»
Bulgarien »
»

Treffen der Plattform für Transnationalen Sozialen Streik (TSS) am 8.-11. September 2022 in Sofia, Bulgarien

Treffen der Plattform für Transnationalen Sozialen Streik (TSS) am 8.-11. September 2022 in Sofia, BulgarienDie Welt, in der wir leben, wird von transnationalen Prozessen beherrscht und durchkreuzt: von Finanzströmen bis zu globalen Lieferketten, von Migrantenbewegungen bis zu feministischen Kämpfen, von der COVID-19-Pandemie bis zum eskalierenden Klimanotstand. (…) Die wirtschaftlichen Opfer aufgrund der gestiegenen Militärausgaben wurden den ArbeitnehmerInnen auferlegt, die auch die Kosten für unerschwingliche Energie-, Lebensmittel- und Mietpreise zu tragen haben; die Flüchtlingswelle aus der Ukraine wurde von den Regierungen genutzt, um rassistische Hierarchien zu stärken und neue zu etablieren, während der Krieg die patriarchalische Gewalt verschärft. Die Militarisierung der Industrie widerspricht selbst der sanftesten „grünen“ Politik im Hinblick auf den weltweit bedrohlichen Klimawandel. (…) In diesem Kontext sich anhäufender und ineinandergreifender Konflikte und verstreuter Kämpfe zielt das transnationale Treffen darauf ab, einen Raum für den Dialog und die gemeinsame Organisierung zwischen FeministInnen, ArbeiterInnen, MigrantInnen, GewerkschafterInnen, Organisationen und Kollektiven aus Bulgarien, Osteuropa und darüber hinaus zu schaffen…“ Aus der engl. Einladung auf der TSS-Homepage externer Link mit ersten Infos und nun einen Bericht:

Für eine transnationale europäische Linke

Ein kritischer Bericht vom Transnational-Social-Strike-Treffen in Sofia

Vom 9. bis 11. September 2022 fand erneut ein Transnational-Social-Strike-Treffen (TSS-Treffen) statt, diesmal in Sofia. Die Zusammenkünfte gibt es seit 2015, wobei das erste Treffen am Rande von Blockupy abgehalten wurde. Das Treffen in Sofia war das erste seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie in Europa. Auf den Treffen kommen kapitalismuskritische Initiativen aus ganz Europa zusammen, von Basisgewerkschaften wie Solidaires aus Frankreich über linksradikale Bündnisse wie die Interven­tionistische Linke oder Plan C bis hin zu Gruppen wie Angry Workers of the World aus Großbritannien. Es nahmen darüber hinaus auch viele Einzelpersonen teil. Die feministische Gruppe LevFem[1] aus Bulgarien organisierte das Treffen und leistete auch währenddessen enorm viel Reproduktionsarbeit, inklusive einer sehr spannenden Stadtführung durch das ›realsozialistische‹ Sofia. Hierfür möchte ich mich an dieser Stelle bedanken! Ich selbst bin im Streiksolibündnis für Amazon in Leipzig organisiert und nahm mit einer kleinen Delegation mit weiteren Genosse:innen aus Leipzig und Berlin an dem Treffen teil, nach 2015 und 2016 nun zum dritten Mal.

Die Genoss:innen auf dem Treffen teilen die grundlegende Ansicht, dass in der heutigen polit-ökonomischen Situation die Linke ihre Kampfarena über die Grenzen des Nationalstaats hinaus erweitern muss, wenn sie die Interessen der Unterdrückten erfolgreich durchsetzen will. Bis es eines Tages so weit ist, dass sie diese Interessen durchsetzen kann, ist es allerdings noch ein langer Weg.

