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[LabourNet-Interview mit Ivan R.] Gewerkschaften im Krieg: Aktivist:innen in Russland brauchen vor allem Zeit, um eine neue Bewegung aufzubauen

Russland: Papierfriedenstaube hinter Gitterzaun mit Nein zum Krieg beschriebenAnlässlich des 24. Februar 2023, dem einjährigen Jahrestag des Angriffs Russlands auf die Ukraine, sprachen wir mit dem Gewerkschafter und Rechtsberater Ivan R. [anonym, Name liegt der Redaktion vor], der vor einigen Monaten aus Russland geflohen ist, da er sich weigerte, am Krieg teilzunehmen. Im Interview berichtet er über die unterschiedlichen Rollen der Gewerkschaftsdachverbände wie der staatsnahen FPNR und der unabhängigen demokratischen KTR, letzterer gehört Ivan an. Er spricht auch über die anfängliche Versteinerung der Zivilgesellschaft und der Gewerkschaften in Russland zu Beginn des Krieges und von aktuellen Streiks sowie fehlendem Streikrecht. Seiner Einschätzung nach stehen wir momentan am Beginn des Wideraufbaus der Antikriegsbewegung in Russland, was unter anderem an den Mütter-Komitees in Tschetschenien zu beobachten sei. Dieser Aufbau braucht vor allem Zeit und erfahrene Organizer:innen… Siehe das Interview von Anne Engelhardt vom Februar 2023 – wir danken für das Gespräch!

LN: Du hast Russland erst vor kurzem verlassen. Warum wolltest du weg?

Iwan: Ich habe mich vor allem wegen der Mobilisierung entschlossen, zu gehen. Als der Krieg begann, sah ich eine Chance, meine Arbeit fortzusetzen; obwohl wir viel restriktivere Gesetze haben. Es gibt viel mehr Strafen, zum Beispiel für die Behauptung, dass es Krieg gibt. Es gab eine Chance, meine Arbeit in Russland fortzusetzen, mit Menschen zu arbeiten und wenigstens etwas zu tun. Als die Mobilisierung im September 2022 begann, wurde mir klar, dass ich keine echte Chance hatte, meine Arbeit fortzusetzen. Erstens habe ich das richtige Alter, bin bei guter Gesundheit und habe sogar eine Art militärische Ausbildung während des Studiums, wie sie in vielen postsowjetischen Ländern üblich ist. Ich wäre ein perfekter Kandidat für eine Mobilisierung und habe auch keine Familie, Kinder usw. Wenn ich mobilisiert werde, kann ich meine Arbeit als Aktivist in der Gewerkschaft nicht fortsetzen oder Arbeitende legal beraten. Deshalb habe ich beschlossen zu gehen, denn ich habe nur zwei Möglichkeiten: mobilisiert zu werden oder ins Gefängnis zu gehen. Und dann hätte ich keine Möglichkeit mehr, anderen Menschen zu helfen. Und deshalb habe ich diese Entscheidung getroffen.

LN: Hättest du mehr Unterstützung von der Europäischen Union oder von Deutschland erwartet, um Arbeitende, die sich weigern, in den Krieg zu ziehen, von allen Seiten zu unterstützen, damit sie das Land verlassen?

