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Das endgültige Ende des „arabischen Frühlings“? Boykottaufruf der Oppositionsgruppen in Tunesien wirkt – und verhindert nicht die neue Verfassung

Dossier

Proteste in Tunesien 2011Am Montag, dem 25. Juli, fand in Tunesien ein Referendum darüber statt, ob die Verfassung von 2014 geändert werden soll oder nicht. Bei niedriger Wahlbeteiligung 27,5 Prozent soll die tunesische Bevölkerung mit 92,3 Prozent neuen Verfassung zugestimmt haben, mit der die Befugnisse des Präsidenten auf Wunsch von Amtsinhaber Kais Saied ausgeweitet werden sollen. Kritikerinnen und Kritiker fürchten um die demokratischen Errungenschaften, die mit dem „arabischen Frühling“ 2011 erlangt wurden und riefen zum Boykott des Referendums auf, weil sie davon ausgehen, dass so oder so das Programm der Errichtung einer neuen Diktatur in Tunesien umgesetzt werden soll. Am Wochenende vor dem Referendum demonstrierten  Hunderte Menschen im Zentrum von Tunis gegen diese Gefahr einer erneuten Diktatur. Siehe dazu einige Informationen:

  • Auf den Frühling folgt der Winter & Das tunesische Volk ist gegen die absolute AutokratieNew
    • „Per Verfassungsreferendum ebnet sich der tunesische Präsident Kais Saied den Weg in die Präsidialdiktatur. Breiten Widerstand dagegen gibt es kaum. Zu verhasst ist die bis 2021 regierende islamistische Ennahdha, die von Saied entmachtet wurde. Die Linke wiederrum ist in der Frage gespalten…“ Artikel von Nadia el Ouerghemmi und Andreas Bohne, erschienen am 26. Juli bei Informationszentrum 3. Welt externer Link
    • „… Der tunesische Präsident Kais Saied hat die politische Krise in Tunesien einen Schritt weitergebracht, indem er am 25. Juli ein Verfassungsreferendum abhielt. Trotz der geringen Beteiligung von weniger als 30 % der Wähler:innen bezeichnete Saied die Abstimmung als konkreten Sieg für die von ihm vorgeschlagene Verfassung. Die fortschrittlichen Kräfte im Land lehnen die Verfassung ab und sehen darin den letzten Schritt des Präsidenten, die Demokratie zu untergraben und eine autokratische Herrschaft zu errichten. Das Referendum wurde von fortschrittlichen und linken Gruppen in ganz Tunesien abgelehnt. Viele von ihnen bildeten eine Koalition, um die Abstimmung zu boykottieren und eine Rückkehr zur demokratischen Ordnung zu fordern. Für viele drohen die von Saied ergriffenen Maßnahmen die Errungenschaften der Revolution von 2011 zu untergraben, von denen viele in der Verfassung von 2014 festgeschrieben wurden. Eine der großen Protestierenden, die die Koalition Tage vor dem Referendum organisiert hatte, wurde von Polizei und Sicherheitskräften gewaltsam unterdrückt. Mehrere Menschen wurden verletzt und ins Krankenhaus eingeliefert und 11 Personen wurden festgenommen. (…) Jallouli hebt hervor, dass eine der wichtigsten Errungenschaften der tunesischen Revolution darin bestand, ‚die Form der Macht deutlich zu verändern, indem die autoritäre, diktatorische Form überwunden wurde, die die Zeit vor dem 14. Januar 2011 kennzeichnete, sei es die Ära von General Ben Ali, Bourguiba oder sogar die Monarchie, die mehrere Jahrhunderte andauerte.‘ Die Ziele der Revolution wurden nicht nur durch die Aushöhlung der demokratischen Institutionen untergraben. Jallouli fügt hinzu, dass die Forderungen nach wirtschaftlicher Gerechtigkeit für das Volk noch nicht erfüllt sind und dass es in der letzten Zeit zu erheblichen Rückschlägen bei den wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen der tunesischen Bevölkerung gekommen ist. Die rekordverdächtig hohe Inflation und das enorme Wachstum der informellen oder parallelen Wirtschaft haben dazu geführt, dass die Mehrheit der Massen in eine Situation der ‚Verzweiflung und Frustration‘ geraten ist, was Saied seiner Meinung nach ausgenutzt hat, um seine politischen Gegner anzugreifen.“ Artikel und Interview von Zoe Alexandra, erschienen am 5. August 2022 auf People’s Dispatch externer Link („Ali Jallouli: Das tunesische Volk ist gegen die absolute Autokratie‘“).