Wichtiges Thema des Treffens war zum einen der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine im Zuge einer neuen globalen Blockbildung zwischen den imperialistischen Großmächten. Wichtig waren den Teilnehmenden vor allem die politökonomischen Folgen für die Bevölkerungen der europäischen Staaten wie Inflation und die Kriegskosten, für die nun die europäische Arbeite­r:innenklasse aufkommen soll. Ein weiterer Schwerpunkt war die Lage von Frauen und LGBTQ+ (patriarchale Gewalt im Zuge des Krieges) sowie Migrant:innen im Krieg. Zum anderen fanden Diskussionen zu der sich immer weiter zuspitzenden Klimakrise statt, wobei auch die negative Auswirkung des Krieges für das Weltklima hervorgehoben wurde. Für uns war insbesondere der Austausch mit Genoss:innen aus osteuropäischen Ländern zu diesen Fragen wichtig, die etwa zum russischen und EU-Imperialismus ein anderes Verhältnis haben als wir Bewohner:innen des europäischen Hegemon Deutschland. Im Folgenden werde ich zunächst auf die Situation der Linken in Bulgarien eingehen, da ich glaube, dass die dortige Situation in Deutschland weitgehend unbekannt ist, und zugleich Bezüge zu den Debatten auf dem TSS-Meeting herstellen. In einem zweiten Teil werde ich mich einer Kritik des Treffens widmen.

Zu den Kampfbedingungen der bulgarischen Linken

Bei der Darstellung der politischen Situation in Bulgarien beziehe ich mich nur auf die Erfahrungen, die Genoss:innen der feministischen Gruppe LevFem und der arbeitskampforientierten Gruppe Konflikt mit uns geteilt haben. Bulgarien war seit dem Ende des  Zweiten Weltkriegs Teil des imperialen Blocks der Sowjetunion gewesen. Die Vertreter:innen des realsozialistischen Regimes leiteten im Zuge der Massenproteste im Ostblock 1990 Wahlen ein, wobei die Proteste in Bulgarien kleiner waren als in anderen Staaten. Wie in den meisten anderen Ostblock-Staaten ging die postsozialistische Transformation Bulgariens mit einer enormen Deindustrialisierung und dem Verlust von Arbeitsplätzen einher. Die Reformen, die im Zuge des EU-Beitritts Bulgariens 2007 stattfanden, sorgten für weitere Priva­tisierungen öffentlicher Infrastrukturen. Mehrere Genoss:innen aus ehemaligen Ostblock- und Sowjet-Staaten beschrieben die Erfahrungen der Einführung des Kapitalismus als sehr schmerzhaft. Hierbei wurde sowohl von Genoss:innen aus Mitgliedsstaaten als auch aus Beitrittskandidaten-Ländern massive Kritik an der EU und ihren Anforderungen an die Staaten gestellt. Konkret kritisierten Genoss:innen aus Georgien vom Solidarity Network Georgia etwa die Freihandelspolitik der EU. Ein Genosse aus Belgrad bezeichnete Serbien vor dem Hintergrund der noch geforderten Reformen als einen Kindergarten Europas.

Bulgarien befindet sich seit mehreren Jahren in einer politischen Krise, die sich in ständigen Neuwahlen äußert. Das politische Klima in dem Land ist rechts. Auftrieb erhält die Rechte in jüngster Zeit, weil sie die so­genannte Flüchtlingskrise politisch nutzen kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Bulgarien ein Nachbarland der Türkei ist. Aus Sicht der Genoss:innen gibt es in Bulgarien keine linke parlamentarische Kraft. Die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP), die Nachfolgeorganisation der kommunistischen Partei, war seit den 1990ern eine treibende Kraft hinter den neoliberalen Reformen und machte in den 2010ern mit einer erfolgreichen Kampagne gegen die Ratifizierung der Istanbuler Konvention gegen Gewalt gegen Frauen aufgrund der enthaltenen »Gender-Ideologie« auf sich aufmerksam. Auch die außerparlamentarische Linke Bulgariens ist schwach aufgestellt. Antikommunismus und die Stärke der Rechten stehen ihrer Ausbreitung entgegen. Die linken Gruppen haben nur wenige Mitglieder und viele migrieren. Die einzelnen Aktivist:innen sind daher stark überlastet. Solche Probleme konnten viele Genoss:innen aus osteuropäischen Ländern nur bestätigen.

Insgesamt arbeiten heute 2,5 Millionen Bulgar:innen im Ausland und 2,2 Millionen in Bulgarien selbst. Der Druck, zu migrieren und Gelder zurückzuüberweisen, wurde auch von Genoss:innen aus Georgien als ein großes Problem osteuropäischer Staaten thematisiert. Die Migration gilt als Folge neoliberaler Reformprogramme, die mit Jobverlusten und Deindustrialisierung einhergingen. Eine Genossin meinte zugespitzt, dass die Staaten des Ostblocks heute nichts mehr produzieren außer billigen Arbeitskräften. Das Problem ist, dass mit ihr eine Krise der sozialen Reproduktion der Herkunftsländer einhergeht, weil die Care-Arbeiter:innen in den Privathaushalten sowie in den öffentlichen und privaten Care-Einrichtungen fehlen. Des Weiteren wurde die Ungerechtigkeit thematisiert, dass die Staaten Westeuropas sich nicht an den Ausbildungskosten für die Care-Arbeiter:innen beteiligen.