Ivan: In meinem Fall wurde ich voll unterstützt, durch einige internationale Gewerkschaftsorganisationen. Ich wurde sehr gut aufgenommen, als ich nach Deutschland kam, Gewerkschafter:innen halfen mir bei der Unterkunft und mehr. Die Universität und der Masterstudiengang haben mich sehr unterstützt und gesagt, dass ich ein Austauschstudent sein kann. Aber wenn wir über die Situation auf breiterer Ebene sprechen – für die Russ:innen, die sich weigern, mobilisiert zu werden, sollte es mehr Programme geben. Ich kann ein Beispiel nennen. Die französische Regierung hat Menschenrechtsaktivist:innen in diesem Jahr sehr unterstützt. Sie stellte ein spezielles Visaprogramm für Personen zur Verfügung, die das Land verlassen wollen. Dutzende von Menschen und Aktivist:innen haben dieses Programm genutzt. Sie nutzten das Netzwerk der Menschenrechtsorganisation, um Russland während des Sommers 2022 und nach der Mobilisierung zu verlassen. Sie haben das Recht, ihr Visum nach einigen rechtlichen und bürokratischen Verfahren relativ schnell in eine Aufenthaltsgenehmigung innerhalb Frankreichs umzuwandeln und müsse nicht noch zusätzliche Dokumente nachreichen. Dadurch könnten Aktivist:innen weiterhin für die russische Gemeinschaft arbeiten, indem sie rechtliche Informationen bereitstellen, um Dokumente für internationale Ausschüsse über Menschenrechtsverletzungen vorzubereiten, die in Frankreich leben. Es wäre also von Vorteil, wenn z.B. deutsche Gewerkschaften die Möglichkeit hätten, so etwas zu organisieren. Aktivist:innen der Gewerkschaften würden sich sicherer fühlen, wenn sie wüssten, dass sie im Falle von Problemen die Möglichkeit hätten, im Ausland zu leben, bis die Situation irgendwie geklärt ist. Das ist also die einzige Idee, die ich habe, denn in meiner persönlichen Erfahrung ist alles sehr gut gelaufen.

LN: Um auf den Beginn des Ukraine-Krieges zurückzukommen, wie haben du und deine Kolleg:innen den Krieg zu Beginn besprochen?

Ivan: Ich telefonierte mit meinen Kolleg:innen aus den Rechtsabteilungen der europäischen Gewerkschaften nur einen Tag vor Kriegsbeginn. Alle Boulevardzeitungen und Zeitungen waren voll von den Geschichten. Es gibt russische Streitkräfte und so weiter, an dieser Grenze. Und als sie mich direkt fragten, was ich darüber denke, glaubte ich noch, dass ein Angriff nicht passieren würde, weil es absolut unlogisch wäre. Als ich am nächsten Tag aufwachte und die Nachrichten vom Krieg sah, konnte ich nicht verstehen, wie das sein konnte. Es war selbst nach ‚realpolitischer‘ Denkweise unlogisch, von der Frage der Unmenschlichkeit und anderen wichtigen Aspekten ganz zu schweigen. Und für mich war es mehr oder weniger klar, dass dieser Angriff keinen Erfolg haben wird.

Und natürlich gab es einige Versuche, mit einigen ukrainischen Verwandten Kontakt aufzunehmen. Ich würde sagen, dass jede russische Familie jemanden in der Ukraine hat, der ihr vielleicht nicht sehr nahesteht, aber dennoch verwandt ist. Diese Länder sind sehr eng miteinander verbunden, was die Beziehungen zwischen den Familien angeht. Und es war schwierig, denn das Problem war: Was soll ich sagen? Noch schwieriger war es für die Menschen aus der älteren Generation, wie zum Beispiel meine Eltern, denn sie waren viel stärker in die offizielle Propaganda eingebunden. Ihre Botschaft an die ukrainischen Verwandten war sehr, sehr, sehr verrückt. Ich hatte die Interaktion zwischen meinem Vater und seinem Cousin in der Ukraine gelesen, die absolut unglaublich war. Die Menschen in der Ukraine leben im Krieg, und mein Vater hat ihnen nur die offizielle Propaganda gezeigt!

