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Das Gesundheitwesen als Reparaturbetrieb: Medizinische Vorsorge zwischen staatlichem Auftrag und Profitstreben – Krankenhäuser als Profitcenter

FCK DRGEs gibt etliche Beschwerden über das deutsche Gesundheitssystem. Die einen beklagen zu wenig Krankenhäuser, die anderen zu viele; die einen schimpfen darüber, dass sie als Kassenpatienten zu lange auf Facharzt-Termine warten müssen, die anderen über die deutsche Überversorgung; die Wirtschaftsliberalen sehen in der Gesundheitspolitik übelsten Sozialismus am Werk, die Linken reden von Staatsversagen. Einfach nur die übliche Nörgelei? Oder gibt es Gründe dafür, warum es das Gesundheitssystem in dieser Gesellschaft keinem recht machen kann? Während der Coronapandemie wurden die Klagen über die Lage der Krankenhäuser, der Intensiv-Stationen und die schlechten Bedingungen des Pflegepersonals immer lauter. Vielfach wurde verlangt, die „neoliberale Privatisierungs-Strategie“ rückgängig zu machen. Das unterstellt, dass mit staatlichen bzw. kommunalen Betreibern alles besser würde. Auch wenn das in einigen Punkten zutreffen mag, greifen Problem-Diagnose wie Lösungsvorschlag eindeutig zu kurz. Denn eine Entgegensetzung Staat contra Privat trifft den Kern der Sache nicht – zur Begründung im Folgenden einige grundsätzliche Gedanken zum deutschen Gesundheitssystem…“ Beitrag von Renate Dillmann vom 12.2.2022 bei Telepolis externer Link (Teil 2) und auch der Teil 3:

  • Krankenhäuser als Profitcenter: Wie der Versuch, die Kosten des Gesundheitswesens zu kontrollierten, in deutschen Hospitäler zu bizarren Verhältnissen geführt hat
    Krankenhäuser haben sich seit der Einführung von Fallpauschalen 1997 verstärkt zu Unternehmen mit dem Ziel der Gewinnerwirtschaftung gewandelt; Pflegeeinrichtungen sind es seit Einführung der Pflegeversicherung 1995 ebenfalls. Das hatte Konsequenzen. Wenn nämlich die soziale Dienstleistung Mittel einer Geschäftskalkulation ist, dann ist der Zweck einer ambulanten Pflegestation, eines Krankenhauses, eines Altenpflegeheims nicht mehr zwingendermaßen die möglichst gute, dem Patienten zugewandte Pflege oder Behandlung. Der Zweck ist vielmehr, mit der Pflege eines alten oder behinderten Menschen oder einer Hüft- bzw. Blinddarm-Operation einen Überschuss zu erwirtschaften. Von diesem gewollten Zweck her muss alles, was dafür notwendigerweise gebraucht wird, als Kosten in den Blick genommen werden – seien es die Löhne der Ärzte und des Pflegepersonals bis hin zum Putzdienst und anderen Hygienemaßnahmen, seien es die Krankenhausbetten, die auch einmal unbenutzt dastehen – was unter diesen Bedingungen kein Glück, sondern eine mittlere Katastrophe ist, weil leere Betten einfach nur dastehen, ohne für Einnahmen zu sorgen. Diese Kosten müssen selbstverständlich ständig minimiert werden. Das hat zu einer Art von Generalrevision in allen Einrichtungen geführt. (…)
    Mit dem Prinzip, die Existenz der von ihnen betriebenen Einrichtungen durch Kostenerstattung zu sichern, konnten sich die jeweiligen Gesundheitsminister Zugriff auf viele Arbeitskräfte verschaffen, die als Glaubensschwestern und Diakonissinnen bereit waren, für „Gotteslohn“ zu arbeiten (daher die vielen konfessionellen Krankenhäuser in Deutschland). (…)
    Die Deckelung der Kostenerstattung war der erste Schritt, das bisher übliche Verhältnis aufzukündigen (1985). Es wurden nicht mehr die gesamten Ausgaben und Lohnkosten ersetzt; damit wurden die Träger gezwungen, ihre Kosten neu zu kalkulieren.