Generell finden in den Betrieben in Bulgarien wenige Kämpfe statt. Hingegen gab es Protestbewegungen auf der Straße. Bulgarien ist laut den Genoss:innen das Land mit den wenigsten Streiks in der EU, wobei der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei 20 Prozent – also so hoch wie in Deutschland – liegt. Allerdings sind die meisten Mitglieder im öffentlichen Sektor zu finden. Seit 2014 versucht die Gruppe Konflikt und ihre Vorgängerorganisation, Arbeitskämpfe zu fördern.[2] Eine bedeutende Klassenauseinandersetzung in jüngster Zeit waren die Kämpfe von Krankenhauspersonal. Diese fanden vor allem auf der Straße statt, aber es gründete sich mittlerweile eine unabhängige Gewerkschaft des Krankenhauspersonals (SMBS), die für diesen Herbst und Winter Streiks in bulgarischen Krankenhäusern angekündigt hat. Die Streiks sollen sowohl an öffentlichen als auch privaten Krankenhäusern stattfinden.[3] Allerdings ist schwer vorherzusagen, wie groß die Beteiligung sein wird.

Darüber hinaus berichteten die Genoss:in­nen von einen Wildcat-Streik beim deutsch-schweizerischen Maschinenbauer Liebherr, der vor dem Hintergrund der Inflationsrate, die in Bulgarien derzeit 18 Prozent beträgt, zu sehen ist. Sonst sind Arbeitskämpfe im Privatsektor eher die Ausnahme.

Das Treffen lebte von diesem Austausch mit Genoss:innen. Es wurden  zahlreiche Kontaktadressen ausgetauscht und gemeinsame politische Projekte entwickelt, von denen wir vermutlich leider nur einen überschaubaren Teil werden umsetzen können. Insofern fuhren wir mit einer leichten Euphorie nach Hause.

Neben diesen schönen Erfahrungen möchte ich aber zwei Aspekte herausarbeiten, die meiner Meinung nach bei künftigen Treffen besser laufen sollten.

Zwei kritische Anmerkungen zu dem Treffen

Auf den Plena des Treffens kam es nur selten zu Diskussionen über politische Analysen oder, was noch wichtiger ist, zu einer gemeinsamen Strategie. Man muss etwa nicht dem gesamten Manifesto for a Transnational Politics of Peace von TSS zustimmen[4], wenn man den grundsätzlichen Perspektivwechsel teilt, der darin vorgenommen wird. Anstatt dass wir uns als Linke auf die Seite einer der beiden Kriegsparteien stellen, stellen wir uns gegen diese weltpolitische Konstellation, die mit ihren zerstörerischen Konsequenzen und nicht zuletzt der anhaltenden Inflation auf dem Rücken der proletarischen Bevölkerungen ausgetragen wird. Leider fand aber weder eine Diskussion über die Analyse noch die Strategie statt, wie wir für unsere Position im öffentlichen Raum streiten wollen. Viel eher wurden Statements vorgetragen, in denen wir uns unserer politischen Einigkeit versicherten. Vielleicht müsste es bei kommenden TSS-Treffen mehr Kleingruppen geben, in denen ausgearbeitete Strategieentwürfe gemeinsam diskutiert werden. Andernfalls fahren die Genoss:innen, gerade aus kleineren Gruppen, ratlos nach Hause oder es führt dazu, dass wir uns auf lokale und nationale politische Strategien zurückziehen und die transnationale Sphäre wieder verlassen.

