Keine Atempause….? oder Zeit zum Luftholen! Sozialismus, Existenzgeld und Erwerbslosenbewegung

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit„… Der eingeengte Blick auf die Beratungstätigkeit, verbunden mit dem scheinbar geringen Organisations- und Demonstrationswillen armer Leute, hat zu einem politischen Stillstand einer vormals recht agilen Erwerbslosenbewegung geführt, der durch den kapitalistischen Umbau der Arbeitswelt in den letzten beiden Jahrzehnten noch verstärkt wird. Aber auch die Debatte über Existenzgeld, als Alternativkonzept zu einer autoritären Sozialstaatspolitik tritt auf der Stelle. (…) Aber ohne eine breite Debatte darüber, was linke Gruppen (über das „gegen“ hinaus) sich vorstellen, werden wir noch weiter ins Abseits rutschen. Wie könnte eine andere Gesellschaft aussehen? Gibt es für deren Gestaltung emanzipatorische Prinzipien? Können wir uns überhaupt auf gemeinsam zu erkämpfende Alternativen einigen? Und wie wollen wir den weiteren Weg gestalten? (…) Es wäre an der Zeit diese Überlegungen und Konzepte mit der Alltagspraxis sozialer Bewegungen in Bezug zu setzen, und zusammen auf ihre Plausibilität zu hinterfragen...“ Artikel von Harald Rein, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 9/2022 – wir danken!

Keine Atempause….? oder Zeit zum Luftholen!
Sozialismus, Existenzgeld und Erwerbslosenbewegung

Einleitend sei die Behauptung gestattet, dass zwischen der Alltagspolitik einer linken Gruppe im Stadtteil und ihren Vorsätzen, etwas an der kapitalistischen Realität grundlegend zu verändern oder sie doch zumindest anzukratzen, oft riesige Lücken auftun. Egal, ob es gegen Klimabelastung, Mietendruck, Erwerbslosigkeit, Rassismus und anderen Verwerfungen des Kapitalismus geht, fehlt es nicht selten an Zeit, Kraft und Muße über den eigenen politischen Tellerrand zu blicken. Die Probleme im Stadtteil, immer neue Aktionen mit einer geringen Anzahl an Aktiven lassen kaum Zeit die eigenen Erfolge oder Misserfolge politisch einzuordnen und daraus mögliche Konsequenzen zu ziehen. Es gibt immer etwas anderes zu tun: hier ein Flugblatt, dort eine Kundgebung, wer meldet die Demo an, wer beteiligt sich an einer Sprühaktion usw. Getreu dem alten Motto der Band Fehlfarben „Keine Atempause-Geschichte wird gemacht“. Aber wird wirklich Geschichte gemacht? Oder werden wir nicht unwissentlich selbst Teil kapitalistischer Vereinnahmungen, die unseren Protest und unsere Hinweise auf Ungerechtigkeiten aufnehmen, verwerten und da wo es nicht möglich ist unterdrücken? Welche Bedeutung hat denn eine Erwerbslosengruppe, die sich nur auf ihren Kontext beschränkt, gegen die Anmaßungen von Politik und Jobcenter wehrt? Im besten Fall können für Einzelne über Widerspruchsverfahren oder Aktionen im Jobcenter z.B. Kürzungen des Regelsatzes und Sanktionen verhindert oder für manche überhaupt erst der Zugang zum Jobcenter erreicht werden. Der kollektive Gedanke wird dadurch gestärkt, was gut für das jeweilige Bewusstsein und für künftigen Widerstand ist, aber letztendlich wird nur das gültige bürgerliche Recht durchgesetzt oder bei begründetem Zweifel an das Bundesverfassungsgericht weitergeleitet. Der Kapitalismus reguliert seine Regime selbst!

Anhand der Entwicklung der Erwerbslosenbewegung lassen sich Probleme und Widersprüche identifizieren, die auch heute noch in Gruppen mit anderen politischen Schwerpunkten ähnlich verlaufen.

