»
Frankreich »
»
»
Frankreich »
» »

Frankreich: Apathisches Wahlvolk, überschätzter Macron – und Siegeschancen für Madame Le Pen? Und was einige der bestplatzierten KandidatInnen zur Wirtschafts- und Sozialpolitik äußern

Graffiti in Frankreich 2017: Kotz auf den FN„… Frankreich wählt am kommenden Sonntag. Dabei handelt es sich um den ersten Durchgang des im aktuellen politischen System des Landes – dem der 1958 begründeten Fünften Republik – mit Abstand wichtigsten Wahlereignisses in Frankreich, also der Präsidentschaftswahl. (…) Das herausragende Merkmal des Vorwahlklimas ist das verbreitete Desinteresse, ja die relative politische Apathie. (…) Was seit Juni 2020 weitgehend, wenn auch nicht gänzlich fehlte, waren gewerkschaftliche, soziale oder auch mehr oder minder linke Mobilisierungen zu dieser oder jener gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Auf lokaler Ebene, in den einzelnen Betrieben kam es allerdings (etwa im Herbst 2021) zu einer Welle örtlich und inhaltlich begrenzter Arbeitskämpfe, bei denen es um Lohnerhöhungen zum Ausgleich der seit Monaten steigenden Inflation ging. (…) Nutznießerin könnte dabei schlussendlich die vor einigen Monaten vorschnell politisch abgeschriebene Marine Le Pen sein. (…) Themen wie „Kaufkraft“ und die Verteilung von Reichtümern waren in jüngerer Vergangenheit üblicherweise eher Gegenstände für die politische Linke. Dennoch schafft diese es nicht, diese Debatte in der breiteren Öffentlichkeit zu dominieren und darin zu punkten…“ Umfassender Artikel von Bernard Schmid vom 8.4.2022 – wir danken!

Frankreich: Apathisches Wahlvolk, überschätzter Macron? – und Siegeschancen für Madame Le Pen?

Und was einige der bestplatzierten Kandidat/inn/en zur Wirtschafts- und Sozialpolitik äußern

Es gibt wenigstens einen Grund, anzunehmen, dass Amtsinhaber Emmanuel Macron die französische Präsidentschaftswahl am Sonntag gewinnen dürfte. Die sich für eine „Sozialwissenschaftlerin“ haltende Elizabeth Teissier – die werte Dame in Paris, die Astrologie zur Wissenschaft (sic) erklären möchte und dank eines umnachteten Professors dafür sogar einen Doktortitel an der Sorbonne erhielt (vgl. https://www.liberation.fr/societe/2001/04/09/elizabeth-teissier-docteur-des-astres_360739/ externer Link) – glaubt, dass Macron „sich Sorgen machen muss“. (Vgl. https://www.voici.fr/news-people/elizabeth-teissier-preoccupee-la-celebre-astrologue-inquiete-pour-emmanuel-macron-au-moment-de-lelection-726630 externer Link) Dies teilten ihr die Sterne mit. Da man im Prinzip davon ausgehen darf, dass stets genau das Gegenteil von dem richtig ist, was eine Wahnsinnige wie Teyssier behauptet, könnte es also für Macron noch einmal hinhauen.

Frankreich wählt am kommenden Sonntag. Dabei handelt es sich um den ersten Durchgang des im aktuellen politischen System des Landes – dem der 1958 begründeten Fünften Republik – mit Abstand wichtigsten Wahlereignisses in Frankreich, also der Präsidentschaftswahl. Diese fand früher, bis zur Jahrtausendwende, alle sieben Jahre statt. Seit einer 2000/01 verabschiedeten Verfassungsänderung steht sie nun alle fünf Jahre auf dem Programm. Hauptbeweggrund (vgl. https://jungle.world/artikel/2000/37/volksentscheid-von-oben externer Link) dafür war die Absicht, die Amtszeit des Staatsoberhaupts an die Dauer der fünfjährigen Legislaturperiode des Parlaments anzupassen – um zu vermeiden, dass ein Staatschef über längere Zeit hinweg mit einer gegnerischen Parlamentsmehrheit leben muss. Dies passierte in der Vergangenheit François Mitterrand gleich mehrfach (ab 1986 und ab 1993) und seinem Nachfolger Jacques Chirac ab 1997, und es schwächte die Stellung des Präsidenten.

Seit 2002 findet nunmehr regelmäßig die Präsidentschaftswahl zuerst, danach ein paar Wochen später, in ihrem Gefolge, auch die Parlamentswahl statt. Letztere wird dadurch, jeweils war es in den letzten zwanzig Jahren so, jeglicher Spannung beraubt und jeglichen Inhalts entleert: Letztlich ging es stets nur noch darum, dem einmal gewählten Präsidenten auch das Regieren zu erlauben, indem man ihn mit einer politisch konformen Mehrheit ausstattet. Sollte es in diesem Jahr anders werden? Abwarten.

Es steht also am Sonntag – und in der Stichwahl vierzehn Tage später – jedenfalls viel, ja das meiste auf dem Spiel, was die künftige politische Ausrichtung Frankreichs betrifft. Keine Wahl ist so entscheidend im französischen politischen System wie diese. Der Rest ist, jedenfalls auf nationaler Ebene, mittlerweile eher schmückendes Beiwerk. Denn die im Juni stattfindenden Parlamentswahlen werden voraussichtlich nur noch einen Abklatsch der Ergebnisse aus dem April beinhalten; es sei denn, die Präsidentschaftswahl hätte einen besonders überraschenden, umstrittenen und knappen Ausgang, den die Wahlbevölkerung dann korrigieren wollen könnte. Danach sieht es derzeit nicht aus, aber noch ist das Rennen nicht gelaufen.

Apathie

Das herausragende Merkmal des Vorwahlklimas ist das verbreitete Desinteresse, ja die relative politische Apathie. Diese sind nicht total, und es wäre überzogen, von einem völligen Wegbrechen der Stimmbeteiligung auszugehen: Aus so genanntem staatsbürgerlichem Verantwortungsbewusstsein für die Einen, aus dem Willen zum Protestieren für die Anderen wird es durchaus Wahlteilnehmer/innen geben. Doch in den letzten Märztagen erklärten sich in einer demoskopischen Erhebung (vgl. https://elabe.fr/presidentielle-2022-9/ externer Link) 41 Prozent der Befragten desinteressiert an dieser Wahl; nur 59 Prozent interessiert, eine Zahl, die gegenüber der vorausgehenden Umfrage (vierzehn Tage zuvor) um drei Prozentpunkte rückläufig war.