Ich dachte: Was kann ich geben? Was kann ich für die Menschen tun? Es war aus mehreren Gründen nicht so einfach zu wissen, wie wir reagieren sollten. Erstens ist es nicht einfach zu verstehen, was man in einer solchen Situation sagen soll. Der zweite Grund ist, dass es selbst innerhalb der Demokratischen Gewerkschaft viele verschiedene Positionen gibt. Unser Demokratischer Gewerkschaftsbund (KTR) ist viel antimilitaristischer als der größere Gewerkschaftsbund (FNPR), der eng mit dem Staat verbunden ist. Aber selbst unter unseren Mitgliedern gibt es einige, die diesen Krieg und den Präsidenten unterstützen. Als demokratische Organisationen sollten die Gewerkschaften die Position des Volkes vertreten. Und du kannst nicht sagen, ich weiß besser, was du willst als du selbst, weil ich versuche, das System zu bekämpfen, wenn einige Vertreter:innen nur über ihre eigene Position sprechen. Und in dieser Situation ist es sehr schwierig, mit deiner Führung die Meinung der Menschen zu ändern, weil du in dieser Situation die ganzen Propagandainstrumente bekämpfen musst, die im Land wirken. Und bei einigen Menschen kannst du ihre Meinung ändern. Aber bei der Mehrheit der Unterstützer ist das nicht so einfach. Ich würde sagen, dass fast alle in unserer Führungsriege unserer Gewerkschaft eine Antikriegsposition haben. Der dritte Punkt, den wir berücksichtigen mussten, ist die restriktive Gesetzgebung, ein Gesetz über ausländische Agenten und einige strafrechtliche Sanktionen für Diskussionen über die Armee. Aber nach einem Tag der Diskussion formulierten wir eine Erklärung, die eine klare Antikriegsposition zum Ausdruck brachte, aber in der Frage, wie sie geregelt werden sollte, neutral war. Und wir haben sie veröffentlicht. Und das zeigte jedem, der die Situation in Russland versteht, was wir sehen und was wir wirklich tun. Und das war auch für unsere Mitglieder klar, die eine andere Position vertreten. So hat KTR auf diese Situation reagiert. (Siehe dazu auch Beitrag von Carmen Ludwig, Referentin für Internationales, am 31.03.2022 bei der GEW externer Link )

LN: Und wie habt ihr die Reaktion des größeren Gewerkschaftsverbands FNPR besprochen, der den Krieg faktisch begrüßte?

Ivan: Ja, sie haben ihn voll und ganz unterstützt, wie sie es in den letzten 30 Jahren jedes Mal getan haben. In den 1990er Jahren gab es einige Streiks gegen die wirtschaftliche Situation, aber sie haben sich nie an wirklichen politischen Aktivitäten beteiligt, sogar in einigen Fällen wie der Rentenreform, einem offensichtlichen sozialen Konflikt im Jahr 2018. Der Vorsitzende der FNPR sagte, er würde sich nicht an Kampagnen oder sozialen Aktivitäten beteiligen, weil die Regierung diese Reform voll und ganz unterstütze. Manchmal beteiligen sie sich auch an politischen Kampagnen und Aktionen außerhalb der normalen Gewerkschaftsarbeit. Im Mai 2022 organisierten sie zum Beispiel eine einzigartige Auto-Rallye durch das ganze Land. Sie reichte vom Fernen Osten bis nach Moskau. Diese Rallye wurde von der Parole begleitet, Putin und den Krieg zu unterstützen, da er mehr Arbeitsplätze bringen würde usw.; eine verrückte Mischung von Slogans. Diese Unterstützung für den Krieg half ihnen jedoch nicht, auf normale Weise weiterzuarbeiten. Auch gegen die FNPR gibt es einige, ich würde sagen, negative Reaktionen und Konsequenzen von Seiten des Regimes. Zum Beispiel wurde eine ihrer Anwaltsgewerkschaften vom Gericht aufgelöst, und sie haben nicht einmal darauf reagiert. Das war zu Beginn des Herbstes 2022.

Außerdem hat die neue russische Regierung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 30 Jahren mehr als 1700 Vermögensgegenstände an die Gewerkschaften verschenkt und kürzlich entschieden, dass diese Gegenstände an den Staat zurückgegeben werden müssen. Sie versuchen, diese Entscheidung anzufechten, aber niemand kennt das Ergebnis. Der Staat hat eine beträchtliche Anzahl von Gewerkschaftsobjekten aufgegeben, vor allem einige Ferienanlagen wie Hotels im südlichen Teil des Landes. Trotz ihrer Unterstützung der Regierung gab es also auch einige Maßnahmen gegen die FNPR.

LN: Inwiefern hat der Krieg andere Streiks beeinflusst, die vielleicht nicht direkt mit dem Krieg zu tun haben, wie z.B. die Müllabfuhr und das medizinische Personal in verschiedenen Gebieten?