    Gleichzeitig erhielten sie erstmals das Angebot, in Zukunft auch Gewinne erwirtschaften zu dürfen. 1992 gab es erste Fallpauschalen; beim vorläufig letzten Schritt, der Einführung der Diagnose-bezogenen Fallpauschalen (2004), wurden dann die Kosten der verschiedenen Häuser verglichen und (landesweit geltende) Durchschnittswerte festgesetzt. Die über diesen Vergleich objektiv gemachte Konkurrenz zwischen den Kliniken führte zu dem erwartbaren Ergebnis: Die kleinen Häuser schnitten notwendigerweise schlecht ab – sie hatten vergleichsweise hohe Kosten, die ihnen aber nicht mehr vollständig erstattet wurden. Umgekehrt wurden die festgelegten Fallpauschalen für die größeren Häuser zum Mittel dafür, Gewinne zu erwirtschaften; 2019 – im letzten Vor-Corona-Jahr betrug dieser für die vier größten privaten Klinik-Ketten fast eine Milliarde.
    Ergebnis dieser Reformen ist insofern ein andauerndes (und politisch gewolltes) Kliniksterben, andererseits das Einströmen von privatem Kapital in die „Kliniklandschaft“: Unternehmen wie Helios, Rhön-Kliniken und Asklepios haben seitdem mehrere hundert Krankenhäuser und Fach- bzw. Rehakliniken erworben oder eröffnet. (…)
    An diesem Zweck hat sich jetzt alles zu messen – jede verausgabte Arbeitsminute ebenso wie jede Anschaffung und jeder Materialverbrauch; das betrifft mit Blick auf die Anfangsmonate der Coronapandemie natürlich auch die Lagerhaltung von Masken, Desinfektionsmitteln und medizinischer Schutzkleidung. Vor diesem Zweck muss jetzt alles gerechtfertigt werden. Da ist die Vorstellung, dass dem Patienten auf alle Fälle Ruhe, Konzentration und Zugewandtheit von Ärzten und Pflegepersonal ganz gut tun würden, eben eher nebensächlich. Und dieser Zweck sorgt unerbittlich dafür, dass die gesamte Institution mit ihren Arbeitsabläufen ständig zu einem einzigen Kampf um Kostensenkung und gegen Wettbewerber wird.
    Der selbstproduzierte Pflegenotstand
    Klinik-Manager können im Unterschied zu niedergelassenen Ärzten, bei denen das nur relativ beschränkt möglich ist, hervorragend am beschäftigten Personal sparen. Verträge für Assistenzärzte, die die Klinikjahre brauchen, um sich als Fachärzte auszubilden, vor allem aber die Arbeitsbedingungen für das Pflegepersonal werden mit Hinweis auf den neuen Sachzwang der „Wirtschaftlichkeit“ nach unten gedrückt.
    Von den Tätigkeiten der Pflegekräfte lassen sich viele (Bettenmachen oder Essen austragen) durch Hilfskräfte erledigen, die nur teil- oder gar nicht qualifiziert sind und deshalb schlechter entlohnt werden; zwischen 1996 und 2007 wurden so 50.000 Vollzeit-Stellen abgebaut – bei gleichzeitigem Anstieg der Fallzahlen. Umgekehrt kann die Tätigkeit der Fachkräfte aufgewertet werden, indem ihnen Aufgaben übertragen werden, die bislang Ärzten vorbehalten waren – auch das spart viel an Kosten.
    Offensiv werden zu wenig Kräfte für die anfallende Arbeit auf den Stationen eingestellt – mit der klaren Berechnung, dass das Personal es letztlich nicht übers Herz bringen wird, Patienten unversorgt zu lassen. Dass permanent an Lohnkosten gespart wird, indem viele Tätigkeiten an Subfirmen mit miserabel bezahlten Hilfs- und Reinigungskräften vergeben werden, geht durchaus zu Lasten von ehemals selbstverständlichen Hygienestandards. (…)
    Wenn auf Basis der nach unten gedrückten Löhne und der vermehrten Hetze – wir reden hier übrigens über die Zeiten vor Corona! – ein „Pflegenotstand“ ausbricht und nicht einmal die vorgesehenen Stellen besetzt werden können, weil immer mehr Personal in Deutschland die Flucht ergreift, heißt der Ausweg keineswegs, dass dann eben marktüblich „Anreize“ geschaffen werden müssen, sprich: mehr Lohn, kürzere Arbeitszeiten, besserer Personalschlüssel – wie es Verdi seit Jahr und Tag fordert.