Der Krieg und die internationalen Spannungen sind einer der Gründe dafür. Die Situation in der Ukraine und beim Aggressor Russland zieht einen Großteil des Medieninteresses und der Medienaufmerksamkeit auf sich. Auch ruft dieser Kontext Zukunftsängste hervor, die eher demobilisierend als mobilisierend wirken, was das Einsetzen für kollektive Belange betrifft. Doch dies ist nicht ist der einzige Grund. Denn bereits Anfang Februar, also noch vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine, wurde ein eher geringfügiges Interesse am Vorwahlkampf in der damaligen Phase verzeichnet. (Vgl. https://rmc.bfmtv.com/actualites/politique/election-presidentielle-2022-pourquoi-cette-campagne-suscite-tres-peu-d-interet_AV-202202040502.html externer Link)

Eine der Ursachen dafür liegt auch in den Aus- und Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie. Diese ist zwar, medizinisch betrachtet, auch in Frankreich nicht beendet; doch schon seit Anfang/Mitte März weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Denn fast alle Pandemieschutzmaßnahmen (mit Ausnahme der Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln) wurden bereits mehrere Wochen vor dem deutschen freedom day aufgehoben. Manche Mediziner (vgl. https://www.sortiraparis.com/actualites/coronavirus/articles/272358-covid-les-medecins-appellent-a-la-prudence-a-quelques-jours-de-la-levee-des-restrictions externer Link) und andere böse Zungen vermuteten zwar einen Zusammenhang mit dem heranrückenden Wahltermin und warnten vor einem voreiligen Aufgeben von Maßnahmen aus rein politischen, gar durch Wahltaktik von Regierungsseite diktierten Motiven. Doch das Thema wurde seitdem weitgehend an den Rand gedrängt.

Dies ändert nichts daran, dass die aufeinanderfolgenden Perioden von Lock-downs (ab März 2020 und ab Oktober 2020), später von Ausgangsbeschränkungen und -sperren (ab Dezember 2020) objektiv eine gewisse vereinzelnde oder auf das Familienleben sowie Bildschirme zurückwerfende Wirkung entfaltete. Der erste, bis dato härteste Lock-down in Frankreich von März bis Mai 2020 hatte zunächst nicht diese Wirkung: Kurz nach dessen Aufhebung kam es zum relativ massiven Aufflammen von Demonstrationen, vor allem im Juni 2020, auch im Zusammenhang mit den Diskussionen um Polizeigewalt auch in Frankreich nach dem Tod von George Floyd in den USA (vgl. https://www.heise.de/tp/features/Frankreich-Protest-gegen-Rassismus-und-Ungerechtigkeit-4782698.html?seite=all externer Link), und nochmals im Herbst 2020 gegen das französische „Gesetz zur globalen Sicherheit“. Doch infolge der späteren Perioden der Pandemie blieb dieser Effekt aus, und es schien eher ein Zustand der Apathie des kollektiven Engagements einzutreten. Sieht man von den Demonstrationen im Hochsommer 2021 gegen die Einführung des pass sanitaire, d.h. eines ungefähr mit der G3-, später (ab Januar d.J.) mit der G2-Regel in Deutschland vergleichbaren Nachweises des Corona-Status ab. Doch diese wurden weitgehend durch Rechtsextreme wie Florian Philippot sowie Verschwörungsgläubige dominiert. Die Nachweispflicht wurde inzwischen wieder abgeschafft.

Was seit Juni 2020 weitgehend, wenn auch nicht gänzlich fehlte, waren gewerkschaftliche, soziale oder auch mehr oder minder linke Mobilisierungen zu dieser oder jener gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Auf lokaler Ebene, in den einzelnen Betrieben kam es allerdings (etwa im Herbst 2021) zu einer Welle örtlich und inhaltlich begrenzter Arbeitskämpfe, bei denen es um Lohnerhöhungen zum Ausgleich der seit Monaten steigenden Inflation ging. (Vgl. https://www.labournet.de/internationales/frankreich/gewerkschaften-frankreich/frankreich-nach-dem-protest-und-streiktag-in-den-oeffentlichen-diensten-vor-den-praesidentschaftswahlen/) Diese wurden allerdings oft durch die Angst um den Arbeitsplatz in Zeiten mit Krisentendenzen ausgebremst oder gar verhindert (Vgl. https://start.lesechos.fr/travailler-mieux/salaires/coups-de-pression-et-negociations-salariales-linflation-a-reveille-les-salaries-1379743 externer Link), und die Lohnerhöhungen blieben vielfach hinter der Preisentwicklung zurück. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/economie/greve/economie-l-augmentation-des-salaires-reste-timide-en-2022_4969353.html externer Link)

Macron: L’anti-social

Hinzu kommt der Umgang des amtierenden Staatspräsidenten Emmanuel Macron mit den diversen Krisensituationen – vom Covid bis zum Krieg. Er suchte nicht offensiv die Auseinandersetzung mit seinen voraussichtlichen Widersacherinnen und Widersachern bei der Wahl, sondern entzog sich eher der Debatte unter den Hinweis darauf, er habe Wichtiges zu tun. Dies kam einem Staatspräsidenten natürlich nicht grundsätzlich abgestritten werden, diente Macron jedoch monatelang als Generalentschuldigung, sich jeglicher politischer Zukunftsdebatte im Zusammenhang mit seinen Wahlkonkurrenten zu entziehen – während er in seiner Funktion als Staatschef zugleich Ankündigungen zu Themen wie Industriepolitik und Atomenergie (vgl. https://jungle.world/artikel/2021/46/druck-mit-reaktoren externer Link) tätigte und dadurch gewissermaßen Fakten schuf.

Ab dem Zeitpunkt, an dem die Spannungen zwischen Russland und der Ukraine ins Extreme anstiegen, steigerte sich auch dieses Herangehen Emmanuel Macrons. Am 07. und 08. Februar dieses Jahres reiste er nach Moskau und Kiew und hatte Unterredungen mit beiden dortigen Amtskollegen, vermochte es offenkundig jedoch, Wladimir Putin von seinen aggressiven Vorhaben abzubringen. Seitdem verhandelter er anderthalb Dutzende Male mit dem Präsidenten der Russischen Föderation direkt am Telephon, oft stundenlang. Nur stand er in entsprechendem Ausmaß für die innenpolitische Kontroverse nicht zur Verfügung.

