreten. Andererseits aber auch nicht als Weggefährtin der Linken, die in dieser Bewegung – neben oder in den Gewerkschaften – aktiv waren und sind.

Doch seitdem die Studierendenschaft und die lernende Jugend sich verstärkt an Aktionen und Demonstrationen beteiligen – verstärkt insbesondere seit dem Rückgriff der Regierung auf den Artikel 49 Absatz 3 der Verfassung, und den darüber erlebten demokratischen Bruch -, hat sich dies zum Teil gewandelt. Jedenfalls im Studierendenmilieu kommt es zu einer wachsenden Zahl von Angriffen.

So fügten rechtsextreme Angreifer am zur Universität Paris-1 zählenden juristischen Zentrum René-Cassin im 13. Pariser Bezirk (auch der Verfasser dieser Zeilen war dort einmal eingeschrieben… und hat dort die Streiks 1995 erlebt…) einem Studenten einen Nasen- und Kieferbruch zu.

Angehörige der traditionell rechtsextreme Aktivitäten beherbergenden Jurafakultät der Universität Paris-II in der rue d’Assas griffen, unter der Selbstzeichnung „Waffen-Assas“ (lt. Bekennerkomminiqué) vorgehend, am 23. März einen Demonstrationszug von Studierenden im Zentrum von Paris in der Nähe der Hauptgebäude der Sorbonne an. Die Angegriffenen zählten zur Elitehochschule Ecole normale supérieure (ENS), welche in der Nähe liegt.

In den ostfranzösischen Städten Reims und Besançon kam es zu rechtsextremen Attacken auf studentische Besetzungen:

Hingegen scheint ein Angriff auf linke Studierende im westfranzösischen Rennes nicht unmittelbar im Zusammenhang mit Streikaktivitäten zu stehen, sondern vordergründig mit einem abgerissenen rechtsextremen Plakat:

Erinnert sei in diesem Zusammenhang auf den rechtsextremen Kommando- und Prügelangriff auf Studierende im Zusammenhang mit einem Streik gegen Änderungen am Hochschulzugang zu Anfang 2018 in Montpellier. Einer der damaligen Angreifer wurde als Juradozent der Universität identifiziert. Zu Anfang dieses Jahres fiel das, im Vergleich zum erstinstanzlichen Urteil milder ausfallende (bis zu einem Jahr Haft auf Bewährung), Urteil im Berufungsprozess: https://www.ouest-france.fr/societe/justice/violences-a-la-fac-de-montpellier-les-peines-contre-le-commando-dextreme-droite-allegees-44ebfc62-b76f-11ed-a4b0-37ddc7a8a1c1 externer Link

Artikel von Bernard Schmid vom 28.3.2023 – wir danken!

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(Teil 1) Frankreich vor dem zehnten Aktionstag am morgigen Dienstag:
Tritt der Konflikt in eine möglicherweise entscheidende Phase?

Vor einem neuen, zehnten Aktionstag am morgigen Dienstag – Konflikt tritt in eine möglicherweise entscheidende Phase ein – Premierministerin Elisabeth Borne und Staatspräsident Macron versuchen verbale Beruhigung (kein 49,3 mehr; offene Tür für Gewerkschaften), ohne über die „Reform“ diskutieren zu wollen – In Paris tritt nach der öffentlichen Müllabfuhr nun auch die private Abfallbeseitigung, die für die andere Hälfte der Stadt zuständig war, in einen Streik ein – Diskussion um Gewalt und Polizeiübergriffe weitet sich aus; Europarat erklärt sich besorgt; nun auch heftige Auseinandersetzungen bei einer Umwelt-Demonstration und ein Protestierender im Koma – Nach dem abgerissenen Daumen einer Schulbediensteten in Rouen am vorigen Donnerstag wird nun auch ein zerstörtes Auge eines Eisenbahners und Gewerkschaftsmitglieds (SUD Rail) bekannt – Mancherorts faschistische Attacken auf streikende Studierende – Auch ein Grund, warum die Gewerkschaften das Kräftemessen nicht verlieren sollten: Auf politischer Ebene steht der rechtsextreme RN als Gewinner der augenblicklichen Situation dar (jüngste wahlbezogene Umfrage: 26 %)