In ihrem Statement in der Abschlussrunde beklagten die Angry Workers, dass sie gerne mehr kämpfende Belegschaften auf dem Treffen gesehen hätten – wie etwa die Hafenarbeiter:innen in Genua, die das Verladen von Waffenlieferungen auf das Territorium der Ukraine verhinderten, oder Vertreter:in­nen von Belegschaften, die für einen ökologischen Umbau ihrer Produktionsmittel kämpfen, oder Kollektive von migrantischen Arbeiter:innen. Das Problem daran wurde im Panel zur ökologischen Krise deutlich. Dort wurde die strukturelle Macht der Logistikarbeiter:innen, die für die Kämpfe der Klimabewegung nützlich wären, genannt – allerdings ohne, dass Logistikarbeiter:innen vor Ort gewesen wären. Das Treffen erhält auf diese Weise den Charakter, den wir in vielen linken Bündnissen in Deutschland im letzten Jahrzehnt erlebt haben. Studierende, Arbeiter:innen im akademischen ­Betrieb, in Gewerkschaften oder aus dem NGO-Sektor diskutieren gemeinsam eine politische Agenda, aber die Beschäftigten, die die Kämpfe am Ende führen sollen, sind aus den Diskussionen ausgeschlossen. Das kann politisch nicht gut gehen. Ich will nicht behaupten, dass keine Arbeiter:innen aus kämpfenden Belegschaften dort waren, aber eben viel zu wenige bzw. sie waren wenig sichtbar. Sie ergriffen in den Diskussionen selten das Mikrophon. Hierbei war eine Ausnahme ein Workshop von europäischen Arbeiter:innen aus dem Care-Sektor, wo sich über Erfahrungen ausgetauscht wurde.

Eine Aktivistin meinte in der Diskussion, dass die Treffen für basisaktive Arbeiter:innen nicht geeignet seien und diese anderes zu tun hätten. Hiermit könnte sie Recht haben. Mir selbst fällt es schwer, Arbeiter:innen zu motivieren, zu einem Treffen mit so einem geringen politischen Output zu gehen. Zugleich muss erwähnt werden, dass dies früher anders war. Auf den Treffen 2015 in Poznan und 2016 in Paris etwa kamen jeweils auch Logistikarbeiter:innen und Beschäftigte anderer Sektoren zustanden. Auch die Entstehung von Amazon Workers International als transnationalem Netzwerk von Amazon-Arbeiter:innen konnte in seinen Anfangszeiten von den Treffen stark profitieren.

Die Abwesenheit kämpfender Belegschaften ist dabei nicht den Organisator:innen anzulasten. Dies müssen die im TSS-Netzwerk assoziierten Gruppen leisten und dabei gemeinsam Übersetzung und Fahrtkostenzuschüsse organisieren. Dieser Kosten- und Ressourcenaufwand kann nicht bei einzelnen Gruppen hängen bleiben.

Diese beiden Punkte sind als Anregung für die Organisator:innen der künftigen TSS-Treffen gedacht, an denen wir bestimmt wieder teilnehmen werden. Denn es ist es wert, eine europäische Linke aufzubauen, die politisch über den Nationalstaat als Terrain unserer Kämpfe hinausgeht. Hierfür ist der Austausch von Genoss:innen aus West- und Osteuropa auf solchen Treffen unerlässlich.

Bericht von einem Mitglied des Streiksolibündnisses Leipzig, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Ausgabe 9/2022

Anmerkungen:

1  Auf der Webseite der Gruppe finden sich auch englischsprachige Text, die einen Einblick in feministische Kämpfe in Bulgarien und Osteuropa geben: https://levfem.org/blog/category/english/ externer Link

2  Einen lesenswerten Bericht über den Aufbau von Basisgewerkschaften vor dem Hintergrund der Besonderheiten des bulgarischen Kapitalismus findet sich auf der englischsprachigen Homepage der Gruppe Konflikt: https://konflikt.org/en/analysis/basic-syndicalism-at-the-end-of-nowhere/ externer Link

3  Einen Einblick in die Ausgangslage von Kämpfe im osteuropäischen Krankenhaussektor findet sich im folgenden Text von Konflikt: https://konflikt.org/en/
analysis/workplace-organisation-or-spectacular-actions-nurses-struggles-in-eastern-europe/
externer Link. Ein interessantes Detail bei den Kämpfen im bulgarischen Krankenhaussektor ist, dass das dortige Krankenkassensystem aus Deutschland übernommen wurde.

4  Eine deutsche Übersetzung findet sich hier: https://www.transnational-strike.info/2022/07/18/manifest-fur-eine-transnationale-friedenspolitik/ externer Link

Siehe zum Treffen auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=204820
nach oben