Bislang schien ihm dies jedenfalls ein Teil des französischen Publikums nicht krumm zu nehmen, sondern stattdessen seine Bemühungen in der schweren internationalen Krise zu honorieren. Kriegssituationen begünstigen oftmals Amtsinhaber bei nationalen Wahlen, zeigt sich doch ein Teil der Wählerschaft beunruhigt über die Vorstellung, „mitten im Sturm den Kapitän zu wechseln“. Den entsprechenden politischen Effekt bezeichnet man in Frankreich auch als légitimisme, also Zur-Fahne-Gehen hinter den jeweils Regierenden. Macrons Wiederwahl schien nicht ernsthaft gefährdet.

Nun stellt sich die Frage, ob sich dies bis zum nun nahe bevorstehenden Wahltermin doch noch rächt. In den letzten Wochen bauten Emmanuels Unterstützungswerte in Umfragen, die kurz nach dem Ausbruch des Ukrainekriegs Höchstwerte bis zu gut 33 Prozent erreichten (gegenüber gut 25 Prozent vor Kriegsbeginn), kontinuierlich ab und gingen wieder ungefähr auf den Ausgangsstand zurück. (Vgl. https://www.francetvinfo.fr/elections/presidentielle/presidentielle-2022-emmanuel-macron-largement-en-tete-devant-marine-lepen-et-eric-zemmour-jean-luc-melenchon-passe-devant-valerie-pecresse-selon-notre-sondage_5005911.html externer Link)

Macron und sein Umfeld setzten dabei fast ausschließlich auf einen Wahlkampf „von oben“, also aus dem Präsidentenamt heraus, mit der durch die Amtsführung bedingten Medienpräsenz. Die einzige Ausnahme dabei bildete die Großveranstaltung am zurückliegenden Samstag (02. April) in der meist für Sportveranstaltungen genutzten Arena-Halle, die auf halbem Wege zwischen dem Pariser Geschäftsviertel La Défense mit ihren monumentalen Banken- und Konzernsitzen und der Trabantenstadt Nanterre liegt. Die Räumlichkeiten bieten 30.000 bis 40.000 Sitzplätze, relevante Teile scheinen jedoch leer geblieben zu sein – jedenfalls posteten kritische Journalisten entsprechende Aufnahmen. (Vgl. https://twitter.com/C___DN/status/1510306752453038090 externer Link) Drinnen gab es eine Moderation, die jener bei einem Rugby-Pokalspiel nachempfunden war, und Saalpyrotechnik. Inhalte jedoch weniger. Auch ein bürgerlicher und Macron-freundlicher Fernsehsender BFM TV merkte in einer Sendung zum Ereignis an, in Sachen Umweltpolitik sei keine neue Ankündigung erfolgt. Umwelt- und Klimaaktivisten vermochten es, die Veranstaltung kurzzeitig zu stören. (Vgl. https://www.bfmtv.com/politique/elections/presidentielle/presidentielle-une-banderole-criminel-climatik-deployee-lors-du-meeting-d-emmanuel-macron_AN-202204020316.html externer Link)

Ob das auf Dauer gut geht und ein breiteres Publikum zufriedenstellt – unter Besserverdienenden verfügt Macron durchaus über eine Basis, aber auch in der jüngeren Generation, die am Anfang ihres Berufslebens steht und sich noch weniger Sorgen um materielle Absicherung macht -, muss vorläufig dahingestellt bleiben. Zumal Macrons Umgebung, als dann doch noch ein Minimum an Wahlprogramm vorgelegt werden musste – was am 17. März erfolgte – sich dafür entschied, ausgerechnet einige potentiell besonders polarisierende Aspekte herauszustreichen. Dies betrifft zunächst die drei R: also Renten„reform“ und RSA (also Sozialhilfe).

Dazu zählt eine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 65 (vgl. https://www.journaldunet.com/management/emploi-cadres/1195133-reforme-des-retraites-quelles-propositions-en-2022/ externer Link); es betrug seit den frühen achtziger Jahren mehrere Jahrzehnte lang sechzig und wurde seit der inzwischen bereits vor-vorletzten „Rentenreform“ unter Nicolas Sarkozy 2010 auf mittlerweile 62 angehoben. Dies bedeutet jedoch nur, dass man unterhalb dieser Schwelle nicht oder nur mit Strafbeträgen in Rente gehen darf. Da daneben aber auch eine stetig wachsende Zahl an Beitragsjahren (bis in den neunziger Jahre: 37,5 und derzeit 42,5) erforderlich ist, wird de facto länger arbeiten, wer aufgrund fehlender Beitragsjahre mit Abzügen rechnen muss. Unklar bleibt bei Macrons letzter Ankündigung, auf welche Zahl er die abgeforderten Beitragsjahre anheben will. Bei der 2019/20 kurz vor ihrer Einführung stehenden „Reform“, gegen die sich massive Streiks richteten und die letztlich lediglich wegen des Beginns der Corona-Pandemie aufgegeben wurde, war eine Anhebung des Eintrittsalters auf 64 (jetzt ist gar von 65 die Rede) und die der Zahl an Beitragsjahren auf 44 geplant.

Es ist eindeutig, dass auch der jetzt im Wahlkampf angesprochene, mit Ausnahme der Zahl „65“ weitgehend verklausuliert bleibende Plan ausgesprochen unpopulär ist. Mitte März dieses Jahres erklärten sich 69 % der Befragten dagegen. (Vgl. https://www.lesechos.fr/elections/sondages/presidentielle-les-francais-rejettent-majoritairement-la-retraite-a-65-ans-proposee-par-emmanuel-macron-1395322 externer Link)