Die Ruhe vor dem Sturm, oder eine Zwischenpause in der seit Wochen tobenden sozialen und politischen Auseinandersetzungen? Jedenfalls ging es an diesem Wochenende (25. und 26. März 23) in vielen französischen Städten relativ ruhig zu. In Paris demonstrierten unterdessen am Samstag Nachmittag in der Hauptstadt ein paar Tausend Menschen gegen die Regierungspläne für ein neues Ausländergesetz (vgl. https://www.labournet.de/internationales/frankreich/lebensbedingungen-frankreich/frankreich-kein-wintermaerchen-rentenreform-und-arbeitslosenversicherung-klimaaktivismus-und-umweltmilitanz-sowie-ein-neues-auslaendergesetz/#Teil3 in diesem Jahr. (Allerdings dürfte dieses Gesetzesvorhaben auf Eis gelegt werden, in Anbetracht der schwierigen Mehrheitslage und weil die parlamentarischen Vorgänge rund um die Renten“reform“ aufzeigte, wie tief untereinander gespalten die bürgerlich-konservative Rechte in Gestalt der Partei Les Républicains ist – auf deren Reste wird das regierende Macron-Lager sich nicht als Mehrheitsbeschaffer verlassen dürfen. Nun möchte die Regierung den Text wohl aufsplitten, um den repressivsten Teil seiner Bestimmungen mit der Rechts-, die (auch durch einen Kapitalflügel erwünschte, wenn auf seine Bedürfnisse zugeschnittene) „Legalisierung“ von Arbeitskräften hingegen vielleicht mit der Linksopposition zu verabschieden. (https://www.liberation.fr/societe/immigration-un-projet-de-loi-divise-pour-mieux-passer-20230322_KWCCBWLK4VCHZDGNTONWWSXWWA/ externer Link ) Ob das mal klappt? Der Rechtsopposition würde Innenminister Gérald Darmanin ja eine stattliche Verschärfung der Bedingungen für Familienzusammenführung zubilligen. Drastischere Mittel gegen die „illegalisierte“ Einwanderung ohnehin. (https://www.francetvinfo.fr/societe/immigration/projet-de-loi-immigration-gerald-darmanin-se-declare-favorable-a-des-restrictions-du-regroupement-familial_5686700.html externer Link und https://www.lepoint.fr/politique/loi-immigration-darmanin-veut-un-texte-ferme-contre-l-immigration-irreguliere-24-03-2023-2513350_20.php externer Link

In anderen Städten fanden unterdessen auch das Wochenende über kleinere Demonstrationen zur Rentenreform statt. (https://www.lefigaro.fr/social/retraites-le-point-sur-les-mobilisations-en-france-de-ce-samedi-25-mars-20230325 externer Link) Doch viele potenziell Interessierte schöpften wohl Atem im Hinblick auf den nächsten, den zehnten zentralen „Aktionstag“ am morgigen Dienstag, den 28. März.

Im Vorgriff darauf fing die Woche am Montag früh unter anderem mit einer Blockade der Pariser (v.a. auf Wirtschaftsthemen spezialisierten) Universität Dauphine, sowie jener des Louvre-Museums – Nationalsymbol und Tourismusmagnet – durch Streikende und Protestierende an. (Vgl. https://www.sortiraparis.com/actualites/a-paris/articles/291169-reforme-des-retraites-le-musee-du-louvre-bloque-ce-lundi-par-les-agents-du-musee externer Link oder https://actu.fr/ile-de-france/paris_75056/videos-reforme-des-retraites-le-louvre-bloque-par-des-manifestants-a-paris_58422421.html externer Link und https://www.lefigaro.fr/culture/reforme-des-retraites-le-louvre-bloque-lundi-matin-par-des-grevistes-20230327 externer Link)