    • Auf den Frühling folgt der Winter
      Per Verfassungsreferendum ebnet sich der tunesische Präsident Kais Saied den Weg in die Präsidialdiktatur. Breiten Widerstand dagegen gibt es kaum. Zu verhasst ist die bis 2021 regierende islamistische Ennahdha, die von Saied entmachtet wurde. Die Linke wiederrum ist in der Frage gespalten. (…)
      Die Ohnmacht der Linken
      Die Entscheidungen des 25. Juli 2021 stellten die linken Kräfte vor ein Dilemma, galten sie doch als Schlag gegen die Ennahdha, den politischen und ideologischen Hauptgegner der Linken, der für die politische und wirtschaftliche Krise nach 2011 verantwortlich gemacht wurde. Entsprechend schien eine zu deutliche Kritik an Saieds Vorgehen für viele als inkonsequent oder konnte gar als Sympathisieren mit der Ennahdha interpretiert werden. Einzig eine kleine Anzahl von Akteuren, allen voran die Arbeiterpartei, bezeichnete die Geschehnisse bereits am 26. Juli 2021 als Putsch, was selbst in den eigenen Reihen für teils heftige Kritik sorgte.
      Die offiziellen Positionen des Gewerkschaftsdachverbands (UGTT), der Bewegung demokratischer Patrioten, der Partei Al Masar, der Tunesischen Liga für Menschenrechte (LTDH) sowie anderer dem linken Spektrum zuzuordnenden Akteure, ähneln sich auf den ersten Blick stark. So begrüßten sie zunächst die Maßnahmen Saieds, die sie als notwendige Kurskorrektur und als Bruch mit einem »gescheiterten« System interpretieren. Gleichzeitig warnten sie deutlich vor den Gefahren einer hohen Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten und mahnten ein schnelles Ende des Ausnahmezustands an. Jedoch hat sich ein Teil der Vertreter*innen dieser Position bewusst für eine abwartende Haltung entschieden, indem sie zu diesem Zeitpunkt keine eindeutige Beurteilung abgaben. Hierunter fällt etwa die UGTT, die neben ihrer gewerkschaftlichen Position einer der wichtigsten politischen Akteure des Landes ist. Bei anderen Akteuren wie der LTDH und der Bewegung Demokratischer Patrioten traten in den eigenen Reihen unterschiedliche Einschätzungen der Geschehnisse auf, was zuvor existierende Konflikte neu entfachte oder verstärkte und somit zu einer weitgehenden politischen Lähmung führte. (…)
      Anfang Juni 2022 entstand mit der aus der Arbeiterpartei, der linksliberalen Al-Qotb sowie drei sozialdemokratischen Parteien bestehenden »Koalition zum Boykott des Referendums« der einzige Zusammenschluss mit linker Beteiligung. Über die Mobilisierung zum Boykott hinaus schaffte es dieses Bündnis jedoch nicht, eine Alternative zu Kais Saied zu bilden. Auch angesichts des Ende Juni erschienenen Verfassungsentwurfs, dessen Kritik und Ablehnung von allen relevanten Akteuren des linken Spektrums geteilt wird, gelingt es der gesellschaftlichen und politischen Linken nicht, die eigenen Gräben zu überwinden, sich eindeutig zu positionieren oder gar gegen Kais Saied zu mobilisieren. Stattdessen setzt sich die jahrelang zu beobachtende Fragmentierung und Krise der politischen Linken fort. Während der Präsident seinen Plan unbeirrt vorantreibt, muss er keinen Widerstand von links fürchten.“ Artikel von Nadia el Ouerghemmi und Andreas Bohne in iz3w 392 externer Link vom September/Oktober 2022
  • Tunesien: „Kleine Diktatur“ gefällig?