Eine weitere Maßnahme, die Macron zugleich ankündigte, ohne ihren Inhalt näher auszuführen, beinhaltet die Einführung einer Zahl gemeinnütziger Arbeitsstunden für Empfänger/innen des RSA, also der französischen Sozialhilfe; Macron nannte zunächst 15 bis 20 Wochenstunden als „Gegenleistung“. (Bislang handelte es sich um einen Rechtsanspruch, sofern die Voraussetzungen für die Gewährung vorlagen, welcher nicht an Gegenleistungen gekoppelt war.) Dies klang zunächst, während die genaueren Modalitäten weitgehend umwölkt blieben, stark nach der Einführung eines französischen Äquivalents zum deutschen System der Ein-Euro-Jobs für Hartz-Betroffene. Zwischenzeitlich war auch von einer Bezahlung bei sechs bis sieben Euro pro Stunde die Rede. (Vgl. https://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2022/article/2022/03/23/conditionner-le-rsa-a-une-activite-la-proposition-du-president-candidat-macron-provoque-la-polemique_6118683_6059010.html externer Link) Aufgrund der negativ geprägten Reaktionen stellte Macron jedoch daraufhin klar, neinnein, er denke in Wirklichkeit an eine Bezahlung aller geleisteten Arbeitsstunden „nach dem gesetzlichen Mindestlohn“ (jener beträgt zwischen zehn und elf Euro brutto), und er fügte hinzu, er sei „nicht für Sklaverei“. (Vgl. https://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2022/live/2022/03/23/jadot-reitere-ses-attaques-contre-totalenergies-et-appelle-macron-a-imposer-le-depart-du-groupe-de-russie-suivez-la-campagne-presidentielle-en-direct_6118717_6059010.html externer Link) Dann würde es sich allerdings eher um die Vermittlung in Teilzeitarbeitsplätze denn um obligatorische Arbeitsstunden als Gegenleistung für Sozialhlfe handeln. Insgesamt klingt dies Alles bislang lediglich nach taktischem Herumeiern in Zeiten unmittelbarer Wahlvorbereitung.

Ein letzter Unterpunkt in Macrons programmatischen Ankündigungen vom 17. März 22 betraf eine stärker ausdifferenzierte, leistungsorientierte Entlohnung für Lehrkräfte (sowie eine stärkere Autonomie für Schuldirektionen, die also außerhalb von allgemeinverbindlichen nationalen Regelungen sowie Anordnungen des Bildungsministerums ihre eigenen Entscheidungen etwa bei der Personalpolitik treffen könnten). In seiner ursprünglichen Programmankündigung vom 17.03.22 erklärte Emmanuel Macron dazu, er sehe keine Veranlassung dazu, Lehrkräfte besser zu bezahlen, falls diese neue Tätigkeitsfelder verweigerten. Lehrkräfte in Frankreich ungefähr halb so gut bezahlt.wie solche in Deutschland und liegen beim Verdienst unter den Schlusslichtpositionen in der OECD. Inzwischen ging Macron im weiteren Wahlkampf verbal stärker, d.h. mit wohlklingerenden Versprechungen, auf die Lehrkräfte zu. (Vgl. https://www.lesechos.fr/elections/presidentielle/presidentielle-emmanuel-macron-tente-de-reconquerir-les-enseignants-1398455 externer Link) Unterdessen gibt es durchaus Lehrende, die ankündigen, ihren derzeitigen Beruf an den Nagel zu hängen, falls Macron wiedergewählt wird. (Vgl. https://www.humanite.fr/societe/education-nationale/ces-enseignants-qui-nous-disent-si-macron-repasse-j-arrete-745321 externer Link)

McKinsey-Skandal

Nicht auszuschließen ist, dass sich diese oder jene Ankündigung seit dem 17. März d.J. noch rächt, wenn vor allem im Hinblick auf die Stichwahl eine Verbreiterung über Macrons Besserverdienenden-Basis hinaus erforderlich wird. Zumal die McKinsey-Affäre, ein Skandal, bei dem es um die zunehmende Auslagerung politischer Entscheidungen im Staatsapparat auf fürstlich vergütete private Beraterfirmen mit ihren technokratischen Rentabilitätskriterien (die dann auch noch Steuern hinzogen) geht, noch ihre Nachwirkungen zeitigen dürfte. Ein Artikel eines französische Wochenmagazins bezeichnete ihre politische Wirkung auf die Macron-Kampagne in diesen Tagen als „schleichendes Gift“. (Vgl. https://www.nouvelobs.com/election-presidentielle-2022/20220330.OBS56376/le-poison-lent-de-l-affaire-mckinsey-sur-la-campagne-de-macron.html externer Link)

Warum vielleicht in naher Zukunft eine französische Präsidentin mit Wladimir Putin über die artgerechte Lagerhaltung von Oppositionellen parlieren könnte

Nutznießerin könnte dabei schlussendlich die vor einigen Monaten vorschnell politisch abgeschriebene Marine Le Pen sein. Im Laufe dieser Woche erreichte die Chefin des rechtsextremen Rassemblement National (RN, „Nationale Sammlung“) in Umfragen bis zu 48,5 % zu erwartender Stimmen in einer Stichwahl zwischen ihr und Emmanuel Macron. Dadurch rückt ein möglicher Wahlsieg aus ihrer Sicht erstmals wirklich in greifbare Nähe, ohne gesichert zu sein. Im ersten Wahlgang würden derzeit Macron rund 26 % und Le Pen 22 bis 23 % erhalten, sofern die Umfragen ein wirklichkeitsgetreues Bild vom voraussichtlichen Stimmverhalten zeichnen. Aufgrund der zu erwartenden hohen Stimmenthaltung und der Unentschiedenheit vieler Wahlberechtigten noch in letzter Minute (zwischen einem Viertel und einem Drittel) könnten die Umfragen jedoch ein schiefes Bild zeichnen.

Vor fünf Jahren klaffte der Abstand zwischen Macron und Le Pen in der Stichwahl, die damals bereits zwischen den beiden ausgetragen wurde, mit 66 zu 34 Prozent viel weiter auseinander. Infolge ihres TV-Duells vom 03. Mai 2017, bei dem Marine Le Pen vor allem bei ökonomischen und sozialen Fragen sträflich unvorbereitet bis ahnungslos erschien, konnte ihr Wahlsieg damals quasi ausgeschlossen werden. (Vgl. https://www.heise.de/tp/features/Warum-Le-Pen-wohl-nicht-Praesidentin-wird-3703043.html externer Link) Doch damals ist damals, und heute ist heute. Die rechtsextreme Politikerin hat seitdem viel gearbeitet.