Im Hochschulbereich ist dies ein Novum für die Université Paris-Dauphine im Nordwesten der Stadt, die – im Unterschied zur im Stadtzentrum gelegenen, historisch ältesten Universität Paris-I (Sorbonne und Anhänge) oder zur außerhalb gelegenen Universität Nanterre – auf keine Protesttradition zurückblickt. Schon am Montag voriger Woche wurde das sozialwissenschaftliche Zentrum von Paris-1, Tolbiac (dt.: Zülpich, vom Namen der gleichnamigen Straße im 13. Pariser Bezirk) besetzt und zwar am Abend geräumt, doch danach durch Anordnung der Verwaltung geschlossen. (https://www.leparisien.fr/paris-75/reforme-des-retraites-rene-cassin-tolbiac-sorbonne-nouvelle-a-paris-plusieurs-facs-bloquees-ce-mardi-21-03-2023-EN6KTGIXMJEOPHFVLCLRINNT6A.php externer Link)

Am vorigen Freitag Abend, den 24. März d.J. beim Länderspiel Frankreich / Niederlande Staatspräsident Emmanuel Macron mit Rufen nach dessen Rücktritt. (Vgl. https://putsch.media/20230325/actualites/societe/video-macron-demission-scande-par-des-milliers-de-supporters-au-stade-de-france-pendant-le-match/ externer Link)

Mehrere Ausgangsszenarien

Dies illustriert eine sich ausweitende innenpolitische Krise hin, auch wenn es nach wie vor vermessen wäre, etwa von einem Generalstreik zu sprechen – dafür sind die derzeit auf- und abschwellenden Streikbewegungen zu sehr sektoriell eingegrenzt. (Der letzte reale Generalstreik in Frankreich ging im Juni 1968 zu Ende, was bekanntlich manche deutsche Medien in jüngster Zeit nicht hinderte, bei jedem begrenzten Arbeitskampf bspw. in mehreren öffentlichen Diensten schnell vom „Generalstreik in Frankreich“ zu fantasieren. In Wirklichkeit ist es eine schwere Aufgabe, ihn zu erreichen.)   

Dafür bieten sich nun mehrere Szenarien für eine potenziellen Ausgang ein, wobei der Verfasser nicht so unklug sein wird, am heutigen Tag behaupten, die Auflösung zu kennen. 

Denkbar wäre, dass eine sich vertiefende Krise letztlich doch zu einem Einknicken der Regierung führt und dass diese nachgibt. Dafür liegt die Latte allerdings relativ hoch. Denn eine politische Kapitulation von Staatspräsident Macron beim Thema Rentenreform würde nicht nur bedeuten, dass er auf ein zentrales Vorhaben (nicht nur seiner Person) verzichten muss. Sondern auch, dass er für die nun verbleibenden vier Jahre seiner letzten fünfjährigen Amtszeit – in ihrer seit 2008 gültigen Fassung erlaubt die Verfassung einem/r französischen Staatspräsidenten/in nur zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten, deswegen stellt sich auch die Wiederwahlfrage für Emmanuel Macron heute nicht – zur Lame Duck, zur „Lahmen Ente“ zu werten droht. Im übrigen, und deswegen, beziehen derzeit in Umfragen auch bei bürgerlichen demoskopischen Instituten kontinuierlich rund 70 % der Befragten gegen die „Reform“pläne zum Rentensystem Position; doch zeigen sich nur 21 % davon überzeugt, dass Macron bei diesem Thema nachgeben werde.

Allerdings erklärt etwa die CGT in Marseille, ihr zufolge laufe es darauf hinaus, dass das organisierte Kapitel letztlich von Macron einen Rückzieher verlange werde, weil die Auseinandersetzung ihm zu viel Geld koste. (https://www.francebleu.fr/infos/economie-social/greve-du-7-mars-le-patronat-demandera-a-emmanuel-macron-de-retirer-cette-reforme-selon-la-cgt-13-1878551 externer Link

Als Hemmschuh wird oft auch betrachtet, dass das Gesetz bereits verabschiedet ist (durch den Rückgriff auf Artikel 49 Absatz 3 der Verfassung und das Scheitern der Misstrauensanträge am 20. März). Allerdings gibt es historische Präzedenzfälle dafür, dass eine Regierung eine einmal verabschiedete Gesetzgebung oder ein einmal fest beschlossenes Projekt unter dem Druck von Protesten wieder zurückziehen musste:

