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[Buch] Pflegeprotokolle

Buch von Frédéric Valin im Verbrecher Verlag: PflegeprotokolleWie geht es der Pflege, wie den Care-Berufen? Wie ging es den Menschen vor der Pandemie, wie währenddessen? Wie kamen sie in ihren Beruf und was haben sie dort erlebt? In Protokollen fängt Frédéric Valin die unterschiedlichen Lebensläufe, Motive und Erfahrungen jener Menschen ein, die sich kümmern: Altenpfleger*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Hospizmitarbeiter*innen, Geflüchtetenhelfer*innen. Dabei entsteht ein aufschlussreiches, sehr persönliches und berührendes Bild jener Berufe; von den Aufgaben, Herausforderungen und Belastungen. Geschichten aus jenen Bereichen, vor denen die Gesellschaft allzu oft die Augen verschließt.“ Klappentext zum Buch von Frédéric Valin im Verbrecher Verlag. Siehe weitere Infos, eine netz-exklusive Leseprobe daraus (zu „Moabit hilft“, wir danken!) sowie den Hinweis auf eine online-Veranstaltung zum Buch am 13.1.22:

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Diana Henniges

Diana Henniges ist Gründerin, Vorstand und Geschäftsführerin von Moabit hilft e.V. In Moabit, einem Berliner Stadtteil, befindet sich das Hauptgebäude des damaligen Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo, heute „Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten“, LAF). Es ist eine der zentralen Erstaufnahmestellen in Berlin, ab Sommer 2015 standen dort täglich mehr als tausend Geflüchtete an. Sie zu unterstützen, zu versorgen und zu begleiten, hat sich der Verein bis heute zur Aufgabe gemacht.

Ich bin von Haus aus Historikerin. Ich hab erst eine klassische Ausbildung gemacht, dann mein Abi nachgeholt, und Geschichte und Museumskunde studiert. Ich hab mich mit Themen wie Minderheiten, Sicherheit, Diskriminierung und Flucht befasst. Gleichzeitig hab ich sehr viel politische Arbeit gemacht, vor allem humanistische Geschichten, alles, was in Richtung Obdachlosigkeit geht, aber auch Ungerechtigkeiten in der Welt. Was die Jugend einem so in den Kopf spült, was in der linken Szene Relevanz hat, hab ich irgendwie mitgenommen. Vor einigen Jahren hab ich Sozialpädagogik an der KFH studiert. Ich fühle mich nun als klassische Sozialarbeiterin.

Ich glaube, dass es diese krummen Werdegänge sind. Die Wenigsten, die in verantwortlichen Positionen gelandet sind, haben gerade Berufswege, also Studium und dann hochgearbeitet. Außer sie sind im Management und machen maximal wirtschaftliche Ausschlachtung der Sozialbereiche. Häufig entstehen Engagements ja aus Krisen. Ich bin quasi ins kalte Wasser gefallen. Oder gesprungen, je nachdem.

Ich hab nach dem Bachelor-Abschluss angefangen, intensiv Flüchtlingsarbeit zu machen, weil hier in Berlin mehrere große Flüchtlingsunterkünfte aufgemacht haben, mit einer Belegung von 250 bis 400 Personen. Da war es mein frommer Wunsch, dass die Leute dort nicht nur wohnen, sondern auch leben können. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Leute irgendwo hinziehen, und damit ist es gegessen. Es ist ja nicht nur eine Unterbringungsleistung, man muss ja auch im Kiez ankommen, wissen, wie kauft man hier ein, wo kauft man ein, wo kriegt man billige Tomaten. Da wollten wir helfen. Also nicht so aus einer paternalistischen Haltung heraus, sondern mit offenen Armen. Das klingt ein bisschen romantisierend. Aber es hat tatsächlich in vielen Bereichen funktioniert.

Zuerst hab ich einen Spendenaufruf gemacht, und war so naiv zu sagen: „Ja, bringt das doch alles zu mir nach Hause.“ Und dann hatte ich 150 Kartons in meinem Wohnzimmer stehen. Viele Leute, die kamen und Zeug brachten, hatten auch Lust zu helfen. Daraus ergab sich ein Netzwerk mit Mailadressen und Telefonnummern, wir machten nen runden Tisch, da sind gleich 80 Leute erschienen. „Moabit hilft“ als Verein gab es schon 2013, aber das dümpelte so vor sich hin mit Begleitung zu Ämtern und so weiter, sehr niedrigschwellig. Alles ohne dieses richtige Basiswissen, das dafür nötig und elementar ist, das kam nach und nach.

Ich bin der Überzeugung, dass ein Mensch seine Rechte voll ausschöpfen können muss, um in einer Gesellschaft anzukommen. Wir sind jetzt über die Jahre dahingekommen, dass wir vor allem diese Dinge machen, die nötig sind, um den Lebensunterhalt zu sichern. Das fängt bei der Kleiderkammer an und hört bei Leistungen zu Lebensunterhalt nicht auf, ob jetzt Unterlagen und Urkunden beglaubigt werden oder Anerkennungsverfahren begleitet werden müssen. Solche Geschichten, wir sind breit aufgestellt. Wir machen sehr viel Asylverfahrensvorbereitung, -nachbereitung, Familiennachzug.