Ferner schien seit dem Spätsommer 2021 der Aufstieg des rechtsextremen Ideologen und Ex-Journalisten sowie Buchautors Eric Zemmour – er zieh Marine Le Pen mangelnden ideologischen Tiefgangs, unzureichend gefestigter Überzeugungen, ja sträflicher Kompromisslerei – die Chefin des RN endgültig ins Hintertreffen zu befördern. Zemmour begann sich ab August/September 21 offen in der politischen Landschaft breit zu machen (vgl. https://www.heise.de/tp/features/Macht-Medienmacht-maechtig-6199208.html externer Link) und kündigte am 30. November 2021 offiziell seine, allgemein erwartete, Präsidentschaftskandidatur an. Dadurch schien die extreme Rechte in zwei annähernd gleich große Hälften gespalten, Zemmour schien im Auf- und Le Pen im Abschwung.

Aber auch dies war… gestern. Durch seine ideologische Verschlossenheit, seine Humorlosigkeit, seine gar zu offen an den Tag gelegte Bewunderung für Wladimir Putin – als diese mit Kriegsausbruch definitiv inopportun wurde, schaffte es Marine Le Pen im Gegensatz zu ihm, sich von ihren eigenen früheren Positionen erklärter Putin-Unterstützung in den Augen der Öffentlichkeit los zu schwimmen (vgl. https://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2022/article/2022/04/03/presidentielle-2022-comment-marine-le-pen-s-est-fait-oublier-sur-la-guerre-en-ukraine_6120334_6059010.html externer Link) – und sein Desinteresse an sozialen Fragen war es Zemmour, dessen Kandidatur an Dynamik verlor. Marine Le Pen gelang nicht nur ein erheblicher Wiederaufschwung in den Umfragen zu seinen Lasten, sondern zugleich verstand sie es, im Kontrast zu ihm als immer menschlicher, immer moderater, ja vergleichsweise ideologiefrei wahrgenommen zu werden. Ihr Parteifreund Wallerand de Saint-Just, früherer Schatzmeister der Partei unter ihrem alten Namen (vor 2018: Front National), bezeichnete Zemmour in diesem Zusammenhang bereits als „unseren Blitzableiter“.

Marine Le Pens Partei schaffte es, seit September 2021 „die Kaufkraft“ – also Verteilungsgerechtigkeit – als ihr wichtigstes Thema erscheinen zu lassen, was für die extreme Rechte übrigens ein absolutes Novum darstellt. Denn bislang dominierten ausschließlich die Themen „Immigration“ und „Sicherheit“ sowohl die Selbstdarstellung der Partei als auch die in Umfragen erklärten Interessen ihrer Wählerschaft. Erstmals rangiert auch bei der Letztgenannten im diesjährigen Wahlkampf das Kaufkraft-Thema an erster Stelle, vor den beiden anderen Themen, die bislang jedenfalls beim harten Kern der Rechtswählerschaft für ein geschlossenes Weltbild sorgten und die Wahrnehmung sozialer Problematiken tendenziell verdrängten. (Vgl. https://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2022/article/2022/03/18/presidentielle-2022-les-craintes-sur-le-pouvoir-d-achat-profitent-a-marine-le-pen_6118049_6059010.html externer Link) Zemmour und seine, in den letzten Wochen schrumpfende, Wählerschaft machten diese Mutation ihrerseits jedoch nicht mit.

Der RN verfügt schon seit längerem über ein relativ ausgeprägtes Sozialprogramm, jedenfalls im Diskurs – dessen konkrete Finanzierung (vgl. https://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2022/article/2022/03/24/marine-le-pen-presente-un-budget-bancal-de-son-projet-pour-la-presidentielle_6118918_6059010.html externer Link) beruht zum Großteil auf imaginären Vorstellungen, etwa der Annahme, durch Jagd auf „bürokratische Verschwendung und Sozialbetrug“ sowie Einsparungen bei Ausländern allein ließen sich bei der Krankenversicherung gigantische Einsparungspotenziale in dutzendfacher Milliardenhöhe wie durch Magie erzielen -, während Zemmour daran lange Zeit schlicht kein Interesse hatte. Später kopierte Zemmour, eher schlecht denn geschickt, die Vorschläge des RN zum Thema.

Auch dessen Programm bleibt jedoch eines, das zentral auf Rassismus und nationalistischer Demagogie basiert. (Vgl. https://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2022/article/2022/03/31/presidentielle-2022-derriere-la-normalisation-de-marine-le-pen-un-projet-qui-reste-d-extreme-droite_6119942_6059010.html externer Link) Marine Le Pen schaffte es jedoch weitgehend, diese Aspekte erfolgreich zu überdecken, da Zemmour bereits den harten ideologischen Part in der Öffentlichkeit übernimmt. In den letzten Wochen kommt hinzu, dass Le Pen es zwar einerseits schaffte, ihre Darstellung und auch frühere Selbstdarstellerin als Putin-Unterstützerin abzustreifen, andererseits dem französischen Publikum auch deswegen einen „Schutz seiner Kaufkraft“ verspricht, weil sie gegen Russland-Sanktionen eintritt – zumindest dann, wenn sie Frankreichs Ökonomie etwas kosten sollten.

Viktor Orban jedenfalls hat mit ebensolcher Doppelbödigkeit soeben wieder eine Wahl in Ungarn gewonnen.

Sozialpolitik: Visionen von rechts?

Noch zu einigen einzelnen Vorstellungen bei den rechten Kandidaturen.

Im Kern verspricht Eric Zemmour (er dürfte voraussichtlich rund 10 % der Stimmen erhalten, vielleicht knapp darunter, und sine rechte Rvialin Marine Le Pen in der Stichwahl unterstützen – sofern seij übersteigertes Ego dies nicht verhindert) in Sachen Sozial- und Wirtschaftspol nur, die Nettolöhne um rund 100 Euro in den niedrigen Lohngruppen zu erhöhen, indem er Sozialleistungen vom Brutto- auf den Nettolohn umlegt. Die Gelder würden also demnach den Lohn- und Gehaltsempfängern am Monatsende ausbezahlt, jedoch gleichzeitig bei der Finanzierung ihrer Renten oder Krankenkassenbeiträge fehlen.

Diese Idee ist uralt und auf der politischen Rechten ziemlich banal. Jean-Marie Le Pen legte sie in einem 1978 von ihm veröffentlichten Buch ausführlich dar. Auch politische Figuren der Konservativen machten sie sich immer wieder zu eigen.