    Groko-Gesundheitsminister Jens Spahn heuerte lieber ausländische Ärzte und Pflegekräfte aus Osteuropa, Mexiko und Bosnien an, die zum Glück anspruchslos und billig sind. Probleme für Kollegen und Patienten im Krankenhausbetrieb durch die notwendig auftretenden Sprachschwierigkeiten dürfen keine Rolle spielen – ebenso wenig wie die Lücken, die diese medizinischen Fachkräfte in ihren Herkunftsländern hinterlassen. (…)
    Die gesetzliche Vorschrift, dass man in Deutschland im Notfall innerhalb von 30 Fahrzeitminuten ein Allgemeinkrankenhaus erreichen kann, wird in der Realität in vielen Regionen klar unterschritten; medizinische Notfälle werden – auch weil vielerorts zu wenig Rettungsfahrzeuge im Einsatz sind – darüber lebensbedrohlich.
    Die Versorgung in den Kliniken ist gekennzeichnet von wachsender Professionalität und sogar therapeutischen Überangeboten auf der einen, gravierenden Versorgungs- und Hygienemängeln auf der anderen Seite; beides entspringt aus den ökonomischen Bedingungen, denen die Häuser subsumiert sind. (…)
    Damit etabliert der Gesetzgeber ein Dreiecks-Verhältnis, das es in sich hat. Die Patienten haben das Recht auf eine medizinische Versorgung, die dem medizinischen Erkenntnisstand entspricht; die Krankenkassen haben das Recht, Beiträge vom Lohn einzuziehen und die Pflicht, die Leistungen der Medizinbranche zu bezahlen; die Medizinbranche hat das Recht, damit Gewinn zu erzielen. Und alle Parteien haben zusammen die Pflicht, darauf zu achten, dass die Leistungen dem nationalen Lohnniveau entsprechen.
    Diese Vorschrift zeugt davon, dass der Staat weiß, wie sehr die von ihm ins Recht gesetzten Interessen notwendigerweise kollidieren: Der Standpunkt medizinischer Versorgung passt mit dem des Geschäfts nicht zusammen; die vom nationalen Lohn einbehaltene Summe beschränkt den Markt, auf den sich wachsende Ansprüche richten; umgekehrt verteuert ein vergrößerter Topf für medizinische Leistungen den Lohn bzw. seine angeblichen „Nebenkosten“.
    Es macht sich auf diese Art und Weise geltend, dass Gesundheitskosten in der kapitalistischen Gesellschaft grundsätzlich soziale Kosten sind, die – bei allen Fortschritten, die es in Sachen Verfügbarkeit medizinischer Forschung und Behandlung gegeben hat – letztlich niedrig zu halten sind. (…)
    Inzwischen ist sich die Politik parteiübergreifend einig geworden, dass eine allgemeine Gesundheitsversorgung auf Basis des bisherigen Systems „nicht zu leisten ist“. Die Wahrheit ist: Die vom Lohn verstaatlichten Teile geben es beim aktuellen Lohnniveau schlicht nicht her, die Leistungen des Gesundheitsmarkts mit seinen staatlich anerkannten Gewinnansprüchen zu finanzieren, wenn die Löhne gleichzeitig dafür taugen sollen, dass Deutschland weiter Europas stärkste Wirtschaft ist und weltmeisterliche Exportüberschüsse bilanziert.
    Der vorläufige politische Schluss daraus: Aufsplittung in eine medizinische Grundversorgung über die Krankenkassen und eine private Zusatzversorgung, die jeder aus seinem eigenen Geldbeutel in „eigener Verantwortung“ zu leisten hat; oder auch nicht.