    „Man kennt diesen Spruch aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Kontexten: „Wir fürchten eine kleine Diktatur nicht, um das Land aufzuräumen“. (Vgl. https://www.france24.com/fr/afrique/20220725-r%C3%A9f%C3%A9rendum-en-tunisie-on-ne-craint-pas-une-petite-dictature-pour-nettoyer-le-pays externer Link) Auch im nordafrikanischen Tunesien, das Land gilt als Wiege des „Arabischen Frühlings“ von 2011, hat diese Devise derzeit ihre Anhänger und Anhängerinnen, hier zitiert in einer Reportage des französischen Auslandsfernsehsenders France 24.
    Hintergrund für die relative Popularität dieser Auffassung ist natürlich auch im tunesischen Falle eine schwere soziale und ökonomische Krise. Erheblich verschärft wurde diese in den letzten beiden Jahren durch die globale Pandemiekrise, die auch Tunesien vor allem im Laufe von 2021 stark heimsuchte, und das damit einhergehende Ausbleiben der Tourismusströme, die einen wesentlichen Anteil an den Deviseneinnahmen des Staates trugen. Ein wenig Erleichterung verschafft in diesen Tagen die Wiederöffnung der Landgrenze zwischen Tunesien und Algerien seit dem 15. Juli d.J. – auch aus dem Nachbarstaat kommen viele Urlauberinnen und Urlauber an Tunesiens Strände, und der kleine Grenzverkehr im Warenhandel spielt eine wichtige Rolle bei der Versorgung der küstenfernen Regionen in Tunesien.
    Zum Anwendungsfeld der o.g. Maxime droht das Land mit knapp zwölf Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern tatsächlich zu werden, nachdem am vorgestrigen Montag, den 25. Juli 22 die Abstimmungsvorlage des amtierenden, im Oktober 2019 gewählten Staatspräsidenten Kaïs Saïed mit formal breiter Mehrheit angenommen wurde. Über neunzig Prozent der an der Abstimmung Teilnehmenden stimmten der Referendumsvorlage zu; zuletzt war am Mittwoch früh offiziell von 94,6 % Zustimmung die Rede. Allerdings muss dieser Erfolg des Amtsinhabers insofern erheblich relativiert werden, als die Abstimmungsbeteiligung auch laut offiziellen (eventuell nicht manipulationsfreien) Angaben zufolge bei der Schließung der Stimmlokale um 22 Uhr nur insgesamt 27,5 Prozent betrug. (Vgl. https://kapitalis.com/tunisie/2022/07/25/tunisie-referendum-le-taux-de-participation-a-22h-isie/ externer Link)
    Der Text sieht eine sehr weitgehende Rückkehr zu einem Präsidialsystem ohne irgendein reales institutionelles Gegengewicht zum Staatsoberhaupt vor. Die Machtfülle des Präsidenten würde erneut jener ähneln, die seine Amtsvorgänger bis zum Umsturz im Januar 2011 und der damaligen Flucht des (inzwischen im saudi-arabischen Exil verstorbenen), seit 1987 autoritär regierenden Staatschef Zine el-Abidine Ben ‘Ali innehatten.
