20 Jahre chefduzen: Eine Selbstermächtigung der Ausgebeuteten online und offline

Logo von chefduzen.deAm 15.12.2002 ging das Projekt chefduzen.de externer Link online als Versuch einer Alternative zur verbreiteten linken Kampagnenpolitik. Ein undogmatischer und praxisnaher Ansatz, den Klassenkampf zu stärken. Die Idee war denkbar einfach: Die Soziale Frage als Ausgangspunkt durch eine Plattform für den Austausch über die Probleme mit und ohne Arbeit, ein Forum der Ausgebeuteten. Chefs, Vermieter, Ämter, Themen gibt es genug. Eigentlich ging es nur um einen Austausch bei einem regelmäßigen Stammtisch. (…) In den letzten 20 Jahren haben sich etwa eine halbe Million Beiträge gesammelt. Unzählige Momentaufnahmen aus den Klassenauseinandersetzungen von zwei Jahrzehnten. Ein Seismograph der Stimmung in den Unterschichten. Es ist trotz der oberflächlichen Ruhe ein wütendes Donnern im Hintergrund zu vernehmen.“ Aus der Selbstdarstellung von chefduzen anläßlich des Geburtstags – wir gratulieren unserem engen Kooperationspartner von Beginn an!

20 Jahre chefduzen
Eine Selbstermächtigung der Ausgebeuten online und offline

Am 15.12.2002 ging das Projekt chefduzen.de externer Link online als Versuch einer Alternative zur verbreiteten linken Kampagnenpolitik. Ein undogmatischer und praxisnaher Ansatz, den Klassenkampf zu stärken. Die Idee war denkbar einfach: Die Soziale Frage als Ausgangspunkt durch eine Plattform für den Austausch über die Probleme mit und ohne Arbeit, ein Forum der Ausgebeuteten. Chefs, Vermieter, Ämter, Themen gibt es genug. Eigentlich ging es nur um einen Austausch bei einem regelmäßigen Stammtisch. Die Selbstorganisierung amerikanischer IT-Beschäftigter über ein Internetforum („Netslaves“), war die Inspiration, es auch mit einem auf die virtuelle Welt erweiterten Stammtisch zu versuchen.

Der Weg in die virtuelle Welt war steinig, doch der Klassenfeind sorgte für eine plötzliche Popularität des bis dato schlecht besuchten Forums. Ein bayrischer Sklavenhändler erwirkte eine gerichtliche Verfügung zur Löschung eines Beitrags unter Androhung eines Zwangsgeldes von 250.000 €, bzw. einer Erzwingungshaft von bis zu sechs Monaten. Das wurde in den Mainstreammedien Thema und ließ die Klickzahlen  des „Forum der Ausgebeuteten“ in astronomische Höhen schnellen. Harz IV wurde gut zwei Jahre nach Start des Forums eingeführt und wurde zu einem zentralen Thema. Die Beratung nahm einen großen Raum ein. Eine Kampagne gegen das Zermürbungsinstrument gegen Erwerbslose ist aber nie dabei herausgekommen.

Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung mit Ausbeutern lag bei Callcentern und Leiharbeitsbuden. Gerade die Callcenter versuchten, mit juristischem Beschuß gegen das Forum vorzugehen, das juristisch erfahrener wurde und die solidarische Unterstüzung der Roten Hilfe hinter sich wußte. So mancher Ausbeuter schoß sich damit ins eigene Knie und ruinierte mit den Angriffen auf chefduzen seine Reputation. Das Handelsblatt empfahl seinen Lesern aus der Wirtschaft einen weniger direkten Umgang mit „giftigen Schreibern“ wie chefduzen. Ein Callcenter ließ gegen vermutete Onlineaktivisten aus Reihen der Belegschaft eine polizeiliche Razzia durchführen und deren Rechner beschlagnahmen, und ein anderes Callcenter heuerte einen professionellen Hacker an, der die Beiträge zu diesem Callcenter zerschießen sollte. Ausbeuter sahen die öffentliche Diskussion über ihre Arbeitsbedingungen als Bedrohung. Statt gegen das Forum selbst vorzugehen, schoß man sich auf die Autoren selbst ein, wenn sie identifzierbar waren. Einem drohte man mit dem Eintrag in eine Schwarze Liste, der eine Neuanstellung in der Branche in der Region unmöglich machen würde. Einer Leiharbeiterin wurde gekündigt. Als sie dagegen klagte, befand die Arbeitsrichterin, „darüber darf man in der Kneipe diskutieren, bei chefduzen aber nicht.“

Auch unter Linken begann das Interesse an dem „Forum der Ausgebeuten“ zu wachsen. Es gab Einladungen zu Widerstandskongressen und zu Rundreisen. In Österreich und in der Schweiz wurden Schwesterforen gegründet, in Belgien ist dieser Versuch gescheitert. Der Hype lag auch in der wachsenden Popularität des Internets und man träumte von einem Klassenkampf 2.0, als sei die Entdeckung eines neuen Mediums und „Formats“ die Lösung für die Probleme der Linken. Auf ein paar gemeinsamen Veranstaltungen mit dem LabourNet Germany wurde hingewiesen, daß man das WWW nicht überschätzen dürfe. Es kann eine wichtige Hilfe im Klassenkampf sein, wenn es in Bezug auf reale Kämpfe genutzt wird. Die realen Kämpfe finden nicht im Netz statt.