Und die seit Anfang Dezember 2021 nominierte Präsidentschaftskandidatin der bürgerlichen Rechten, die ehemalige Sarkozy-Ministerin und jetzige Pariser Regionalpräsidentin Valérie Pécresse, vertritt diese Idee ebenfalls in erheblich abgemilderter Form. (Ihr werden derzeit rund 10 % der Stimmen prognostiziert, und am Freitag früh – 08. April 22 – erklärte die Kandidatin, im Falle einer Stichwahl zwischen dem Liberalen Macron und der Neofaschistin Le Pen werde sie keinerlei Wahlempfehlung abgeben, wodurch sie übrigens auch ihre Niederlage bereits einräumte.), Auch sie pries in ihrer wohl prominentesten Wahlsendung (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=XwFacbP07mo externer Link ) die Vorstellung an, so genannte Lohnnebenkosten abzubauen und dadurch die Arbeit für den Kapitalinhaber zu verbilligen, dessen Unternehmen dadurch Spielraum gewinnt, um den Nettolohn ohne höhere eigene Kosten anzuheben. Valérie Pécresse begründet die Durchführbarkeit dieses Plans auf relativ komplexe Art und Weise: Die dadurch entstehende Finanzierungslücke in den Rentenkassen würde die öffentliche Hand durch Zuzahlungen stopfen, wobei der französische Staat diese wiederum gegenfinanzieren würde, indem er durch „Bürokratieabbau“, die Streichung von Stellen in den öffentlichen Diensten und „eine neue Dezentralisierung“ – gemeint ist konkret das Abwälzen von Aufgaben auf die Kommunen – Einsparungen vornimmt.

Einfacher und brutaler klingt die Rechnung bei Zemmour: Er möchte Gelder für die französischen Renten- und Krankengelder-Bezieher herausholen, indem er die Mittel „den Ausländern“ wegnimmt. Höflich formuliert heißt dies bei ihm „Einsparungen bei den Kosten der Immigration und den Sozialtransfers“. Auch dieser Programmpunkt ist jedoch alles, nur nicht neu. Der frühere Front National und jetzige RN vertritt ihn schließlich ebenfalls seit Jahrzehnten. Auch wenn er ihn heute weniger brutal formuliert als Zemmour.

Valérie Pécresse auf der bürgerlichen Rechten fügt dem die Vorstellung hinzu, Lohnabhängige könnten ihren monatlichen Verdienst erhöhen, indem sie ihre Arbeitszeit durch Überstunden erhöhen – was einen Bedarf auf Seiten des Arbeitgebers daran voraussetzt, ihm allerdings Neueinstellungen beim Personal erspart und dadurch Kosten zu kontrahieren hilft -, welche für Arbeitnehmer wie Arbeitgeber steuerfrei werden sollen. Neuigkeit und Originalität sucht man auch darin vergeblich. Denn Nicolas Sarkozy ließ 2007 ein Gesetz gleichen Inhalts dazu verabschieden. Aufgrund der kurz danach ausbrechenden weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise riefen die Arbeitgeber jedoch in der darauffolgenden Periode keine Überstunden ab. Die Maßnahme wurde letztlich als sozialpolitischer Misserfolg gewertet und 2012 unter Hollande abgeschafft. Pécresse bietet sie heute als, an handele es sich um einen taufrischen Einfall.

Auch Zemmour griff genau diesen Vorschlag auf (unter ausdrücklich positivem Bezug auf Nicolas Sarkozys Präsidentschaft in diesem Punkt). Bei der vielleicht prominentesten ihm gewidmeten Wahlsendung (vgl. https://www.youtube.com/watch?v=AcLieBeD1LQ externer Link ) – baute er ferner einen Vorschlag aus, den er erstmals bei seiner Wahlkundgebung am 05. Dezember 21 in den Messehallen von Villepinte bei Paris (der Verf. dieser Zahlen war dort, in der Halle) andeutete. Demnach soll Arbeitgebern eine, für sie dann von allen Steuern und Abgaben befreite Summe aus den Mitteln des Unternehmens für – freiwillige, nicht vom Gesetz erzwungene – Prämienzahlungen zur Verfügung stehen könneN. Diese würden, der Logik des Vorschlags zu folgen, also zum Gutteil aus Steuermitteln sowie durch die Verknappung der Mittelzuflüsse an die Sozialkassen, Macron führte das Prinzip solcher durch Umlage von Steuernmittel finanzierter Arbeitgeberprämien im Dezember 2018 im Rahmen seiner ersten Antwort auf die „Gelbwesten“proteste – Labournet berichtete damals dazu ausführlichst – ein; damals ging es um für die Arbeitgeber freiwillige, durch die Steuerbefreiung z.T. aus öffentlichen Mitteln gegenfinanzierte Jahresprämienzahlungen in Höhe von 1.000 oder 2.000 euro einmalig. Viele, u.a. größere französische Unternehmen schüttete daraufhin auch solche Prämien freiwillig aus (und versuchten dadurch gleichzeitig, orderungen an der Lohnfront ruhigzustellen). Allerdings ging es damals noch um kollektiv an das Personal ausgeschüttete Prämien. Zemmpur hat diesen Vorschlag erheblich radikalisiert. Bei ihm ginge es, wie er in der oben zitierten, im Februar d.J. in der Pariser Vorstadt Aubervilliers aufgezeichneten Wahlsendung um seine Person ausführte, um freiwillig vom Arbeitgeber ausgeschütettete, durch Steuer- und Abgabenbefreiung gegenfinanzierte individuelle Leistungsprämien; diese könnten dann – wie deutlich aus seinen Worten hervorging – nach Gutdünken vom Arbeitgeber an die leistungsstarken (oder gefügigen) „guten Elemente“ im Personal ausbezahlt werden. Dabei ginge es ihm, also seinen Äußerungen in der Wahlsendung aus Aubervilliers zufolge, um bis zu drei Monatsgehälter Leistungsprämie jährlich: „Ein dreizehntes, vierzehntes und fünfzehntes Monatsgehalt im Jahr.“ Diese Mittel würden dann bei Lohnerhöhungen für die nicht begünstigten Beschäftigten, aber auch bei Steuermitteln und Sozialabgaben fehlen. Na dann, prost Mahlzeit.

(Auch Marine Le Pen hatte kurz darauf leichtes Spiel, in einem ihrer Wahlinterviews diese Idee als sozialwidrig zu verwerfen; sie trete für kollektive Lohnerhöhungen ein, betonte sie. Allerdings mit teilweise herbeifantasierter Gegenfainanzierung durch gigantische Einsparungen bei den Abgaben allein mittels Bekämpfung von Sozialbetrug.)

Und die Linke bei dem Ganzen?