    Passenderweise wurde dieses Referendum am Montag dieser Woche jüngst auf den ersten Jahrestag des „institutionellen Putschs“ vom 25.07.2021 anberaumt, mit dem Amtsinhaber Saïed das Parlament beurlaubte und die Abgeordneten nach Hause schickte. (Vgl. https://www.heise.de/tp/features/Neuer-Autoritarismus-Exempel-Tunesien-6330893.html externer Link) Bei diesem Schritt ist es keineswegs geblieben. Im Juni dieses Jahres entließ der Staatspräsident eigenmächtig über fünfzig Richterinnen und Richter auf einen Schlag. (Vgl.  https://www.france24.com/fr/afrique/20220602-en-tunisie-le-pr%C3%A9sident-ka%C3%AFs-sa%C3%AFed-limoge-57-juges-qu-il-accuse-de-corruption externer Link) Er wirft ihnen „Korruption“ vor, doch offenkundig ging es vielen Fällen auch ebenso wie schlicht wie eindeutig darum, politisch unliebsame Figuren loszuwerden. Auch änderte der Präsident, der seit der Aussetzung des Mandats der Abgeordneten auf dem Verordnungsweg regiert und in eigener Vollmacht sonst dem Gesetzgeber vorbehaltene Eingriffe vornimmt, die Zusammensetzung der obersten Kontrollbehörde für Wahlen. (Vgl. https://www.courrierinternational.com/article/democratie-en-tunisie-le-president-met-la-main-sur-l-instance-electorale externer Link)
    Von Rechtsstaatlichkeit ist also bereits nur noch wenig übriggeblieben, während bereits vor Saïeds Amtsantritt zu Ende der 2010er Jahre die in der Ben ’Ali-Ära verbreitete Folterpraxis wieder in den Polizeiwachen Einzug hielt. (Vgl. https://www.lemonde.fr/afrique/article/2017/05/11/la-torture-en-tunisie-une-culture-qui-ne-veut-pas-mourir_5125775_3212.html externer Link  Von „Machtkonzentration“ und einer „Wiedergeburt einer Diktatur“ war in unterschiedlichen Quellen seit mehreren Monaten die Rede (vgl.  https://www.lenouveleconomiste.fr/tunisie-ou-comment-renait-une-dictature-91159/ externer Link); auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty international erklärte ihre Besorgnis. (Vgl. https://www.amnesty.fr/actualites/tunisie-derive-autoritaire-du-president-kais-saied-la-chronique externer Link)
    Dass Kaïs SaÏed dennoch mit seiner Abstimmungsvorlage glatt – jedoch bei geringer Stimmbeteiligung – durchkam, hängt zuvörderst auch mit der Enttäuschung über die politischen Parteien zusammen, die seit 2011 das Land regierten und die Demokratisierung voranzutreiben hatten. In Wirklichkeit verfolgte vor allem die an sämtlichen Koalitionsregierungen, die infolge der ersten freien und pluralistischen Wahl vom Oktober 2011 gebildet wurden, beteiligte und bis zuletzt (also bis vor einem Jahr) ohne Unterbrechung mitregierende islamistische Partei En-Nahdha, „Wiedergeburt“, eine weitgehend ideologische Agenda. An materiellen, positiven sozialen Veränderungen war sie weder wirklich interessiert, noch zeigte sie sich dazu in der Lage, in Ermangelung irgendeines ökonomischen Alternativkonzepts. Insofern erklärten viele Wählerinnen und Wähler, die für Kaïs Saïds Referendumsvorlage stimmten, dass sie „für Veränderung“ votieren wollten (vgl. https://www.francetvinfo.fr/monde/afrique/tunisie/elections-en-tunisie/reportage-tunisie-je-vais-voter-pour-le-changement-pas-pour-le-president-le-dilemme-des-electeurs-face-au-referendum-sur-la-constitution_5275432.html externer Link), auch wenn dies vordergründig paradox klingt. Tatsächlich trifft der Unmut der Bevölkerung über die sozioökonomischen Verhältnisse, die sich gegenüber dem Zeitpunkt des Umbruchs von 2011 verschlechtert hatten, jedenfalls bislang die zehn Jahre regierenden politischen Parteien und noch kaum den Staatspräsidenten.