Als sich 1982 die Erwerbslosenbewegung formierte herrschte eine große Euphorie unter den beteiligten Gruppen und Einzelpersonen. Die Beratungstätigkeit war damals nur eine von vielen Aktivitäten. Für die meisten Initiativen war Armut, Erwerbslosigkeit und die eigene finanzielle Misere ursächlich mit der kapitalistischen Art des Produzierens verbunden. Das heißt, auch wenn die Basis des politischen Kampfes in der eigenen Stadt lag, war es Konsens, dass dem Kampf gegen sozialstaatliche Angriffe auch eine gesamtgesellschaftliche Perspektive beigestellt werden muss. Diese Einstellung entwickelte sich aus der Debatte, ob eine der zentralen Forderungen das Recht auf Arbeit oder das Recht auf Einkommen umfassen soll. Insbesondere Frauen aus den damaligen Sozialhilfeinitiativen und AktivistInnen der unabhängigen Erwerbslosengruppen und prekär Beschäftigte (damals sogenannte JobberInnen) setzten inhaltliche Impulse für eine egalitär inspirierte, systemumwälzende Forderung nach Existenzgeld. Ähnlich wie ein bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) ist es uneingeschränkt zu gewähren, ohne Bedürftigkeitsprüfung auszuzahlen, an keinen Zwang zur Arbeit oder ähnlichem gebunden und muss sowohl die Existenz sichern als auch eine gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Im Unterschied zu vielen anderen BGE-Ansätzen lag und liegt dem Existenzgeld die grundsätzliche Einschätzung zu Grunde, dass der Kapitalismus keine ökonomische und politische Basis für die Alternative einer besseren Gesellschaftsordnung bietet.
Mittlerweile hat sich, nach der Niederlage im Kampf zur Verhinderung der Einführung des Hartz-IV-Regimes, der politische Charakter der Erwerbslosenbewegung stark verändert. Reformbestrebungen für erhöhten Regelsatz und der Kampf gegen ausufernde sozialstaatliche Restriktionen stehen im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen, die meist in den Beratungsstellen und vor Gericht ausgetragen werden. Einzig der paritätische Wohlfahrtsverband ist gern gesehener Interviewpartner oder Talkshowgast, wenn es um das Thema Arbeitslosigkeit und Armut geht. Der eingeengte Blick auf die Beratungstätigkeit, verbunden mit dem scheinbar geringen Organisations- und Demonstrationswillen armer Leute, hat zu einem politischen Stillstand einer vormals recht agilen Erwerbslosenbewegung geführt, der durch den kapitalistischen Umbau der Arbeitswelt in den letzten beiden Jahrzehnten noch verstärkt wird. Aber auch die Debatte über Existenzgeld, als Alternativkonzept zu einer autoritären Sozialstaatspolitik tritt auf der Stelle. Nicht gelungen ist es den verbindenden Charakter der Forderung nach einem Existenzgeld zu transportieren, sie in eine antikapitalistische Agenda einzubetten und weiterzuentwickeln, damit sie überhaupt Wirkung entfalten kann. Auch deshalb sehen große Teile innerhalb der BGE-Community diese nur noch als Realpolitik. Öffentliche Bekundungen zum BGE sind dominiert von Positionen, die davon ausgehen mit einem Geldbetrag allein könnte ein gutes Leben im Kapitalismus möglich sein, sei es über regelmäßige Verlosungen oder über Petitionen bzw. Volksbegehren. Herrschaftsverhältnisse, Ausbeutungsstrukturen und überhaupt Kapitalismuskritik spielen keine Rolle mehr. Gleichzeitig ist das Existenzgeld als revolutionäre Zielbestimmung innerhalb der Erwerbslosenbewegung und auch in anderen Bewegungen, über die Alltagsroutine hinaus kaum noch bekannt, und hat fast keine Anschlüsse an andere politische Initiativen, obwohl sie sich gegenseitig benötigen.

Es soll hier nicht behauptet werden, dass mit einer genaueren strategischen Perspektive fortschrittlicher Politik automatisch die linke Tristesse beendet werden kann.

Aber ohne eine breite Debatte darüber, was linke Gruppen (über das „gegen“ hinaus) sich vorstellen, werden wir noch weiter ins Abseits rutschen. Wie könnte eine andere Gesellschaft aussehen? Gibt es für deren Gestaltung emanzipatorische Prinzipien? Können wir uns überhaupt auf gemeinsam zu erkämpfende Alternativen einigen? Und wie wollen wir den weiteren Weg gestalten? Auf diese Fragen müssen wir Antworten finden. Innerhalb der linken Bewegung mangelt es an überzeugenden Alternativerzählungen, die auch im Zusammenhang mit negativen Erfahrungen realsozialistischer Praktiken stehen, aber auch mit vielen Erkenntnissen über revolutionäre Erhebungen, die nicht selten in Diktatur oder ähnlichen undemokratischen Verhältnissen endeten. Hoffnungsvoll stimmt, dass es in den vergangenen Jahren wieder Versuche gegeben hat, eine Debatte über Wege zu und Umrisse für eine andere Gesellschaftsformation zu initiieren.

Hierbei handelt es sich um aktuelle Ansätze unter Labeln wie Sozialismus oder Ökosozialismus, die eine systemische Alternative gegen diffuse emanzipative Orientierungen aufbieten wollen. Dabei müssen diese Vorstellungen nicht nur historische Irrungen berücksichtigen, sondern sind auch mit Positionierungen eines demokratischen Sozialismus etwa in den USA, der auffallende Ähnlichkeit mit älteren sozialdemokratischen Versprechen aufweist, konfrontiert – um nur einige der drängenden Fragen an sie zu nennen. Dennoch erscheint der begonnene Sozialismus-Diskurs substantiell wichtig und könnte Teil einer neuen linken Perspektivbestimmung sein.

Es wäre an der Zeit diese Überlegungen und Konzepte mit der Alltagspraxis sozialer Bewegungen in Bezug zu setzen, und zusammen auf ihre Plausibilität zu hinterfragen. Herauskommen könnten nicht nur spannende Diskussionen sondern auch positive Auswirkungen auf Theoriefindung wie Praxisentwicklung.

Artikel von Harald Rein, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 9/2022 – wir danken!

Siehe auch vom Autor im LabourNet Germany:

und zum Thema unser Dossier: Startet mit #SyltEntern und ähnlichen Aktionen eine heiße Phase der Proteste gegen Preissteigerungen und Verarmung?

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=204977
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