Aus Stuttgarter »Krawallnacht« 2020 nichts gelernt: Sylvester 2022 und die „Integrationsverweigerer“ von Berlin und Borna

Dossier

Züricher Polizei mit Gummigeschossen am 1. Mai„… Über Randale in der Silvesternacht tobt derzeit eine bundesweite politische Debatte. Auslöser sind Vorfälle in Berlin, wo aus größeren Gruppen heraus ebenfalls Polizisten mit Pyrotechnik angegriffen und Feuerwehrleute an Löscharbeiten gehindert wurden. Verantwortlich gemacht wurden »gewaltbereite Integrationsverweigerer«, wie es Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) im Kurznachrichtendienst Twitter formulierte: »junge Männer mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten«. Zunächst war von 145 Festnahmen die Rede. Inzwischen präzisierte die Polizei, aufgrund der Böllerattacken seien 38 Personen festgenommen worden, von denen zwei Drittel deutsche Staatsbürger seien. Aus der Berliner CDU wurde die populistische und von der AfD kopierte Forderung geäußert, deren Vornamen zu veröffentlichen – mit der Intention nachzuweisen, dass es sich um Menschen handelt, die abfällig als »Passdeutsche« bezeichnet werden. Folgerichtig wird in den sozialen Medien auch im Fall Borna gefragt, ob »die CDU Sachsen schon die Nennung der Vornamen« verlangt habe und wie mit den »Integrationsverweigerern« in der Kleinstadt umzugehen sei...“ Aus dem Artikel von Hendrik Lasch vom 09.01.2023 im ND online externer Link – siehe mehr daraus und zur Debatte:

  • Wo bleibt die Entschuldigung? Zwei Wochen nach Silvester wird bekannt, dass der Höhepunkt der Gewalt gegen Einsatzkräfte nicht in Neukölln lag New
    „… Siebzehn Fälle „Widerstand und tätliche Angriffe gegen Einsatzkräfte“ zu Silvester in Mitte, acht davon – die größte Häufung – beim Brandenburger Tor. Dies ist keine Titel- oder gar Schlagzeile in allen Nachrichten, sondern eine versteckte Information im letzten Drittel eines Beitrags im rbb, am 11. Januar. Wer schaut da noch hin, nach vielen bewegten Bildern ein Wortbeitrag im nüchternen Setting, ein Studiogespräch mit der Berliner Beauftragten für Integration und Migration Katarina Niewiedzial? (…) Der Höhepunkt der Gewalt gegen nicht differenzierte Einsatzkräfte lag demnach nicht in Neukölln – dort sind vier Fälle verzeichnet, drei weniger als in Tempelhof-Schöneberg und genauso viele wie in Pankow und Friedrichshain-Kreuzberg –, sondern ganz symbolisch im Bezirk Mitte. Das Brandenburger Tor im Herzen Berlins ist als Symbol der Freiheit auch ein Wahrzeichen der Bundesrepublik. Die Gewalt gehört zu Deutschland. Am Brandenburger Tor wohnt niemand, höchstens Tourist:innen in teuren Hotels, dafür fand dort nach zwei Jahren pandemiebedingter Pause die offizielle Silvesterparty Berlins statt. Silvester am Brandenburger Tor liefert keine Fotos mehr oder weniger unsanierter Wohnblocks mit vielen dunkelhaarigen Menschen und bunten Werbeschildern in fremden Sprachen und taugt somit wenig für apokalyptische Bilder. Irgendwelche tanzenden Leute in schrägen Party-Klamotten in Glitzer und Konfetti mit Sektglas in der Hand, im Hintergrund das Brandenburger Tor, das funktioniert nicht: So sieht keine Bedrohung der Grundfesten unseres Staates aus, die in dunklen Massen von draußen kommt! Brandenburger Tor heißt Freiheit und Demokratie und friedliche deutsche Revolution mit freundlichen Ausländern wie David Hasselhoff. (…) Wo bleiben jetzt die Richtigstellungen und Entschuldigungen? Welche Sendeanstalt, welches Portal, welches Medienunternehmen korrigiert seine Schlagzeilen der ersten Woche? Wo sind Kommentator:innen und Moderator:innen, die sich für ihre Schnellschüsse entschuldigen? Welche Expert:innen