    Letzterer bleibt zumindest ein relativer Sieger, auch wenn das rund um En-Nahdha gebildete Oppositionsbündnis in Gestalt der „Nationalen Rettungsfront“ – es bestehen noch mehrere andere Oppositionsallianzen, die mit Ersterem nicht zusammenarbeiten möchten, was eine der Schwächen der Saïed-Gegner//innen ausmachte – von seiner Niederlage beim Referendum spricht und ihn heute zum Rücktritt auffordert. (Vgl. https://www.businessnews.com.tn/le-front-de-salut-demande-la-demission-de-kais-saied,520,121368,3 externer Link)
    Die von den Parteien unabhängig Zivilgesellschaft wachte erst relativ spät auf, doch auf einem Forum von Nichtregierungsorganisationen und Menschenrechtsgruppen am 14. Juli formulierten ihre Köpfe ihre Bedenken gegenüber dem drohenden, neuen autoritären Regime. (Vgl. https://kapitalis.com/tunisie/2022/07/14/projet-de-constitution-et-dictature-la-societe-civile-tunisienne-nabandonnera-pas-affirme-mohamed-yassine-jelassi/ externer Link) Das war reichlich spät. Allerdings war auch die Abstimmungsvorlage selbst kaum einen Monat vor dem Referendumstermin bekannt gegeben worden, um den Opponenten möglichst wenig Zeit zu lassen, sich genau zu positionieren. Dass ein Gutteil der Kritikerinnen und Kritiker nicht zum „Nein“-Stimmen, sondern zum Boykott des Referendums aufrief, erlaubte den hohen Anteil an „Ja“-Stimmen, erklärt jedoch zugleich die geringe Stimmbeteiligung mit.
    Bislang konzentrierte sich allerdings die Opposition gegen Saïed und seine Pläne stark auf die intellektuelle Berufe ausübenden Schichten, während die sozialen Unterklassen ihre „Wechsel“-Hoffnungen noch tendenziell eher mit Präsident Saïed als mit dem ihm widerstrebenden politischen Kräften verknüpften. Der in Tunesien gesellschaftlich einflussreiche Gewerkschaftsdachverband UGTTT zeigte sich im Vorfeld des Referendums gespalten. (Vgl. https://www.africaintelligence.fr/afrique-du-nord/2022/07/07/l-ugtt-desunie-avant-le-referendum-de-kais-saied,109797679-art externer Link und https://www.africaintelligence.fr/afrique-du-nord/2022/07/15/a-dix-jours-du-referendum-l-ugtt-forcee-de-composer-avec-ses-adherents-pro-saied,109799504-art externer Link) Hingegen rief die wesentlich kleinere Gewerkschaftsorganisation UTT, deren Namen „völlig zufällig“ fast zum Verwechseln gleich klingt, zur Annahme der Abstimmungsvorlage auf. (Vgl. https://www.mosaiquefm.net/fr/referendum/1068714/referendum-l-utt-appelle-a-voter-oui externer Link)
    Die Feststellung, dass bislang die begründete Unzufriedenheit der Bevölkerung überwiegend die seit 2011 regierenden Parteien, jedoch kaum den autokratisch regierenden und zugleich zunehmend an religiös-konservative Werte appellierenden Präsidenten – dessen Verfassungstext verpflichtet die künftig Regierenden explizit auf die Werte der islamischen Religion als Eckrahmen – trifft,  könnte sich allerdings rapide ändern. Tunesien muss derzeit mit dem IWF um neue Kredite verhandeln, dieser fordert vor allem eine starke Reduzierung der Subventionen auf Grundnahrungsmittel. Wenn nun Saïed auf manifeste Weise selbst die Politik diktiert, dürfte er aber auch künftig für ihre Auswirkungen verantwortlich gemacht werden. Von der politischen Opposition hatte er zuletzt eher wenig zu befürchten, vor der sozialen (vgl. https://www.lemonde.fr/afrique/article/2022/07/22/en-tunisie-la-misere-et-l-exclusion-des-jeunes-defis-de-l-apres-referendum_6135807_3212.html externer Link) sollte er sich wohl in acht nehmen.“ Artikel von Bernard Schmid vom 27.7.2022 – wir danken!  (Eine Kurzfassung gab es am 26. Juli 2022 in Telepolis externer Link)
  • Tunesien: Boykott des Referendums!
    franz. Zusammenstellungen von Texten tunesischer AnarchistInnen zum Referendum in Tunesien dokumentiert bei CNT-AIT France externer Link
  • Referendum in Tunesien: Was bleibt vom Arabischen Frühling?