Ivan: Einige unabhängige Untersuchungen über die Anzahl der Streiks und Aktionen zeigen, dass es nach Kriegsbeginn einen sehr schnellen Rückgang der Aktivitäten gab. Jetzt sind sie wieder angestiegen. Aber am Anfang war es fast überall so: Die Konflikte gingen zurück, weil die Menschen emotional versteinert waren, selbst wenn sie den Krieg unterstützten. Und sie beteiligten sich nicht an irgendwelchen Aktivitäten. Sie waren verblüfft und dachten: „Was passiert da, und was sollen wir tun? Wie sollen wir arbeiten? Sollen wir unsere Organisationen retten und weitermachen, oder sollen wir sagen, dass wir gegen den Krieg und für den Sieg der Ukraine sind und einfach vernichtet und eingesperrt werden?“ Das war zum Beispiel eine Frage, die in meiner Gewerkschaft diskutiert wurde, weil sie sich gerade in der kritischsten Phase befindet. Aber nach einigen Monaten, als der Krieg ein Teil des Lebens wurde und die Mobilisierung begann, würde ich sagen, dass dies diesen Organisationsprozess zerstört hat. Wenn wir darüber sprechen, wie wir darauf Einfluss nehmen können und welche Instrumente die Gewerkschaften in dieser Situation haben, würde ich sagen, dass sich nicht viel geändert hat, weil uns die meisten unserer Instrumente schon vorher genommen wurden.

Streiks wurden Anfang der 2000er Jahre verboten, als das neue Arbeitsgesetz eingeführt wurde. Es ist fast unmöglich, etwas zu organisieren. Und wir können es in den offiziellen Statistiken sehen. Im Jahr davor hatten wir eine durchschnittliche Anzahl von Streiks, etwa 500 oder 700, so etwas in der Art, von Jahr zu Jahr, manchmal mehr, manchmal weniger, und nach der Einführung hatten wir 17, zehn, fünf und dann 2, 0, 0, 1, 0, 3, so etwas in der Art. Das zeigt, dass es unmöglich ist. Demonstrierende und öffentliche Aktionen gab es schon zu Beginn der Pandemie und vielleicht auch schon etwas früher. Und es gab erste Demonstrierende mit eigenständigen Forderungen, Slogans usw. Aber seit Beginn des Krieges war das alles verboten. Und dann kam es nicht mehr zurück. Wir hatten Informationskanäle, mit denen wir unseren Standpunkt darlegen und auf einige Aktionen hinweisen konnten. Wir hatten einige rechtliche Instrumente, um Gerichtsdokumente, Beschwerden und Fälle vorzubereiten. Und wir konnten einige öffentliche Kampagnen machen. Das ist eine Kombination aus der Nutzung von Unterstützung oder der Organisation von Aktivitäten vor Ort und Rechtshilfe. Es war sehr ad hoc in jeder Situation.

Es gibt keine Standardregeln, aber wir nutzten diese Methoden, was von Vorteil war. Das hat zum Beispiel die unabhängige Gewerkschaft der Medizinisch Arbeitenden sehr oft getan. Wir haben es auch getan. Und das ist vielleicht das einzige Instrument, das nicht mehr so leicht zugänglich ist, nicht wegen irgendwelcher Einschränkungen, sondern wegen der Selbstzensur. Vielleicht sollten wir viel genauer sein mit unseren Slogans, mit unseren Bündnissen, mit wem wir in diese Kampagne eintreten, mit wem wir unsere Slogans nicht vereinigen und so weiter und so fort. Legale Aktivitäten und soziale Kampagnen sind heutzutage alle möglich. Aber jedes Mal musst du über die Konsequenzen und die Reaktionen nachdenken und ganz klar die Methoden wählen, die funktionieren, und die Menschen, die an dem Prozess beteiligt sind.

LN: Haben die aktuellen Streiks in irgendeiner Weise mit den Folgen des Krieges zu tun, z. B. mit wirtschaftlichen Veränderungen? Oder sind es nur typische Verhandlungsrunden?