erklären, dass sie auf Grundlage von quasi null gesicherten Informationen und den immerselben Bildern einfach nur Standardsprüche über Menschen mit Migrationshintergrund in segregierten Stadtteilen von sich gegeben haben? (…) Die neuen Zahlen sind keine Schlagzeile wert, und so bleibt hoffentlich zumindest die Frage nach den Pässen und Namen der Tatverdächtigen am Brandenburger Tor aus. Hintergrundbeiträge zu Rassismus in öffentlichen Diskursen bleiben aber ebenfalls aus, und genauso fehlen die Rufe nach einem Gipfel gegen Diskursgewalt: Medien und Politik fordern keine Konsequenzen, sie ziehen sich nicht zur Verantwortung dafür, dass sie die Bilder und Geschichten in die Welt setzen und reproduzieren, die in der Regel junge Männer ohne, manchmal auch mit Migrationshintergrund, dazu motivieren, in Shisha-Bars, Einkaufszentren und anderen migrantisch gelesenen Orten Massaker anzurichten. Gegen diese Kultur der Straflosigkeit wäre mit aller Härte des Gesetzes vorzugehen!“ Beitrag von Rosa Fava vom 16. Januar 2023 bei MiGAZIN externer Link
  • Die Integrationsverweigerer von Borna. Polizei ermittelt nach mutmaßlich rechter Silvesterrandale in sächsischer Stadt
    In Kleinstädten wie Borna gibt es nicht viele Einrichtungen, die den Staat symbolisieren. Das Amtsgericht gehört dazu, das Polizeirevier und das Rathaus. Dieser Sitz der städtischen Verwaltung wurde in der Silvesternacht mit Böllern und Raketen angegriffen, die an Fassade und Fenstern sichtbare Spuren hinterließen. Möglicherweise, sagt die Polizei, sei dafür eine Gruppe von 200 Personen verantwortlich gewesen, die bei ihrem Eintreffen auch Pyrotechnik in Richtung der Beamten abgefeuert, dabei einen Streifenwagen beschädigt und eine Beamtin nur knapp verfehlt habe. Zuvor hatte die Menge laut Polizeibericht versucht, den Weihnachtsbaum auf dem Markt in Brand zu setzen. Böller landeten auch in Mülleimern. Ein Zeitungskiosk wurde schwer beschädigt. Laut Augenzeugen sah der Platz aus »wie ein Schlachtfeld«. Die Polizei nahm zwei 19-Jährige fest, ermittelt wegen des Verdachts des Landfriedensbruchs und hat ein Hinweisportal freigeschaltet. (…)on der Polizei gibt es keine Angaben dazu, welchem Milieu die Verdächtigen entstammen. Ohrenzeugen berichten auf Facebook allerdings von »Sieg heil!«-Rufen. Das deutet darauf hin, dass die Randalierer derselben Szene angehören wie jene, die in der Silvesternacht 2018/19 auf dem Markt von Borna ihre Zerstörungswut ausgelebt hatten. Damals waren »Heil Hitler!«-Rufe ertönt. Nach Angaben des Rechercheportals »chronik.LE« externer Link führte die Staatsanwaltschaft Leipzig danach Verfahren gegen sieben Tatverdächtige im Alter von 15 bis 37 Jahren, die aber aufgrund mangelnder Beweise eingestellt wurden. Obwohl es wie auch diesmal Handyvideos gab, welche die Vorgänge dokumentieren, habe niemandem eine konkrete Tat nachgewiesen werden können. Unter Hinweis auf die Ereignisse in Borna werden Forderungen laut, solche Vorfälle nicht vordergründig mit dem Thema Integration zu verbinden. So schrieb der Soziologe Johannes Kiess vom Else-Frenkel-Brunswick-Institut in Leipzig auf Twitter, die Konstellation »massive Gewalt, Angriffe auf Polizei & Rathaus, junge Männer« könne man »als Integrationsthema verhandeln, ist aber auch ein Rechtsextremismusproblem«. Die sächsische Landtagsabgeordnete Jule Nagel (Linke) stellte freilich ernüchtert fest, trotz der Randale in Borna und der korrigierten Zahlen in Berlin werde man auf eine »Korrektur des rassistisch konnotierten Aufschreis lange warten können«...“ Artikel von Hendrik Lasch vom 09.01.2023 im ND online externer Link