    Tunesiens Präsident Kais Saied will mit einem Verfassungsreferendum seine Macht vergrößern. Die Journalistin Sarah Mersch fürchtet um Errungenschaften des Arabischen Frühlings. Der Schriftsteller Amor Ben Hamida befürwortet den Plan des Präsidenten.
    Rekord-Inflation, steigende Preise für Energie und Lebensmittel, eine lahmende Wirtschaft, immense Arbeitslosigkeit: Tunesien hat mit vielen Problemen zu kämpfen. Präsident Kais Saied erklärte im Sommer 2021 den Notstand und setzte die Regierung ab. Nun hat er seine Bevölkerung aufgerufen, einer Verfassungsänderung zuzustimmen, die seine Macht gegenüber dem Parlament erheblich stärken soll. Für das Referendum zeichnet sich eine breite Mehrheit ab, bei allerdings schwacher Wahlbeteiligung. Kritiker befürchten, dass der Präsident sich mit Hilfe der neuen Verfassung zu einem neuen Diktator aufschwingt. Tatsächlich wolle Saied ein anderes Herrschaftssystem einführen, das mehr Entscheidungsgewalt in der Person des Präsidenten konzentriere, sagt die Journalistin Sarah Mersch. Nachdem der frühere Machthaber Ben Ali im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 gestürzt wurde, habe Tunesien sich bewusst für ein hybrides System entschieden, das die Macht zwischen Parlament und Präsident verteile, „damit es eben nicht mehr so einen starken Herrscher an der Spitze des Staates geben wird“, erklärt Mersch. Die neue Verfassung würde dem Präsidenten wieder sehr viel mehr Rechte zubilligen und sie sehe nicht einmal die Möglichkeit eines Amtsenthebungsverfahrens vor. (…) Dem Referendum am 25. Juli gingen Proteste voraus, dezidiert kulturelle Initiativen habe sie jedoch nicht beobachtet, so die Journalistin. In der Bevölkerung finde Präsident Saied mit seinen Plänen im Übrigen durchaus Zustimmung. Viele Menschen seien frustriert wegen fehlender Arbeit und steigender Preise, manche sehnten sich deshalb sogar nach der Regentschaft Ben Alis zurück. Hinzu komme eine jahrelange Blockadepolitik zwischen Präsident und Parlament, die einen Neuanfang verhindert habe. Der in der Schweiz lebende tunesische Schriftsteller Amor Ben Hamida hält Kais Saieds Vorhaben vor diesem Hintergrund für „absolut richtig“. Der Versuch, nach 2011 eine Demokratie nach europäischem Vorbild einzuführen, sei gescheitert. Das sei traurig, „aber ich glaube, wir sind noch nicht reif dafür“, so Hamida…“ Sarah Mersch und Amor Ben Hamida im Gespräch mit Gabi Wuttke am 25.07.2022 in deutschlandfunkkultur.de externer Link
  • Bevölkerung stimmt in Tunesien über Verfassungsreform ab
    Tunesiens Präsident will seine Macht mithilfe eines Referendums stärken. Die Opposition befürchtet eine Rückkehr zur Diktatur und ruft auf, der Abstimmung fernzubleiben. (…) Umfragen deuten auf eine geringe Wahlbeteiligung hin. Die neue Verfassung tritt allerdings unabhängig von der Wahlbeteiligung in Kraft, solange sie mit einfacher Mehrheit bestätigt wird. Saied betrachtet die bisherige Verfassung nach eigenen Angaben als nicht mehr gültig und regiert seit 