    So kann der Einzelne zeigen, wie viel ihm seine Gesundheit – bekanntlich unser höchstes Gut – tatsächlich wert ist und die plurale Zivilgesellschaft wird mit Sicherheit noch ein Stück vielfältiger, wenn wieder mehr Menschen ohne Zähne, aber mit viel Würde durch die Fußgängerzonen spazieren.“ Beitrag von Renate Dillmann vom 13.2.2022 bei Telepolis externer Link (Teil 3)
  • Der ebenso lesenswerte Teil 1 externer Link: „Warum Gesundheit gar nicht unser “teuerstes Gut” ist“ vom 23.1.2022 wurde verlinkt im Dossier: (IG Metall zu) Gesundheitsschutz und Corona: „Arbeitgeber und Betriebsärzte schützen Beschäftigte zu wenig“ – wir zitierten daraus:
    “In der Pandemie scheint der Schutz des Lebens oberstes Gebot. Blickt man auf den Umgang mit dem menschlichen Wohlbefinden im Kapitalismus, relativiert sich dieses Postulat (…) Weil die zum Leben notwendigen Güter, damit auch die “Lebensmittel” im engeren Sinn als Waren produziert und kalkuliert werden, sind nicht Gesundheit, Geschmack und Genuss der Konsumenten maßgeblich, sondern das Geschäft, das die Anbieter damit machen können. Die Herstellung verträglicher und gesunder Konsumtionsmittel ist nicht der wesentliche Gesichtspunkt, wenn es darum geht, mit der Herstellung und dem Verkauf von Produkten Gewinn zu erzielen. Kosten müssen gering gehalten, die hergestellten Waren möglichst vielversprechend angeboten werden – das sind die entscheidenden Mittel des Geschäftserfolgs. (…) Lohnarbeit macht krank. Weil sie dem Zweck dient, fremden Reichtum zu vermehren, ist sie rücksichtslos gegenüber den Bedürfnissen von Körper und Geist der Arbeitenden, dauert sie allem technischen Fortschritt zum Trotz oft bis zur Erschöpfung und Verblödung, ist sie oft gefährlich, belastend und fast immer vereinseitigend und “stressig”. Die Arbeitskraft ist im auf Gewinn angelegten Produktionsprozess ein Kostenfaktor, aus dem möglichst viel herausgeholt werden muss. Der Einsatz von Arbeit für Gewinn kann an Arbeitsplätzen passieren, an denen die Arbeit schwer, giftig, einseitig, physisch anstrengend ist. (…) Auch die “Umwelt” – Luft, Gewässer, Böden usw. – machen zunehmend krank. Dies ist der Fall, weil sie als Rohstofflager der Produktion ausgebeutet und als kostengünstiges Endlager für die Rückstände der Profiterwirtschaftung genutzt und damit vergiftet werden. Der ständig zunehmende Verkehr einer Arbeitsbevölkerung, die flexibel und mobil sein soll, und einer Produktion just in time sorgt für krank machenden Lärm, schlechte Luft und jede Menge Stress. Weil das so ist, fällt auch die Freizeit entsprechend aus. Was eigentlich der immer propagierte Zweck des Gelderwerbs sein sollte – das Leben nach eigenen Interessen gestalten und genießen – gerät für die große Mehrheit zu einer Veranstaltung, die von vielen Notwendigkeiten diktiert ist. (…) Die Gesundheit wird in dieser Gesellschaft weit über das Maß hinaus strapaziert, das angesichts der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und der erreichten Produktivität der Arbeit nötig wäre…”
  • Siehe zu den Auswirkungen auch unser Dossier: Auch in Deutschland stehen dem Corona-Virus (politisch gewollt) knappe Ressourcen des Gesundheitswesens gegenüber
  • Siehe auch unsere Rubrik Gesundheit und Armut, wir erinnern an unsere Rubrik im LabourNet-Archiv: Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz und die zu Gesundheitsreform: Gewerkschaftliche Proteste und Gegenvorschläge 
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=197842
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