  • Anschlag auf Synagoge im oberfränkischen Ermreuth in der Silvesternacht: Polizei vermutet rechtsextreme Tat
    Nach dem Anschlag auf eine Synagoge im oberfränkischen Ermreuth vermuten die Ermittler einen rechtsextremen Hintergrund. Unter Verdacht steht ein 21-Jähriger. Er soll eine Fensterscheibe eingeschlagen und versucht haben, Feuer zu legen. (…) Wie das Polizeipräsidium Oberfranken und die Staatsanwaltschaft Bamberg am Dienstag mitteilen, hätten Zeugenaussagen und die Videoüberwachung der Synagoge dazu geführt, dass der 21-jährige Tatverdächtige am vergangenen Donnerstag festgenommen werden konnte. Ihm wird vorgeworfen, ein Fenster mutwillig zerstört und Feuerwerkskörper ins Innere geworfen zu haben. Dadurch wollte er ein Feuer legen, so Polizei und Staatsanwaltschaft weiter. Nach ersten Erkenntnissen gehen die Ermittler von einer antisemitisch motivierten Straftat mit einem rechtsextremistischen Hintergrund aus. Aufgrund von fehlender Fluchtgefahr habe der Ermittlungsrichter am Amtsgericht Bamberg vergangenen Freitag den Erlass eines Haftbefehls abgelehnt. Der Verdächtige wurde daher auf freien Fuß gesetzt. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft gegen diese Entscheidung Beschwerde eingelegt. Seit Dienstag hat die Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) die Ermittlungen übernommen…“ Beitrag von Frederik Eichstädt vom 10.01.2023 beim BR externer Link
  • Rassismus-Experten: Debatte über Silvester-Krawalle versachlichen – Jugendliche ohne Migrationshintergrund verhalten sich ähnlich
    Die Debatte über die Silvester-Krawalle in Berlin ist nach Überzeugung voneinander unabhängiger Experten rassistisch und gefährlich. DeZIM-Experte Sinanoğlu fordert eine Versachlichung der Diskussion, die Beratungsstelle ReachOut nimmt auch die Polizei in die Pflicht. Der Leiter des Rassismusmonitors beim Berliner DeZim-Institut, Cihan Sinanoğlu, hat zu einer Versachlichung der Diskussion über die Angriffe auf Einsatzkräfte von Polizei und Feuerwehr in der Silvesternacht aufgerufen. In der Debatte gebe es „Einordnungen, die ganz klar rassistisch sind“, sagte er dem Berliner „Tagesspiegel“. Auch die Berliner Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt sieht rassistische Muster in der Debatte. Laut Sinanoğlu ist nach derzeitigem Kenntnisstand kein Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Böllerverhalten zu erkennen. Er rief dazu auf, zu untersuchen, welcher Gesellschaftsschicht die Täter angehörten und wie lange sie schon in Deutschland lebten. Es müsse auch nach ihren Motiven und ihren Erfahrungen mit der Polizei gefragt werden, sagte er unter Hinweis auf sogenanntes Racial Profiling. „Wir wissen noch viel zu wenig über die Silvesternacht. Einfache Antworten bringen uns da nicht weiter“, sagte der Leiter des Rassismusmonitors. Sinanoğlu warnte davor, das Verhalten der Täter auf eine bestimmte Kultur oder Herkunft zurückzuführen: „Dann kann man nämlich nicht erklären, warum sich Jugendliche ohne Migrationshintergrund in ostdeutschen Dörfern oder westdeutschen Großstädten zum Teil ähnlich verhalten.“ Es gelte, pauschale Zuschreibungen zu vermeiden. In einer „postmigrantischen Gesellschaft“ müsse beim Thema Integration über alle Gruppen gesprochen werden, nicht nur über Zuwanderer. Nötig sei zunächst eine vernünftige Diagnose…“ Beitrag vom 10.01.2023 beim Migazin externer Link
  • Tiefpunkte im politischen Diskurs: Von der Vorverurteilung über das Entbürgern zu den Vornamen
    Ein deutscher Pass macht noch lange keinen Deutschen! Das zeigt die Silvester-Krawall-Debatte. Die ARD schürt Vorurteile, die AfD will „entbürgern“ und die CDU hat schon die Namensliste dafür.