2021 weitgehend per Dekret. Die geplanten Änderungen sollen Saied erlauben, den Regierungschef sowie Minister ohne parlamentarische Beteiligung zu ernennen und zu entlassen. Dasselbe soll auch für Richter gelten. Zudem sieht die Reform vor, vom Präsidenten eingebrachten Gesetzesentwürfen Vorrang vor anderen Gesetzesinitiativen einzuräumen. Eine Absetzung Saieds wäre nach der neuen Verfassung nicht vorgesehen. Die Opposition befürchtet eine Rückkehr Tunesiens zur Autokratie und hatte zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Auch der Jurist Sadok Belaid, den der Präsident mit der Erarbeitung der Verfassung betraut hatte, distanzierte sich von deren Endfassung. Sie könne „den Weg zu einem diktatorischen Regime freimachen“, sagte Belaid...“ Agenturmeldung vom 25. Juli 2022 in der Zeit online externer Link
  • Neue Verfassung in Tunesien: Islam soll nicht mehr Staatsräson sein, sondern Privatsache
    Verfassungsreform Eine neue Verfassung in Tunesien relativiert das Bekenntnis zum Islam. Die Entstehung des Verfassungstextes gibt allerdings Grund zur Sorge (…) Tunesien würde damit nach Syrien zum zweiten laizistischen Staat der islamischen Welt. Das sorgt ebenso für Furore wie die Entstehung des Verfassungstextes. Anders als die Magna Charta von 2014 kam der nicht als kollektives Fazit einer verfassunggebenden Versammlung zustande, sondern als Produkt einer durch den Präsidenten berufenen Kommission. Das schürt den Verdacht, dies diene den Auffassungen von Kaïs Saïed und stärke das Präsidialsystem. Das Lob der EU, die Tunesien zum einzigen Land erklärt hat, in dem die Ziele des Arabischen Frühlings von 2011 Bestand hätten, wäre damit ebenfalls hinfällig. Freilich hat die Demokratisierung das Land sozial zurückgeworfen und ihre Schattenseiten. (…)
    Tatsächlich wird Tunesien seit dem 25. Juli 2021 durch präsidiale Dekrete regiert. Corona hatte das Land in eine humanitäre Krise versetzt. Weil es weder genügend Impfstoffe noch Sauerstoff für die Erkrankten gab und Notfälle von den Klinken abgewiesen wurden, entließ der Präsident die dafür verantwortliche Regierung und schloss zugleich das Parlament. Das führte zu energischen Protesten der Parteien, besonders der islamistischen Ennahda. Deren Chef Rachid Ghannouchi war damals Parlamentspräsident, hatte sein über Jahrzehnte erworbenes Charisma aber in der Partei verloren. Dass sie trotz ihrer nach der Revolution von 2011 gewonnenen Machtposition weder den Terrorismus eingedämmt noch die rasante Verarmung der Bevölkerung aufgehalten hatte, bewirkte nun, dass der Coup des Präsidenten nicht nur hingenommen, sondern von vielen begrüßt wurde. Das Corona-Management übertrug Saïed der Armee, der Notstand konnte durch rasche Importe aus China und Algerien bald beendet werden. Überdies verfügte der Präsident Maßnahmen gegen soziale Missstände und führte eine Preiskontrolle für Grundnahrungsmittel ein. Das verärgerte einen Teil der liberalen Wirtschaft, in der islamistische Kreise stark vertreten sind.