Ivan: Das hat natürlich nicht direkt mit dem Krieg zu tun. Allerdings hat der Krieg den wirtschaftlichen Niedergang des Landes beschleunigt. Das war aber schon vor dem Krieg so, vor allem in den Bereichen wie Bildung, Gesundheitswesen, Wissenschaft usw. Und in einigen Sektoren, wie z. B. bei der Müllabfuhr, verbesserten sich die Arbeitsbedingungen und die Gehälter. Dieser Prozess begann jedoch schon vor Jahren und wurde erst durch die Pandemie und dann durch Krieg und Sanktionen beschleunigt. Es hätte aber auch schon früher passieren können. Das liegt vor allem an den Arbeitsbedingungen und an den politischen Problemen.

LN: Wie siehst du die aktuellen Antikriegsaktivitäten abseits der Gewerkschaften?

Ivan: Die Gewerkschaften versuchen, sich nicht direkt an solchen Aktivitäten zu beteiligen. Selbst in unserer Gewerkschaft, wo die Mehrheit des Vorstandes gegen den Krieg war, haben wir davon abgesehen, eine Erklärung gegen den Krieg abzugeben. Es wäre für unsere Mitglieder nicht sehr vorteilhaft gewesen, also haben wir es anders gemacht – nur unseren eigenen Namen benutzt, ohne jegliche Verbindung zu den Gewerkschaften. Ich würde sagen, dass man von demokratischen Gewerkschaften wie unserer Organisation erwartet, dass sie sich nicht an politischen Aktionen beteiligen, weil das zu gefährlich für ihre Organisation ist. Die allgemeine Strategie besteht darin, unsere Organisation so lange wie möglich zu erhalten und so viele Menschen wie möglich zu organisieren, trotz solcher Bedingungen. Aber es ist nicht verboten, an Antikriegsaktivitäten teilzunehmen, wenn du alleine gehst. Ich weiß auch, dass es Mitglieder von Antikriegskoalitionen, Antikriegsgruppen, Antikriegskanälen usw. gibt. Aber noch einmal: Es handelt sich nicht um eine gewerkschaftliche Aktivität. Es ist eine persönliche Aktivität von Menschen, die sich in Gewerkschaften und Antikriegsbewegungen engagieren.

LN: Als die Mobilisierung am 21. September 2022 begann, war das ein Meilenstein oder gab es eine Veränderung im Antikriegswiderstand im Allgemeinen?

Ivan: Ja, denn erstens gab es mehr Aktivismus. Die Menschen, die bisher passiv waren, natürlich nicht alle, aber einige von ihnen begannen, sich selbstständig viel aktiver an der finanziellen Unterstützung von antimilitärischen Aktionen zu beteiligen. Dadurch entstand auch eine weitere Gruppe von Menschen, die aufgrund der Propaganda nicht gegen den Krieg waren. Für diese Gruppe war es ein bisschen wie ein Kolonialkrieg, der irgendwo anders stattfand und den niemand interessierte. Diese Menschen begannen auch, viel kritischer zu sein. In der Art, dass sie sagten: „Ihr habt uns versprochen, dass eine Berufsarmee den Krieg machen würde. Und ihr hattet einen Plan. Ihr hattet eine Strategie. Was ist also passiert? Warum braucht ihr jetzt unsere Leben?“ Und einige Leute hatten überhaupt keine Position; und jetzt, wenn sie die Nachrichten sehen, verändern sich diese Gruppen, würde ich sagen. Jetzt haben wir viel mehr antimilitärische Bewegungen. Aber es ist viel komplizierter. Es gibt Menschen, die aus moralischen Gründen denn aus politischen Gründen gegen den Krieg sind, und Menschen, die nicht gegen den Krieg sind, sondern gegen die Art und Weise, wie „unsere“ Regierung ihn führt. Viele hatten vorher keine politischen Ansichten und waren nie in die Politik involviert. Und in diesen Gruppen gibt es auch einige Rechtsradikale, die glauben, dass wir ein Imperium sind und sich fragen, warum die Regierung Fehler gemacht hat. Und sie denken, sie würden es besser machen, weil sie echte Patrioten sind. Die Unterstützer der Regierung sind jetzt viel kleiner als noch zu Beginn des Krieges.

LN: Welche Rolle spielen die Frauen in diesem Krieg?