    Diesmal ist es die CDU, die es ganz genau wissen will: Was sind die Vornamen der 45 Deutschen externer Link unter denjenigen, die wegen der Gewalt gegen Sanitäter:innen, Feuerwehrleute und Polizist:innen auf Berliner Straßen zu Silvester festgenommen externer Link wurden? Was wäre denn, ließe sich antworten, wenn fünf oder fünfzehn dieser jungen Männer gar nicht wie vermutet Mohammed heißen, oder Mehmet, also Mohammed in kurz, sondern Kevin oder Marcel? So heißen viele Deutsche aus vergleichbaren sozialen Verhältnissen, aber natürlich auch Michael oder Daniel, wie 2019 in Stuttgart. Da war es noch die AfD, die als Antwort auf Krawalle Stammbaumforschung einforderte. Fragt die CDU dann weiter, wie die Väter und Mütter der Kevins und Daniels heißen? Es soll ja vorkommen, dass der Sohn Michael heißt, aber die Mutter trotzdem Ayşe oder der Vater Mohammed – Michael also doch kein echter Deutscher ist! Also jedenfalls, wenn Ayşe oder Mohammed nicht Deutsche sind – oder …?! (…) Leider lassen sich die Tiefpunkte der diesjährigen Diskursexplosion um den Migrationshintergrund, den je nach Kiez auch bis zu 100 Prozent der Bevölkerung einer deutschen Stadt aufweisen können, nicht allein mit populistischem Kalkül erklären. „Wir stellen an dieser Stelle noch einmal klar: Es gibt bislang noch keine offizielle Übersicht über Tatverdächtige und ihre Herkunft, entsprechend ist das gerade noch so ein bisschen Vorverurteilung“, sagte am 3. Januar der Moderator der Tagesschau zu Beginn eines Gesprächs über die Ereignisse zu Silvester, das er praktischerweise gleich mit dem Verweis auf den Migrationshintergrund der Tatverdächtigen einleitete. Anstatt aber das Gespräch nach dieser Einsicht, Vorverurteilungen zu verbreiten, auf andere Themen umzulenken, ging es im deutschen Leitmedium Tagesschau noch minutenlang mit weiteren Vorurteilen weiter. „Vorurteile“ ist im Deutschen immer noch eine Ersatzbezeichnung für rassistische Einstellungen und Haltungen, und so wurden die bekannten rassistisch-kulturalisierenden Zuschreibungen über den Islam, das Patriarchat und die rückständige Kultur derjenigen mit Migrationshintergrund in die Wohnzimmer gesendet. Der öffentlich-rechtliche Sender ARD normalisiert „Vorverurteilungen“ über Menschen mit Migrationshintergrund, und die AfD denkt konsequent weiter...“ Kommentar von Rosa Fava Dienstag vom 10.01.2023 beim Migazin externer Link
  • Worüber man nicht gerne spricht: In der Silvesternacht randalierten nicht nur junge Migranten
    In der Silvesternacht zogen etwa 200 junge Männer durch die Innenstadt und randalierten. Sie demolierten Verkehrsschilder, sprengten Briefkästen, feuerten Silvesterraketen auf öffentliche Gebäude sowie die anrückende Polizei und brüllten dabei immer wieder »Sieg Heil«. Von jenen Männern ist in der Öffentlichkeit allerdings bislang selten die Rede. Ihren kleinen Feldzug veranstalteten sie nicht in Berlin, sondern im sächsischen Borna. Anders als in Berlin ist hier kaum von einem Angriff auf den Staat die Rede, und Spitzenpolitiker übertrumpfen sich auch nicht mit der Ankündigung immer härterer Repression. Schuld daran ist wohl nicht allein Hauptstadtrelevanz, sondern dass sich die Ereignisse in Berlin besser in ein populäres Feindbild integrieren lassen: »Wir haben in deutschen Großstädten ein großes Problem mit bestimmten jungen Männern mit Migrationshintergrund, die unseren Staat verachten, Gewalttaten begehen und mit Bildungs- und Integrationsprogrammen kaum erreicht werden«, sagt die Innen- und Heimatministerin Nancy Faeser. Bürgermeisterin Franziska Giffey spricht gar von einem »Wertverfall«, von »Respektlosigkeit« und einer »Zäsur«…“ Artikel von Tom Uhlig vom 09.01.2023 im ND online externer Link