    An der prekären ökonomischen Lage des rohstoffarmen, vom Tourismus abhängigen Landes konnte Saïed bislang nichts ändern. Schlimmer noch, seine Maßnahmen wurden durch das verknappte Getreide und Speiseöl auf dem Weltmarkt zum Bumerang. Diese Produkte sind auf dem tunesischen Markt nur noch schwer erhältlich. Zu einem Stimmungsschub für eine erneute Liberalisierung führt das indes nicht. Viele Tunesier ziehen weiter auch autoritäre Schritte vor. (…) Sowohl der Währungsfonds IWF wie die EU drohen damit, dem Land dringend benötigte Kredite zu verweigern, sollte Präsident Saïed den Konfrontationskurs mit den demokratischen Institutionen nicht aufgeben. In den Augen des Westens ist die der Muslimbruderschaft verbundene Ennahda-Partei eine demokratische Institution, steht sie doch für eine neoliberale Wirtschaft, in der sozialer Ausgleich nicht durch Steuerpolitik, sondern freiwillige Gaben der Besitzenden – sprich: karitatives Handeln – herbeigeführt werden soll…“ Artikel von Sabine Kebir vom 23.07.2022 im Freitag online externer Link
  • Unfall der tunesischen Demokratie
    Am 25. Juli lässt Präsident Saied die Tunesier über eine neue Verfassung abstimmen, die seine Macht ausweiten würde. Er nutzt die Wut auf die politische Elite, die so groß ist wie vor der Revolution. (…)
    „Tunesien wurde im Ausland gerne als Vorzeigeland des arabischen Frühlings bezeichnet. Für viele Bürger hatte die Demokratie viel versprochen, aber nicht geliefert,“ sagt der politische Analyst Hamza Meddeb. „Die nach 2011 gewählten Parteien und Institutionen schienen in den Regionen sogar korrupter und unfähiger als vor der Revolution zu sein.“ Wenige Stunden nachdem Saied im vergangenen Jahr das Parlament abgesetzt hatte, gingen die Tunesier auf die Straße. Aber nicht, um gegen den Staatsstreich zu demonstrieren, sondern aus Freude über den Rauswurf der Abgeordneten. Saied war darüber wohl selbst überrascht. Der 64-Jährige zögerte nicht lange und löste im Herbst die Abgeordnetenkammer endgültig auf. Im Januar berief er eigenmächtig Najla Bouden zur Premierministerin. Die Ingenieurin und ihre Minister müssen nun regelmäßig zum Rapport in den Präsidentenpalast. (…) Unbeirrt von der steigenden Wut der Bürger auf die exorbitant gestiegenen Lebensmittelpreise krempelt Saied im Alleingang auch gegen die Verbündeten das Land um. Das erlebte Sadok Belaid, Vorsitzender der von Saied ausgewählten Verfassungskommission, nachdem der Jurist am 20. Juni den Verfassungsentwurf vorgestellt hatte. Die zehn Tage später von Saied veröffentlichte Version hatte mit dem von den anerkannten Juristen erarbeiteten Papier nichts mehr zu tun. Das Projekt des Präsidenten sei gefährlich und ebne den Weg zu einer Diktatur, so Belaid. Noch mehr in Rage schien ihn der Bezug auf den Islam zu bringen. Dessen Ziele solle der Staat zukünftig durchsetzen, sagt Saied. Das ist ein indirekter Hinweis auf die Scharia und ein scharfer Gegensatz zur Verfassung von 2014. Der Islam spielt in der aktuellen Verfassung keine Rolle, ein Kompromiss, auf den sich die Ennahda nach einem breiten gesellschaftlichen Diskurs eingelassen hatte. Der Verfassungsentwurf des Präsidenten sei hingegen „die Rückkehr zu den finsteren Zeiten der islamischen Zivilisation“ so Kommissionschef Belaid. Tunesien definiert sich in der Verfassung als Teil der islamischen Weltgemeinschaft, damit dürfte das gerade reformierte Erbschaftsrecht, das auch Frauen gleiche Rechte gibt, Geschichte sein, befürchten Kritiker. Artikel 55 hebt die öffentliche Moral über persönliche Rechte und Freiheiten. Damit dürften Unverheiratete oder die LGBTQ-Szene stärker ins Visier der Polizei geraten. Kritiker des Präsidenten oder des Staatsapparates leben schon jetzt gefährlich…“ Artikel von Mirco Keilberth, Tunis, am 16. Juli 2022 in der Süddeutschen Zeitung online externer Link

Siehe zum Thema im LabourNet:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=203033
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