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Frankreich: Die Mobilisierung zum Sozialprotest übertraf die Erwartungen – weitere Aktionen und Streiks über den 23.1. bis zum nächsten Aktionstag am 31.1.

Demo in Paris am 19.1.2023 gegen die Rentenreform - Foto von Bernard SchmidMindestens anderthalb Millionen Menschen auf den Straßen unterwegs und ohne kontraproduktive Zusammenstöße – Stark befolgte Streikaufrufe u.a. im öffentlichen Schulwesen, im Transportsektor; nicht unbeträchtliche Drosselung der Energieproduktion – Beteiligung auch der Privatwirtschaft, u.a. massiv seitens der Airbus-Beschäftigungen in Toulouse – Die zentrale Frage lautet nun: wie weiter? Unterschiedliche Strategien im Streikbündnis der Gewerkschaftsvorstände und Kompromisslösung…“ Artikel und Fotos von Bernard Schmid vom 20.1.2023 – wir danken!

Frankreich: Die Mobilisierung zum Sozialprotest übertraf die Erwartungen 

Mindestens anderthalb Millionen Menschen auf den Straßen unterwegs und ohne kontraproduktive Zusammenstöße – Stark befolgte Streikaufrufe u.a. im öffentlichen Schulwesen, im Transportsektor; nicht unbeträchtliche Drosselung der Energieproduktion – Beteiligung auch der Privatwirtschaft, u.a. massiv seitens der Airbus-Beschäftigungen in Toulouse – Die zentrale Frage lautet nun: wie weiter? Unterschiedliche Strategien im Streikbündnis der Gewerkschaftsvorstände und Kompromisslösung

Demo in Paris am 19.1.2023 gegen die Rentenreform - Foto von Bernard Schmid„Die Rente vor der Gicht“ forderte ein Demoplakat am gestrigen Donnerstag, den 19. Januar d.J. in Paris. Zahlreiche andere enthielten Wortspiele rund um die ähnlich lautenden Begriffe retraite (Hauptbedeutung: Rente) und retrait (Rückzieher, Rückzug). Alles sprachen sich glasklar gegen die Regierungspläne zur Renten„reform“ aus.

Jung und alt waren in dem wirklich generationsübergreifenden Demonstrationszug vertreten. Auch eine ganze Reihe von Kindern, die ihre Eltern begleiteten, da die Lehrkräfte sehr massiv streikten – viele von ihnen (den Lehrkräften) waren wiederum als gemeinsame Abordnungen ihrer Schulen, identifizierbar durch gemeinsame Plakate, in der Demonstration vertreten. Am Nachmittag bezifferten die Gewerkschaften die Streikbeteiligung mit rund 70 Prozent im Grundschulwesen und 65 Prozent an Sekundarschulen, ein außerordentlich hoher Wert; das Bildungsministerium (das da traditionell seine eigenen Berechnungsmodalitäten hat) auf gut die Hälfte.

Wie viele Leute waren es nun, die da im Protestzug unterwegs waren?  Es ist, jedenfalls auf die französische Hauptstadt bezogen, schwierig zu sagen: Die Masse der Teilnehmenden sorgte dafür, dass sich der Demonstrationszug auf den Boulevards zwischen der place de la République und der place de la Bastille und – im Anschluss – weiter bis zur place de la Nation in der Straßenmitte oft Viertelstunden lang kaum gar nicht voran bewegen konnte. Unterdessen aber quoll der Strom auf beiden Seiten über die Trottoirs, aber auch über Parallelstraßen, so dass man kaum den Überblick zu behalten vermochte. Die Straßenbreite, die man normalerweise zur Messung der Dimensionen einer Demonstration (nebst Dauer und Dichte) heranziehen kann, umfasste circa zwanzig Personen; doch zogen oft eher fünfzig Menschen gleichzeitig vorbei, da der Protestzug sich auf mehreren Parallelrouten gleichzeitig Bahn brach. Insgesamt dauerte das Vorbeiziehen auf dem boulevard Beaumarchais, kurz vor Erreichen der place de la Bastille, ungefähr zweieinhalb Stunden.

Eine Idee des Ausmaßes vermittelt die Tatsache, dass der Demonstrationsblock der Union syndicale Solidaires – das ist die linkeste, aber sicherlich nicht die größte Gewerkschaftsorganisation in Frankreich – allein einen runden Kilometer Länge maß. Dadurch, dass die Union syndicale Solidaires (Zusammenschluss der SUD-Gewerkschaften) dieses Mal vorne in der Demonstration lief und diese eröffnete, hatten ihre Reihen sich sicherlich auch mit vielen Menschen gefüllt, die sich relativ weit vorne einreihen wollten. Die CGT, historisch ältester Gewerkschaftsdachverband in Frankreich, hatte, im Unterschied zu früheren Jahrzehnten, völlig auf jeglichen hegemonialen Ansprüche verzichtet, die Einheit in konstruktivster Weise unterstützt und dieses Mal den hinteren Teil der Demonstration gestellt. In der Vorwoche hatte der amtierende CGT-Chef (noch bis zum Gewerkschaftskongress der CGT im März d.J.) Philippe Martinez bei einem seiner TV-Auftritte betont: „Wenn nur gewerkschaftlich Organisierte kommen, werden wir nicht zahlreich genug sein. Wir rufen alle (= Beschäftigten) dazu auf, zu kommen!“ Strategische Bescheidenheit statt hegemonialer Rolle war angesagt.