  • „90 Prozent dieser jungen Menschen sind hier geboren und sozialisiert“
    Der Soziologe und Psychologe Kazım Erdoğan erläutert im Gespräch die Hintergründe der Gewaltexzesse während der Silvesternacht in Berlin-Neukölln. Das Vorstandsmitglied des Vereins „Aufbruch Neukölln“ ist in dem Berliner Stadtteil in der Sozialarbeit tätig. (…) Manche Leute beeilen sich, Schnellschüsse zu produzieren. Es ist traurig, dass wir immer Ethnie oder Religion als Gründe benennen, wenn wir auf komplexe soziale Entwicklungen keine schnellen Antworten finden. Dass wir immer auf bestimmte Menschen mit Fingern zeigen und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in einen Topf werfen. Mehr als 90 Prozent dieser jungen Menschen, deren Gewalt ich scharf verurteile, sind hier geboren und sozialisiert. (…) Diese jungen Leute sind hier in ihrem ganzen Leben nie positiv aufgefallen. Wenn jemand die Schule ohne Abschluss verlässt, keine Arbeit hat und nicht in gutsituierten Kreisen lebt, kann unter normalen Bedingungen kein positives Selbstbild entstehen. Die Identität dieser Leute ist nicht gefestigt. Sie sind immer auf der Suche nach einer Identität. (…) In den Gruppen fühlt man sich stark. Dieses Gefühl der Stärke führt dazu, dass diese Leute ihr Verhalten nicht unter die Lupe nehmen. Alle machen das ja mit. Und das kann so eine Sache eskalieren und unkontrollierbar werden lassen. (…) Diese Leute haben gedacht: „Wir sind in der Gesellschaft nicht aufgefallen, sind immer unsichtbar. Jetzt ist die Chance da, jetzt zeigen wir uns.“ Wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass in diesem Jahr sehr viele Böller gekauft und eingesetzt worden sind. (…) Gewalt als Thema ist bei den Menschen, mit denen ich arbeite, ein Dauerbrenner. Ich spreche gern von einem „teuflischen Viereck“, das Faktoren für diese Gewalt abbildet: erstens fundamentalistische Einstellungen, zweitens traditionalistische Lebensweisen, drittens starker Nationalismus, viertens Druck des Umfelds. Diesen Druck des Umfelds haben wir an Silvester gesehen. Das waren gruppendynamische Prozesse, keine geplanten Aktionen gegen den Staat…“ Interview von Nils Sandrisser am 08.01.2023 im Migazin externer Link
  • Die ewige Wiederkehr der Halbstarken. Die Diskussion um die Berliner Silvesternacht ist eine Moralpanik, die den nüchternen Blick auf die Ereignisse verstellt.
    „… In der Silvesternacht wurden in mehreren deutschen Städten Polizeikräfte und Feuerwehrleute im Einsatz angegriffen, unter anderem mit Böllern und Raketen. Besonders heftige Attacken fanden in Berlin, unter anderem im Stadtteil Neukölln, statt, wo stellenweise Barrikaden errichtet und Mülltonnen in Brand gesetzt wurden. Während zunächst von 159, dann von 145 Festgenommenen die Rede war, revidierte die Polizei diese Zahlen mittlerweile und sprach von nur noch 38 Verdächtigen, fast ausschließlich Männer, mehrheitlich Deutsche, viele von ihnen minderjährig. Nicht zuletzt weil Berlin im Wahlkampf ist, nutzen Konservative wie Friedrich Merz und Markus Söder, wie auch Innenministerin und mutmaßliche Spitzenkandidatin der Hessen-SPD Nancy Faeser, die Gunst der Stunde für eine bewährte Doppelstrategie: Soziale Probleme werden ethnisiert und symbolpolitisch an Law-and-Order-Appelle gekoppelt. (…) Ein nüchternerer Blick offenbart, wie falsch eine solche kulturalisierte Deutung ist. Denn obwohl sich die Silvesterrandale exzellent für eine mediale Dramatisierung als Ausnahmeereignis eignen – Funken sprühen, Einsatzwagen rasen heran, Männer mit Kapuzen rennen durch die Nacht –, ähnelte ihre Dynamik einem Muster, das Gewaltforscherinnen und Gewaltforscher schon seit Jahrzehnten in unzähligen Kontexten beobachten. (…) Dieses Muster basiert auf spontan formierten Gruppen, die bewegliche