Vieles von dem, was bei chefduzen geplant war, ist gescheitert. Die realen Treffen haben sich nicht so ausgebreitet, wie erhofft. Sie gab es in verschiedenen Städten und zeitweise an drei Orten gleichzeitig, doch nur in Kiel hat sich der Stammtisch über 20 Jahre gehalten und ist auch Ausgangspunkt für praktische Aktivitäten. Der Austausch mit versprengten Einzelkämpfern an anderen Orten ist nicht abgerissen. Die  chefduzen-offline Praxis ist wichtig. Die Kollegenzeitungen im Bereich der Callcenter („Die Quote“) und der Leiharbeit („Leihkeule“) waren wichtige Produkte und der Youtube-Kanal Kilometerfresser TV externer Link war ein wichtiges Instrument zur Vernetzung der versprengten Berufskraftfahrer jenseits des Internets.

Die Erfolge einiger praktischen Initiativen aus dem chefduzen-Zusammenhang können sich sehen lassen, sie führten dazu, daß Arno Dübel („Deutschlands faulster Arbeitsloser“ -BILD-) seine Anti-Erwerbslosen Medienauftritte beendete und die Stadt Hamburg ihre Jobmessen weitgehend aus den Einkaufszentren verbannte und sie auf das Flughafengelände konzentrierte, wo man eher eine polizeiliche Kontrolle aufrecht erhalten könne. Ein kleines chefduzen-Meisterstück ist der Kampf von Leiharbeitern auf dem Airport Hamburg, bei dem sie ihre Ziele mit einer Mischung aus Sabotage und Wildem Streik durchsetzten und der ohne einen mutigen Akivisten aus unserem inneren Kreis nicht stattgefunden hätte. Auch eine in kleiner Runde gestartete Soldiaritätsaktion gegen die Verhaftung von protestierendern Leiharbeiter in einem Volkswagenwerk in China, schlug ungeahnt hohe Wellen. Die Straßenaktionen in Deutschland verbreiteten sich in dern sozialen Netzwerken der Leiharbeiter in China, die daraufhin ihren Kampf wieder aufnahmen. Die Flut an Presseberichten erreichte den Konzernbetriebsrat und das VW Management in Wolfsburg, das sich schließlich dazu entschied, die 900 Leiharbeiter, die ihren Job verlieren sollten, in die Stammbelegschaft zu übernehmen zu etwa dem doppelten Lohn.

Vielleicht nicht so auffällig, doch absolut wichtig, ist die Veröffenlichung von Recherchearbeiten. Ein gutes Beispiel ist die akribische Arbeit an der Aufdeckung traditioneller reaktionärer Netzwerke im Zusammenhang mit dem „Kieler Kaufmann“, Machtstrukturen, die bis ins Kaiserreich zurückreichen und auch heute Eliten vereinen, die für politische und wirtschaftliche Entscheidungen im Hintergrund die Fäden ziehen. Sie würden es vorziehen, unbeobachtet zu bleiben, doch diese Recherchearbeit wurde bereits über 100.000 Mal aufgerufen.

Der Forenalltag ist weniger spektakulär. Chefduzen ist es nur selten gelungen, die relativ gut bezahlten Malocher der Großbetriebe in die Diskussionen einzubeziehen. Das Forum ist geprägt von Leuten aus prekären Jobs, Arbeitslosigkeit und Rente, Menschen mit Geld- und Gesundheitsproblemen. Der Ton ist mitunter rau, die Haltung ist nicht unbedingt links. In Zeiten von Corona wurde es bisweilen schwierig mit den entgegengesetzten Positionen, die in der Gesellschaft offen aufeinander prallen. Bei chefduzen wurde versucht, schlichtend dazwischen zu gehen, ohne diejenigen rauszuschmeißen, die Dinge vertreten, die für Linke schwer zu ertragen sind. Es wurde noch komplizierter durch den Ukrainekrieg, als die Leute noch verwirrter und schwieriger wurden. chefduzen nimmt den Anspruch ernst, eine offene Plattform der Klasse zu sein und im Forum spiegeln sich die gleichen Irrungen und Wirrungen wider, wie überall unter den einfachen Menschen.  Nicht Ausschluß, sondern Auseinandersetzung mit den verschiedenen Leuten und Positionen ist das bevorzugte Gegenmittel. Es ist aber kraftraubend und bisweilen nervtötend.

Die globalen Konflikte und die Auswirkungen der Krise nehmen die Menschen mit. Es führt oft zu einer resignativen Stimmung und schlägt nicht in eine verzweifelte Wut um, wie in vielen anderen Ländern, in denen es auf der Straße kracht. Das Forum bleibt für viele ein Orientierungspunkt. Eine kleine Redaktion bestückt das Forum mit cut-and-paste Journalismus und eigenen Kommentaren, um Orientierung aus der Sicht der Ausgebeuteten in einer amoklaufenden Welt zu geben. Für die schweigende Mehrheit der Forenbesucher ist das ein Grund zur regelmäßigen Wiederkehr. Die praktischen Auseinandersetzungen befinden sich gerade auf einem niedrigen Niveau, in diesem Klima ist man eher auf der Suche nach Beratung und erhofft sich vom deutschen Sozialrecht ein wenig Schutz.

In den letzten 20 Jahren haben sich etwa eine halbe Million Beiträge gesammelt. Unzählige Momentaufnahmen aus den Klassenauseinandersetzungen von zwei Jahrzehnten. Ein Seismograph der Stimmung in den Unterschichten. Es ist trotz der oberflächlichen Ruhe ein wütendes Donnern im Hintergrund zu vernehmen.

Selbstdarstellung von chefduzen anläßlich des Geburtstags am 15.12.2022

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