Themen wie „Kaufkraft“ und die Verteilung von Reichtümern waren in jüngerer Vergangenheit üblicherweise eher Gegenstände für die politische Linke. Dennoch schafft diese es nicht, diese Debatte in der breiteren Öffentlichkeit zu dominieren und darin zu punkten. Nach den Erfahrungen der Hollande-Ära, also der rechtssozialdemokratischen Präsidentschaft von 212 bis 17 (vgl. unten), vermag sie besonders auf sozialem Gebiet kein Vertrauen zu erwecken.

Inhaltlich erklärt die sozialdemokratische Präsidentschaftskandidatin und Pariser Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo – ihr sagen Umfragen derzeit stolze anderthalb Prozent (1,5 %) vorau s- dazu, Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern anlässlich einer „Lohnkonferenz“ sollten das Problem von Lohnerhöhungen lösen; Regierungshandeln könne diese jedoch begünstigen, indem etwa notorisch verhandlungsunwillige Unternehmen von Subventionen zur Beschäftigungsförderung ausgeschlossen blieben.

Hidalgo erklärte anfänglich zusätzlich im Herbst 2021, die Löhne für Lehrkräfte – diese werden im Vergleich zu Deutschland, wie erwähnt, durchschnittlich um rund 50 Prozent geringer bezahlt – sollten „verdoppelt“ werden. Dieser Vorschlag wurde jedoch nicht etwa lautstark begrüßt, sondern durch die Betroffenen vielfach als demagogisches Versprechen ohne Glaubwürdigkeit eingestuft. Bei der Demonstration zum Schulstreik am 13. Januar 22 wurde Hidalgo mit Buhrufen und Pfiffen empfangen und nach einigen Minuten in die Flucht geschlagen. Inzwischen verspricht sie den Lehrkräften in ihrem Wahlprogramm auch nur noch Lohnerhöhungen ohne nähere Quantifizierung.

Ihre Kandidatur spricht wohl vor allem urbane, besserverdienende und – durch ihre Politik der (im Kern durchaus verdienstvollen, wenngleich Vorstadtbewohner/innen anders als Innenstadteinwohner/innen treffenden) spürbaren Reduktion des Automobilverkehrs in der Hauptstadt begünstigt – ökologisch sensibilisierte Mittelklassen sowie höher gebildete Schichten an. Hingegen lässt sie die Lohnabhängigen weitgehend kalt; mittlerweile auch Staatsbedienstete wie Lehrkräfte und Krankenhausbedienstete, die zuletzt noch zu den Kernschichten der sozialdemokratischen Wählerschaft zählten. Die abhängig Beschäftigten in der Privatwirtschaft, wo der gewerkschaftlichen Organisationsgrad – von Großunternehmen abgesehen – im Vergleich zum Staatsdienst gering ausfällt, kehrten ihr schon zuvor mehrheitlich den Rücken, gingen überhaupt nicht mehr wählten oder stimmten rechtsextrem.

Die in Parteiform auf- oder zu Wahlen antretende politische Linke, sei es die etablierte, die unkonventionell wirkende oder auch die radikale, steht derzeit in einer als zu historisch zu bezeichnenden Schwächesituation darauf. Ihre voraussichtlich sieben Kandidaturen vereinigen nur zwischen zwanzig und maximal fünfundzwanzig Prozent der Stimmabsichten auf sich.

In der Öffentlichkeit wird die Linke deswegen oft als zerstritten wahrgenommen und diese „Zerrissenheit“ wiederum als Grund für ihre derzeitige Einflusslosigkeit dargestellt. In Wirklichkeit dürfte jedoch eher das Gegenteil zutreffen, und der bürgerliche Journalist Neumann hat insofern Recht, wenn er kurz und knapp postuliert: „Die Linke ist nicht schwach, weil sie gespalten; sondern sie ist gespalten, weil sie schwach ist.“

Es trifft zu, dass die Linksparteien – global betrachtet – seit Beginn der Amtszeit des derzeitigen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im Mai 2017 aus einem Tief nicht herauskamen. Ein Hauptgrund dafür liegt in der jämmerlichen Bilanz der Amtszeit François Hollandes, des zweiten, als „sozialistisch“ betitelten Staatsoberhaupts in der Geschichte der 1958 begründeten Fünften Republik.In seinen Amtsjahren von 2012 bis 2017 schlug er, nachdem er im Wahlkampf vor zehn Jahren einige kritisch klingende Sprüche über das Finanzkapital (la finance, mon ennemi) geklopft hatte, quasi von Anfang an den Kurs einer von ihm selbst als politique de l’offre oder „Angebotspolitik“ bezeichneten Wirtschafts- und Sozialpolitik ein. Dies bedeutete, dass die Unternehmen durch massive Steuergeschenke und Senkungen so genannter Lohnnebenkosten gestärkt werden sollten, denn gehe es den Kapitalgesellschaften gut, so werde folglich schon irgendwann etwas für die Lohnabhängigen vom Tisch abfallen. Der Wirtschaftsliberale Macron – er war unter Hollande zwei Jahre lang Wirtschaftsminister – vertritt nichts Anderes, benutzt dafür nur den klassisch neoliberalen Begriff des trickle down oder französisch ruissellement, also die These angeblich automatischen Heruntersickerns von Reichtümern „von oben nach unten“, im Deutschen auch als „Pferdeäpfeltheorie“ bezeichnet. In ihrem Namen wird die Maxime „Bereichert Euch!“ praktiziert.

Noch in den achtziger Jahren wurde gelehrt, „Angebotspolitik“ sei eine Strategie der politischen Rechten, während das sozialdemokratische Gegenstück dazu im Keynesianismus liege, auch wenn diese Gegenüberstellung auf einer groben Vereinfachung beruhte.

Das Steuersenkungspaket CICE von Ende 2012 sah – anders, als zeitweilig lautstark vom linken oder halblinken Parteiflügel des PS gefordert wurde – keinerlei einforderungsfähige Gegenleistungen des Kapitals, wie etwa Investitionen in ökologische Modernisierung oder Berufsbildung, vor. Es wurde dem Kapital auf Gutglauben hin gewährt. Folglich opponierten die als „Frondeure“ (frondeurs) bezeichneten innerparteilichen Kritiker/innen von Hollandes Kurs im Parlament gegen seine Regierung und drohten auf dem Höhepunkt 2014/15 damit, diese über Misstrauenserklärungen zu Fall zu bringen, schreckten dann jedoch vor diesem Schritt zurück. Im Hochsommer 2016 wurde dann nach langen Auseinandersetzungen mit Gewerkschaften und Demonstranten die heftig umstrittene, besonders regressive Arbeitsrechtsreform unter dem Namen Loi travail verabschiedet.