Die Regierung ihrerseits setzt nach wie vor auf die von ihr erhoffte Perspektive einer Befriedung durch einen Kompromiss, welcher jedoch die Grundzüge der soeben am Parlament vorbei beschlossenen Renten„reform“ nicht antastet. So schlug zwar Emmanuel Macron unmittelbar vor der Annahme der Renten„reform“ mittels 49 Absatz 3 durch die intersyndicale (das Gewerkschaftsbündnis gegen die „Reform“) schriftlich an ihn gerichtete Forderung, ihre Mitgliedsorganisationen zu empfangen, in einem verschwiemelt formulierten Antwortschreiben aus. Nun erklärte er jedoch am vorigen Freitag vom EU-Gipfel in Brüssel aus, er werde die Gewerkschaften empfangen, sobald das Verfassungsgericht seinen Beschluss zur Rentenreform gefasst habe (in voraussichtlich circa einem Monat) – also falls diese teils oder in Gänze bestätigt worden sein sollte. In einem solchen Falle schreibt das Gesetz im Prinzip einem Staatspräsidenten vor, einen einmal verfassungsrichterlich bestätigte Gesetzestext innerhalb von 14 Tagen zu unterschreiben. Macron will danach über andere, wenn auch zusammenhängende Dinge mit seinen Gesprächspartnern reden, etwa über die Anhebung der Beschäftigungsquote der über 55jährigen (die ja auch die Unternehmen oft als „unproduktiv“ aus dem Arbeitsleben entfernt werden, was einen der Widersprüche zwischen Einzelkapitalisten und dem Staat als Gesamtkapitalisten darstellt und worauf zugleich die Gewerkschaften hinweisen, um von einer Verlängerung des Wartens auf die Rente in Vor-Ruhestands-Armut zu sprechen).

Premierministerin Elisabeth Borne ihrerseits kündigte am Sonntag scheinbar versöhnlerisch an, ab jetzt den Artikel 49-3 möglichst „nicht mehr zur Anwendung zu bringen, außer bei Finanzgesetzen“, also Haushalten. (Vgl. https://www.lefigaro.fr/politique/elisabeth-borne-annonce-ne-plus-vouloir-recourir-au-49-3-en-dehors-des-textes-budgetaires-20230326 externer Link) Unerwähnt ließ sie dabei, dass ihre Regierung den Entwurf zur Renten„reform“ in einem ziemlichen Kunstgriff zum „Nachtrags-Haushalt für die Sozialkassenfinanzierung“ (um)deklariert hatte, was eine beschleunigte Verabschiedung erst einleitete.

Ihr Arbeitsminister Olivier Dussopt sekundierte dazu, ein Dialog sei erwünscht, doch sei dieser mit „der Unordnung“ – also Chaos und Randale – unvereinbar. Also, bitte, Ruhe im Karton. (https://www.lefigaro.fr/conjoncture/le-dialogue-est-incompatible-avec-le-desordre-souligne-olivier-dussopt-20230326 externer Link)

Und eifrig bemüht man sich um eine erneute Einbindung der CFDT oder jedenfalls ihrer Führungsspitze. Dazu erklärte Regierungssprecher Olivier Véran in seinem Frühstücksinterview bei den Sendern RMC und BFM TV am heutigen Montag früh sehr explizit: „Aber wir reichen Laurent Berger die Hand!“ Also dem Generalsekretär der CFDT, welche mehrere „Reformen“ in jüngerer Vergangenheit mittrug, wie 1995 und 2003 beim Rententhema sowie 2016 bei der Arbeitsrechts-„Reform“.

Auffälliges Anbaggern, könnte man dies nennen. Doch übersieht dies ein paar Faktoren. Die CFDT-Führung wurde auf ihrem Gewerkschaftskongress im Juni 2022 durch die anwesenden Delegierten beim Rententhema überstimmt: 67 % der Delegierten klopften den Dachverband darauf fest, zumindest keine Erhöhung des Einstiegsalter zu akzeptieren (hingegen stand die Zustimmung zu einer Erhöhung der abgeforderte Beitragsjahre, auf 43, auf einem anderen Blatt). 