und rein symbolisch relevante Territorien verteidigen. Es kommt zu dem, was der Soziologe Randall Collins als »rhythmische Synchronisierung« beschreibt (…) Entscheidend ist dabei, dass sich dasselbe Muster in einer Vielzahl von Kontexten wiederfindet, von Hooligan-Zusammenstößen nach Fußballspielen über Straßenschlachten im Kontext von Demonstrationen wie dem 1. Mai, bis zu Hetzjagden mit der Polizei wie bei den rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz oder Heidenau. Blickt man mit etwas weiterem Objektiv auf die Situation der Silvesternacht, wird klar, dass es sich hierbei weder um ein ethnisches oder »kulturelles« Phänomen islamisch geprägter Migrantenkinder handelt, noch um eines, das für Berlin spezifisch wäre oder das durch nationale Abschottung fernzuhalten wäre. (…) In derselben Silvesternacht, in der in Berlin gezündelt wurde, randalierten nach Polizeiberichten auch im sächsischen Borna an die 200 Unbekannte und griffen anrückende Polizisten an, Anwohnerinnen und Anwohner berichteten von »Sieg Heil«-Rufen. Zeitgleich kam es im bayerischen Örtchen Ostheim vor der Rhön zu einem Großeinsatz, weil Jugendliche aus einer Party mit mehr als 300 Gästen heraus Einsatzkräfte mit Flaschen und Böllern attackierten. (…) Gerade weil das Phänomen selbst also eher banal ist, sind vor allem die Reaktionen auf die Silvesternacht politisch aufschlussreich. Es handelt sich hier um ein Musterbeispiel einer Moralpanik, in der der eigentümliche Übergangszustand der deutschen Einwanderungsgesellschaft durchscheint. Moralpanik nennt man, in Anschluss an den südafrikanischen Kriminologen Stanley Cohen, eine politisch-mediale Aufschaukelung, die eigentlich eher begrenzte Einzelereignisse zu umfassenden Bedrohungen für Ordnung und Werte der Gesellschaft hochstilisiert. (…) Gerade weil die »Herr im Haus«-Rhetorik rechter CDUler der Realität schon lange nicht mehr standhält, Deutschland längst eine ethnisch heterogene postmigrantische Gesellschaft mit vergleichsweise liberalen Einwanderungsgesetzen geworden ist, die in den nächsten Jahren weitere Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten aufnehmen wird, um dem demografischen Wandel zu begegnen, können wir uns wohl auf eine Reihe weiterer ethnisierter Moralpaniken in der nahen Zukunft einstellen. Angesichts des zunehmenden Zerfalls religiöser und regionaler Milieuverankerungen auf der rechten Mitte stellen die medial geschürten Ängste migrationsferner Schichten eine wichtige Basis konservativer Hyperpolitik dar – vom rechtsradikalen Rand ganz zu schweigen. Zugleich wird die Integration von Millionen Neuankömmlingen zweifellos nicht ohne Konflikte und Reibungspunkte vonstatten gehen. Die Angst vor dem Zuwachs von Kriminalität und Gewalt durch Migration wird in dieser Konstellation ein zentrales Einfallstor für rechte Ansprachen sein – und zwar auch bei Bürgerinnen und Bürgern, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Die linke Antwort auf diese Angst muss verdeutlichen, dass nicht Migration Gewalttaten verursacht, sondern Armut, und dass man letztere bekämpfen muss, wenn man Gewalt bekämpfen will. Die Kriminalität lag in Berlin 2021 auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung und auch die Rate der Körperverletzungsdelikte sinkt seit einem Jahrzehnt. Zugleich zeigt ein Blick auf den Kriminalitätsatlas der Berliner Polizei, dass Gewalt-Hotspots außerhalb des Stadtzentrums deckungsgleich mit jenen Kiezen sind, in denen die Armut am größten ist – und zwar ganz unabhängig von ihrer ethnischen Zusammensetzung…“ Artikel von Linus Westheuser vom 9. Januar 2023 in Jacobin.de externer Link
  • Ein liberales Staatsbürgerschaftsrecht und eine rassistische Silvester-Debatte. Wie geht das zusammen?