Ein weiterer Grund für die Schwäche der Linken, neben der in vieler Augen ausgesprochen negativen Erinnerung an die Präsidentschaft Hollandes, liegt darin, dass der sozialliberale Flügel der damaligen Regierungsmehrheit längst durch die jetzige aufgesogen wurde. Rekrutierte Emmanuel Macrons Retortenpartei LREM (La République en marche) doch anfänglich viele frühere Sozialdemokraten, unter ihnen zwei der bisherigen Innenminister unter Macron, Gérard Collomb und Christophe Castaner – ihr jetziger Nachfolger Gérald Darmanin kommt hingegen aus dem Umfeld des Konservativen Nicolas Sarkozy.

Schon bei der Wahl 2017 erzielte das im weitesten Sinne linke Lager nur rund 27 Prozent, auch wenn dieser Tiefstand derzeit noch unterboten wird. Denn die Absorption eines sozialdemokratischen und linksliberalen Segments in das Macron-Lager war damals bereits fortgeschritten.

Am ehesten verschont vom Abwärtstrend blieb dabei bislang die zwischen einer linkssozialdemokratischen und einer linksnationalistischen Positionierung oszillierende, ihnen – und dies ist verdienstvoll – noch ökologische Themen sowie einen Atomaustieg hinzufügende Wahlplattform La France insoumise (LFI, Das unbeugsame Frankreich) unter Jean-Luc Mélenchon. Dessen arrogante Sprüche und Ausfälle in der Vergangenheit wie sein Auftritt „Die Republik bin ich“ im Jahr 2018 (vgl. https://jungle.world/artikel/2018/43/melenchon-tobt externer Link) schadeten ihm nachhaltig.

Derzeit werden ihm durch die Umfragen rund 15 Prozent der Stimmen progonstiziert würde dadurch auf dem dritten Platz landen. 2017 erhielt er bei der damaligen Präsidentschaftswahl gut 19,5 % (unbelegte d damals den vierten Platz). Er könnte allerdings in den Wahlkabinen noch zulegen. Die Anhänger/innen Mélenchons – er spaltete sich im Winter 2008/09 mit seiner damaligen „Linkspartei“, dem PG, vom Parti Socialiste ab – profitieren objektiv davon, dass sie seit damals nicht mehr am Regierungsgeschäft beteiligt war. Im Unterschied zum PS, aber auch den französischen Grünen, die von 2012 bis 14 unter Hollande mitregierten. Während die letztgenannten beiden Parteien durch die Erinnerung an ihre Regierungsbilanz in einen Abwärtsstrudel gezogen werden, bleibt LFI davon verschont.

Ihr Kandidat setzt dabei – wie auch bereits bei seinen letzten beiden Kandidaturen 2012 und 2017 – auf technisch innovative Methoden. Am 16. Januar 2 in Nantes etwa organisierten seine Unterstützer eine Wahlkampfveranstaltung mit dreidimensionaler Präsentation und „Geruchsübermittlung“: Mélenchon präsentierte in der westfranzösischen Stadt sein Programm zu einem seiner langjährigen Hauptthemen, zur Ökologie und zur Nutzung der Meere mitsamt ihrer submarinen Rohstoffe. Dabei sollte das Publikum auch mit Gerüchen, die an das Meer erinnern sollte, konfrontiert werden. Vielleicht auch aufgrund des Tragens von Corona-Masken ging dies jedoch schief, wirklich zu schnuppern gab es jedenfalls nichts. Und zu Anfang dieser Woche war er, dank Hologrammen, an fünfzehn Veranstaltungsprten in ebenso vielen französischen Städten gleichzeitig präsent, wobei er die Hologramme bereits im Wahlkampf 2017 eingesetzt hatte.

In den letzten Jahren setzte Mélenchon auf wechselnde Strategien. Mal versuchte er sich an die Spitze einer Sammlungsbewegung der Linkskräfte zu setzen, mal verwarf er – im Gegenteil – die Einteilung in Links und Rechts, um auf eine Vereinigung aller Unzufriedenen gegen das Establishment zu setzen. Zeitweilig ergänzte er dies auch um den Versuch, als besonders EU-kritische Kraft Profil zu gewinnen. Eingegrenzt wurden diese Tendenzen dadurch, dass sie die strategische Frage aufwarfen, ob man, verwarf man die Grenzziehung zwischen Links und Rechts als zentrale Kategorie, sich nicht auch mit nationalistischen Rechten gegen die Etablierten verbünden könnte. Mélenchon entschied sich letztlich dafür, diesen Weg nicht zu gehen und eine antifaschistische und antirassistische Komponente beizubehalten, zeitweilig auch zu betonen. Jene, die innerparteilich einen gegenteiligen Kurs steuerten, wurden 2017/18 zum Teil hinausgedrängt wie George Kuzmanovic und Andrea Kotarac. Zum Glück! Andrea Kotarac trat 2019 dem rechtsextremen Rassemblement National bei, war einer von dessen Spitzenkandidaten bei der Europaparlamentswahl jenes Jahres und versucht dort auch weiterhin, dem (selbstredend demagogischen) Slogan „Wir sind weder links noch rechts, sondern national“ Glaubwürdigkeit zu verschaffen….

Sollte je Mélenchon statt Marine Le Pen in die Stichwahl einziehen, wäre dies sicherlich eine Erleichterung aufgrund der völlig anders gelagerten Debatten, die dann geführt würden. Konservative, Rechtsextreme und die „politische Mitte“ würden dann allerdings – jedenfalls in diesem Punkt vereint – gegen Mélenchon trommeln. Dass, würde er denn gewählt (was derzeit unwahrscheinlich wirkt), ihm nicht die Macht zukäme, sondern in letzter Instanz das Kapital und darüber hinaus das gesellschaftliche Kräfteverhältnis über die Durchsetzbarkekit seiner Programmpunkte (etwa die Herabsetzung des Retenalters auf 60) entscheiden würden, das wissen jedenfalls unsere Leser/innen längst.

Artikel von Bernard Schmid vom 8.4.2022

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=199607
nach oben