Darauf verwies überdies Emmanuel Macron, indem er in seiner TV-Ansprache vom vorigen Mittwoch, den 22. März – taktisch unklug – darauf hinwies, Laurent Berger selbst „wäre ja für die Anhebung des Einstiegsalters“ eingetreten, hätte man ihn nur lasen. Deswegen war der Generalsekretär der CFDT sogleich schwer sauer, sprach unmittelbar im Anschluss an Macrons TV-Auftritt von „Lügen“, um den Begriff im weiteren Verlauf der Woche im Frühstücksinterview bei den o.g. Privatfernsehsendern auf „Unwahrheiten“ zu korrigieren.

Da die CFDT-Spitze sich überdies in den vergangenen Monaten mächtig übergangen fühlte – üblicherweise sind Regierungen stärker darauf bedacht, sie einzubinden -, ist derzeit für die Regierung nicht gar so gut Kirschen essen. Dies könnte sich auch wieder ändern, doch müsste Berger seiner Basis dafür mindestens irgendeinen symbolischen Sieg mitbringen. Und dieser sollte in Anbetracht ihrer jüngsten Mobilisierung nicht gar zu kärglich ausfallen.

Denkbar ist auch, dass das Verfassungsgericht (der C.C.) das Problem irgendwie löst – vielleicht auch Macron abnimmt -, indem er das Gesetz in Gänze oder zum Großteil kassiert und der Regierung zurückgibt. Etwa, indem es auf Verfahrensregeln abstellt: Umdeklarieren zum Haushaltsgesetz juristisch fragwürdig, Rechte des Parlaments nicht ausreichend berücksichtigt… Dies wäre zwar eine Niederlage für Macron und die Regierung, jedoch eine kleinere im Vergleich zum Nachgeben gegenüber einer Massenprotestbewegung.

Winkt das Verfassungsgericht den Gesetzestext durch, bliebe den Gewerkschaften noch das Mittel des Référendum d’initiative populaire (RIP). „Diese Abstimmung auf Basis einer Volksiniative“ erlaubt die französische Verfassung seit Juli 2008: Unterzeichnen genügen Stimmberechtigte, können sie eine Abstimmung über einen fertigen Gesetzestext erzwingen. Dies wäre eine denkbare Option, jedoch erfordert diese Möglichkeit, dass mindestens zehn Prozent der Wahlbevölkerung unterschreiben, also rund 4,5 Millionen Menschen. Dafür hätten Gewerkschaften und Oppositionsparteien neun Monate Zeit, so lange bliebe das Gesetz suspendiert (in der Wirkung ausgesetzt).

Schlussendlich wäre ebenfalls denkbar, dass das Regierungslager sich als „Partei der Ordnung“ durchzusetzen (vgl. https://www.lefigaro.fr/politique/avec-l-irruption-de-la-violence-emmanuel-macron-veut-incarner-le-camp-de-l-ordre-20230326 externer Link) versucht, indem sie darauf baut, eine zunehmende Tendenz zu Militanz-/Gewaltaktionen an den Rändern der Massenprotestbewegung werde die öffentliche Meinung kippen und es zum Show-down kommen. Auch dies ist nicht völlig undenkbar. Dagegen (, dass es aufgeht,) spricht jedoch, dass zumindest bisher auch bei etablierten Meinungsforschungsinstituten eine Mehrheit der Befragten klar die Regierung für beginnende Gewalt verantwortlich macht. (https://www.lefigaro.fr/politique/retraites-emmanuel-macron-n-a-jamais-aussi-peu-convaincu-le-soutien-a-la-mobilisation-en-hausse-20230323 externer Link)

Artikel von Bernard Schmid vom 27.3.2023 – wir danken!

(Es handelt sich dabei um Teil 1 – der Artikel wird bis Mittwoch fortgesetzt!)

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=210334
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