    „Nach dem Jahreswechsel ist eine erneute rassistische Debatte entbrannt: So will die Berliner CDU die Vornamen von Tatverdächtigen wissen, um ihr Deutschtum zu prüfen. (…) Nancy Faeser (SPD) war eine der ersten: „Integrationsverweigerer“ sollen laut der Bundesinnenministerin hart bestraft werden. Aus angestauter Wut und Frustration Jugendlicher wird eine so alt bekannte wie einfache Botschaft: Die Ausländer sind schuld. Aber nicht irgendwelche Ausländer, sondern nur diejenigen, die nicht integriert werden wollen. Auf sie muss man drauf hauen, „mit harter Hand und klarer Sprache – aber ohne rassistische Ressentiments zu schüren“, so Faeser, wobei der Nachsatz angezweifelt werden darf. Gleichzeitig plant das von Faeser geleitete Innenministerium eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. (…) Bemerkenswert an der Ankündigung des Innenministeriums ist der Anreiz der „besonderen Integrationsleistungen“, der das Grundprinzip der “modernen” Migrationspolitik in Deutschland zeigt: Wer sich anpasst, brav ist und nützlich für die Wirtschaft, soll Erleichterungen bekommen. (…) Das deutsche Migrationsregime ist janusköpfig: Aus ihm sprechen Integration und Repression zugleich. Sie differenzieren sich bereits in den letzten Jahren aus, um eine möglichst kapitalfreundliche Steuerung und Kontrolle von Migration zu ermöglichen. (…) Das führt zum ökonomischen Kern der gleichzeitigen Zuwanderungs- und Repressionspolitik Deutschlands: Eines der wichtigsten strukturellen Hemmnisse der deutschen Wirtschaft ist der Fachkräfte- und insgesamt Personalmangel geworden. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima sieht einen flächendeckenden Fachkräftemangel besonders im Handwerk, der Metall- und Elektroindustrie, dem MINT-Bereich sowie im Gesundheitssektor. Es gibt nun drei Möglichkeiten mit diesem Personalmangel umzugehen: Erstens, man schafft bessere Arbeitsbedingungen und Löhne. Zweitens, man presst Rentner:innen und Arbeitslose in Arbeit. Drittens, man holt sich Arbeitsmigration. Die Lösung der liberalen Bourgeoisie besteht aus einer Mischung aus zwei und drei. Oder wie es das Wirtschaftsministerium formuliert: „Besonders die Potenziale bei Frauen, Älteren, Menschen mit Migrationshintergrund und Jugendlichen ohne Ausbildung sowie Menschen mit Behinderung können stärker genutzt werden“. Und: „Um das Erwerbspersonenpotenzial dauerhaft auf seinem heutigen Niveau zu halten, müssten von nun an jedes Jahr 400.000 Personen mehr nach Deutschland ein- als auswandern“. (…) Das Kapital braucht Arbeit. Aber eine selbstbewusste migrantische Jugend möchte die liberale Bourgeoisie dabei eben nicht haben. Sie möchte eine dankbare migrantische Jugend, die ihren Platz kennt, und dieser Platz ist unten. „Integrationsverweigerer“ sind ihr ein Dorn im Auge. Damit kommen wir zurück zur rassistischen Silvesterdebatte: Mit einer idealistischen Weltanschauung könnte man meinen, liberale Ideen wie Weltoffenheit setzen sich nach und nach durch, wenn auch von Rückschlägen begleitet, so werde Deutschland doch ein immer offeneres, eben „moderneres“ Land. Aber die juristische, politische und soziale Realität in Deutschland lenkt den Blick auf ein anderes Bild: Während Deutschland zwar offensiver um Einwanderung wirbt, ist der Kapitalismus mit seiner Presse, seinen Parteien und seinen Theorien um so mehr bemüht, Migrant:innen zu disziplinieren. Nicht nur Jugendliche in „Brennpunkten“ sollen die Rufe nach Repression hören, sondern alle migrantischen Jugendlichen, die auf die Idee kommen aufzubegehren – sei es gegen staatliche Auflagen, gegen die Inflation oder gegen Ausbeutung am Arbeitsplatz…“ Kommentar von Otis Otter vom 9. Januar 2023 bei Klasse gegen Klasse externer Link – allerdings finden wir die Vorstellung, dass mit den Migrant:innen „jene Armee“ nach Deutschland geholt wird, „die den Kapitalismus zu Fall bringen wird“ (nicht zitiert) erstens theoretisch etwas gewagt (wenn auch Migranten in der Tat oft eine führende Rolle in gewerkschaftlichen Kämpfen einnehmen). Und zweitens im Zusammenhang mit den Silvester-Ausschreitungen unpassend.

Wir fühlen uns erinnert an unser Dossier: Der schwäbische Riot: Die einen schreien jetzt, wie vorher auch schon, nach dem „starken Mann“ und starker Polizei. Wir, wie vorher auch schon, nach starkem Widerstand gegen den Kapitalismus…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=207714
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