Ivan: Jetzt stehen wir erst am Anfang des Prozesses. Ich würde sagen, der Aufbau dieser Bewegung hat einen überzeugenden Kern von Müttern, die während des Tschetschenien- und des Afghanistankriegs aktiv wurden. Als sich die Mütter aus verschiedenen Orten zusammenschlossen, gründeten sie Mütterkomitees. Anfang der neunziger Jahre wurde daraus eine Art NGO, die denjenigen, deren Söhne mobilisiert wurden und am Tschetschenienkrieg teilnahmen, mit Informationen und Nachforschungen bei der Rechtsberatung half. Sie halfen dabei, Menschen zu finden, die verschollen und getötet worden waren und von denen niemand etwas wusste. Sie halfen sogar bei den Verhandlungen mit der anderen Seite des Konflikts. Und sie waren eine mächtige Organisation, sehr berühmt.

Sie waren die ganze Zeit über aktiv und haben meistens mit Menschen gearbeitet, die regelmäßig jedes halbe Jahr mobilisiert werden. Aber sie haben ihre Macht verloren. Und jetzt gibt es einen neuen Prozess und einen Grund für die Menschen, sich wieder zusammenzuschließen. Und natürlich hilft die alte Organisation, die den Kern der Menschenrechte gerettet hat, den Menschen weiterhin, aber sie sind überlastet. Sie können keine guten Informationen oder Kampagnen machen, weil sie so viel juristische Arbeit wie möglich machen. Aber die Menschen organisieren sich oder schließen sich dieser Organisation an oder gründen etwas anderes. Und jetzt gibt es viele Gruppen, aktive Gruppen von Müttern von mobilisierten Menschen, die unabhängig sind. Sie haben auch unterschiedliche Positionen zum Krieg. Einige von ihnen sind Aktivist:innen gegen den Krieg und beteiligen sich an allen Aktivitäten der Opposition, andere sind in erster Linie gegen eine solche Kriegsstrategie mit Mobilisierung. Natürlich sind unterschiedliche Leute an diesen Aktivitäten beteiligt, aber sie wachsen in nur ein paar Monaten wieder an. Ich denke, dass es nach einem halben oder vielleicht einem Jahr wieder eine sehr starke Bewegung sein wird.

Im Moment weigern sich manchmal Leute, an die Front zu gehen oder sind schon an der Front und weigern sich, an Manövern teilzunehmen. Manche haben sich einfach ein Taxi bestellt und sind nach Hause gegangen. Einige von ihnen verstecken sich in den Wäldern. Und das ist etwas Positives.

LN: Was muss deiner Meinung nach passieren, um den Krieg zu beenden?

Ivan: Das ist eine gute Frage. Ich denke, es braucht Zeit, denn jede echte soziale Bewegung und Kundgebung und fast jede Aktivität, die auf echten Menschen basiert, nicht nur auf ein paar Aktivist:innen, braucht Zeit, um sich aufzubauen. Und sie müssen erklären, dass jede Person in dieser Aktivität für den Erfolg notwendig ist. Und das ist nicht so einfach zu vermitteln, und du brauchst Zeit dafür. Es würde helfen, wenn du die Zeit hättest, etwas zu tun, um die Menschen einzubeziehen, Zeit, die dir die Regierung zu stehlen versucht. Die Menschen brauchen mehr Motive und Absichten, um sich an diesem Prozess zu beteiligen. Dennoch würde ich sagen, dass, wie in fast jeder revolutionären Situation und erfolgreichen Protestsituation, die wichtigste Arbeit für die Zerstörung der Regierung von der Regierung selbst geleistet wird. Wir brauchen eine Regierung, die sich mit jedem Schritt, den sie unternimmt, selbst zerstört. Und dann, wenn sie ins Wanken gerät, ist eine gewisse Aktivität notwendig, um die Situation zu entscheiden. Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Wir brauchen die Zeit und die Ausbildung von Aktivist:innen, Crowd-Organisator:innen und einfachen Leuten, die sich engagieren.

Interview von Anne Engelhardt vom Februar 2023 – wir danken für das Gespräch!

Weiteres zum Thema im LabourNet Germany:

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