Demo in Paris am 19.1.2023 gegen die Rentenreform - Foto von Bernard SchmidAuch die CFDT als nicht mitglieder-, aber seit 2018/19 in den Personalvertretungswahlen stimmenstärkster Dachverband (an der Spitze rechtssozialdemokratisch geführte, wobei die Delegiertenstimmen auf ihrem letzten Gewerkschaftskongress im Juni 2022 die zuvor widerstrebende Führung auf einen Oppositionskurs gegen die bereits in der Luft liegende Rentenreform zwangen) war durchaus nicht nur symbolisch vertreten. Kurz vor Erreichen des Auftaktorts auf der place de la République sammelten sich ihre Mitglieder auf dem boulevard Magenta, man durfte ihre Zahl zu dem Zeitpunkt (vor Demobeginn) dort auf 1.000 bis 2.000 schätzen. Dies hat der Verfasser in den letzten dreißig Jahren selten bis gar nicht gesehen; wenn die CFDT in der Vergangenheit zu Demonstrationen kam, dann entweder mit einem symbolischen Kontingent oder nur mit dem harten Kern ihrer internen Linksopposition, also bei Pariser Demonstrationen mit maximal wenigen hundert Menschen. Dieses Mal stellte sich das Bild anders dar. Mindestens Teile der CFDT hatten real mobilisiert.

Am Abend sprachen die französischen Gewerkschaften allein im Hinblick auf Paris von „400.000“, das Innenministerium seinerseits von „80.000“ Teilnehmenden. Eine genaue quantitative Abschätzung fällt dem Verfasser dieser Zeilen schwer, es dürfte jedoch als gesichert gelten, dass die Beteiligung in Paris im sechsstelligen Bereich lag.

In ganz Frankreich fanden in circa 230 Städten unterschiedlicher Größe Demonstrationen statt. Die Gesamt-Teilnehmer/innen/zahl bezifferte das französische Innenministerium am Abend mit „1,160 Millionen“, die Gewerkschaften sprachen von „zwei Millionen“.

In mittleren Kreishauptstädten lässt sich dabei die Dimension leichter einschätzen als in Paris. Im südwestfranzösischen Pau – die Stadt hat rund 77.000 Einwohner/innen, wobei Demonstrierende natürlich auch aus dem Umland kamen – spricht die Polizei, sprechen die Behörden von 13.000 Teilnehmenden. Auf Toulouse bezogen sprachen die Privatfernsehsender BFM TV und RMC von 50.000 Teilnehmenden, „darunter allein 5.000 bis 10.000 Beschäftigte von Airbus“, dem größten Industrieunternehmen der Stadt und in der Region. Die Teilnahme schloss also ganz offenkundig auch Privatunternehmen ein und umfasste nicht überwiegend die öffentlichen Dienste, in denen der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Frankreich erheblich höher liegt.

Bahn, Busse (im Raum Paris, Marseille, Nizza…) und Métrozüge warten ankündigungsgemäß stark von Arbeitsniederlegungen betroffen.

Demo in Paris am 19.1.2023 gegen die Rentenreform - Foto von Bernard SchmidDie Energieproduktion in Frankreich sank an dem Tag laut Angaben des Stromunternehmens EDF und Regierungszahlen um 5.000 Megawatt, laut Zahlen der (zur zeitweiligen Senkung der Energieproduktion im Zusammenhang mit dem Streik aufrufenden) CGT um 7.000 Megawett.

Im Vorfeld hatte es Diskussionen darüber gegeben, dass die CGT auch androhte, etwa Wahlkreisbüros von Macron und die „Reform“ unterstützenden Abgeordneten gezielt den Strom abzudrehen – was in den Medien zu Polemiken führte und dort zum Teil als angebliches Faustrecht und „Druck auf frei gewählte Abgeordnete“ dargestellt wurde. Der Linksparlamentarier François Ruffin (u.a. Mitbegründer der Platzbesetzerbewegung Nuit debout im Frühjahr 2016) hatte versucht, dem Druck zu entgehen, indem er in einem TV-Interview zu erkennen gab, es sei vielleicht besser, „positive“ Maßnahmen – etwa das Umstellen von Haushalten auf den günstigeren Nachtarif – durchzuführen, ohne sich jedoch ausdrücklich zu distanzieren. Das Energieunternehmen Enedis hatte seinerseits mit Strafanzeigen im Falle von Abschaltungen gedroht.

Letztendlich kam es jedoch kaum zu gezielten Abstellungen des Stroms, allem Anschein nach nur in zwei Fällen, in einem Industriegebiet in Massy südlich von Paris (von 06.30 Uhr bis 08 Uhr früh, also eher als symbolischer Nadelstich) sowie im ostfranzösischen Chaumont, wo Behörden wie der Präfektur, d.h. der juristischen Vertretung des Zentralstaats, und dem Rathaus bis elf Uhr am Vormittag der Strom abgestellt blieb. Ansonsten handelte es sich durchweg um eine allgemeine Absenkung der Energieproduktion etwa durch Verringerung des Wasserdurchsatzes an Stauseen.

Vgl. dazu:

Die zentrale Frage lautet nun, wie es weitergehend wird. Wie am Mittwoch, den 18.01.2023 bei Labournet analysiert, setzt die Regierung, etwa heute früh vertreten durch Wirtschaftsminister Bruno Le Maire – ebenso wie wirtschaftsliberale Leitartikelfürsten oder auch Nicolas Sarkozys früherer rechter Arbeitsminister Eric Woerth, welcher heute Macron unterstützt – auf eine Strategie des „Aussitzens“. Diese kombiniert die Aussage, es sei doch gut und gesund für die Demokratie, zu demonstrieren, das Recht dazu stehe ja in der Verfassung, und die Reaktionen seien „normal“ (so etwa Minister Le Maire: Niemand wolle länger arbeiten, das sei Alles verständlich, nur müsse die Regierung eben das übergeordnete Gesamtwohl im Auge behalten) mit jener, man müsse nur wissen, wann es dann irgendwann gut ist. Auch die Seite, die die Lohnabhängigen-Rechte verteidigt, wird sich also auf eine zähe Auseinandersetzung ohne zu erwartendes schnelles Einknicken des Regierungslagers einstellen müssen. Wobei hinzu kommt, dass die gewählte Methode – die eines Einschreibens der „Reform“ in ein Haushaltsgesetz, vgl. unseren Beitrag in Labournet.de vom Montag, den 16.01.23 – dafür sorgt, dass die parlamentarische Prozedur bis zur Verabschiedung des Textes nur circa fünfzig Tage dauern wird. Insofern wird man Ausdauer mit einem Aufbau eines Kräfteverhältnisse, einer Steigerung des Drucks kombinieren müssen.

Hauptssächlich zwei Optionen lagen dazu am gestrigen Abend beim Treffen der intersyndicale (des alle Gewerkschaftsverbände bzw. ihre Vorstände umfassenden Streikbündnisses), das am Sitz der Union syndicale Solidaires im 19. Pariser Bezirk stattfand, auf dem Tisch:

  • Die CGT plädierte für das schnelle Ansetzen eines erneuten Aktionstags, dafür favorisierte sie das Datum 26. Januar (d.h. kommenden Donnerstag), sowie den Aufbau von Streiks;
  • Hingegen favorisierte die CFDT das Anberaumen eines nächsten Aktionstag erst am 06. Februar d.J., also zweieinhalb Wochen nach dem ersten, mit der bedeutenden Lücken zwischen beiden. Vordergründig begründete sie dies mit Rücksichtnahme etwa auf die Nutzer/innen von öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen Diensten sowie die Lohn- oder Gehalts-Verluste von Streikenden.

In Wirklichkeit steht hinter der Differenz natürlich auch die unterschiedliche Bedeutung, die man dem Setzen auf Verhandlungen mit der Regierung – um noch ein paar Zugeständnisse herauszuholen, auf die Gefahr hin, die „Reform“ dann passieren zu lassen – oder, alternativ dazu, der Kraftprobe (mit einem Gewinner und einem Verlierer am Schluss) beimisst.

Als Lösung wurde ein Kompromiss ausgehandelt:

  • Zu einem zweiten Aktionstag mit Massendemonstrationen und maximaler Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit wird nun für Dienstag, den 31. Januar 23 (d.h. nach dem ersten) durch die intersyndicale aufgerufen;
  • Bis dahin sollen aber im Laufe der kommenden Woche „Aktionen, darunter (insbesondere) Streiks“, rund „um den Montag, den 23. Januar“ stattfinden. Dies könnte es erlauben, im Laufe der Woche Streikfronten aufzubauen, sofern bzw. dort wo dafür örtlich genügend Kräfte zur Verfügung stehen.

Am heutigen Freitag Nachmittag (20. Januar 23) will die „CGT Eisenbahner“, CGT cheminots, dies bezüglich über ihr weiteres Vorgehen beraten und Beschlüsse fassen. Im Petrochemie-Sektor, also in den Raffinerien, rief und ruft die „CGT Chemieindustrie“ (CGT chimie) zunächst zu einem 24stündigen Streik am gestrigen 19. Januar – welcher auch stark befolgt wurde – auf, danach zu einem 48stündigen Streik am Donnerstag, den 26. Januar und zum Dritten zu einem 72stündigen (dreitägigen) Streik ab dem 06. Februar 23. Jeweils mit Blockieren des Abtransports von raffiniertem Treib- oder Kraftstoff. Eine Steigerung ist daraufhin natürlich denkbar.

Wirklich interessant wird es werden, sobald sich abzeichnen, dass ein strategisch wichtiger Sektor in den unbefristeten Streik tritt und dabei gesellschaftliche Unterstützung erfährt…

Artikel und Fotos von Bernard Schmid vom 20.1.2023 – wir danken!

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=208032
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