Der fließende Übergang passierte 2014/15, als die Leute auf dem LaGeSo-Gelände gestrandet sind. Das war ja bei uns vor der Haustür. Ich habe damals noch um die Ecke gewohnt. Wir haben uns über Facebook mit anderen Leuten verbunden, ich hatte geschrieben, dass es wichtig wäre, dass wir die Menschen auf dem Gelände versorgen. Da gab es noch nicht mal einen funktionierenden Wasseranschluss. Einen Wasserhahn gabs, aber es war klar, dass der eigentlich nur zum Bewässern der Grünflächen gedacht ist. Und dann habe ich nochmal einen Aufruf gemacht, halt im kleineren Rahmen. Und das ist dann explodiert. Die Leute haben uns die Bude eingerannt. Wir haben teilweise Sammelstellen auf dem Gelände gehabt, da fuhren LKWs vor, die Wasser verteilt haben. Drei, vier Leute haben die Koordinierung gemacht, wir haben uns zusammengetan und gesagt: „Wir brauchen Morgen-, Mittags- und Nachtschichten.“ Daraus entstand eine Versorgungssituation, so dass wir mit Caterern am Tag 500 Essen rausgegeben haben. Dafür haben wir mit dem Lebensmittelgroßhandel zusammengearbeitet, um die Lebensmittelverarbeitung vorzubereiten. Dann hatten wir eine provisorische medizinische Versorgung auf dem Gelände. Das hat die Ärztekammer in einem Schichtsystem übernommen. Wir haben am Anfang Apotheken angeschnorrt, um an Medikamente zu kommen, weil Leute mit Schrapnellteilen im Auge angekommen sind, mit offenem Bauchschuss oder kurz vor der Niederkunft standen, Presswehen auf dem Gelände bekommen haben und sich keiner richtig verantwortlich gefühlt hat. Die Helfer waren auch alles Ehrenamtliche: Wir haben tatsächlich viele Leute gehabt, die ihren Jahresurlaub genommen oder gesagt haben: „Ich nehm mir jetzt ein Sabbatjahr, weil mein Arbeitgeber das zulässt.“ Wir mussten einfach Ordnung reinbringen, es fühlte sich keiner verantwortlich, wir hatten ja noch den zauberhaften Czaja zu dem Zeitpunkt. Daraus ergab sich eine gewisse Infrastruktur, die bis heute geblieben ist, jetzt professionalisiert durch unsere Zusatzausbildung und unsere Erfahrung. Und durch Leute, die ihren Beruf aufgegeben haben und den Verein am Laufen halten.

Wir finanzieren uns durch Spenden. Wir nehmen keine staatlichen Subventionen an. Wir sind halt auch sehr, sehr kritisch. Und es gibt bestimmte Sachen, da können wir nicht mitgehen. Wir müssen auch gegenüber Landesregierungen, Bundesregierung oder Europa die Freiheit haben, zu sagen was wir wollen. Ich habe vorher für einen kirchlichen Träger gearbeitet. Ich weiß, wenn man finanziell abhängig ist vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten oder abhängig von verschiedenen anderen Einrichtungen, kommt es häufig dazu, dass man so ein bisschen über den Mund gestrichen bekommt. Das wollten wir immer verhindern.

Wir halten uns selbst über Wasser. Ob unsere Kostenstellen, die sich aus zweieinhalb Stellen ergeben oder unsere Autoversicherung, im Grunde alles, das rocken wir selbst. Das ist alles nur durch Spenden und Fördermitglieder möglich.

Dadurch sind wir sehr krisenanfällig. Wie viele dieser kleinen Vereine krächzen wir auch schon mal, also Millionärin werde ich in diesem Leben nicht mehr. Ich hab im Vorjahr einen gut dotierten Job gehabt, jetzt nicht mehr. Wir kommen zurecht, weil wir zurechtkommen müssen. Es gibt Monate, da können wir uns ein höheres Gehalt auszahlen und mal kriegen wir keins. Da muss man sehen. Wir haben alle zwei Jobs. Irgendwie halten wir uns über Wasser.

Wir sind nur noch vor Ort, wir machen keine aufsuchende Arbeit mehr. Das hätte uns belastungsmäßig überfordert. Wir haben 60 bis 80 Leute, die täglich zu uns kommen. Davon haben ein Drittel verwaltungstechnische Problematiken: Übersetzung der Eheurkunde, Leistungsanträge oder Kindergeld wurde nicht ausgezahlt, all solche Dinge. Das begegnet uns mannigfaltig. Und da liegt es daran, dass das System marode ist. Ich bin ein ganz, ganz großer Fan vom Bedingungslosen Grundeinkommen, und zwar nicht nur, weil sich die Bedingungen für die Menschen verändert haben, sondern vor allem, weil wir sehen, wie absurd es ist, dass eine Familie Elterngeld, Kindergeld und was auch immer beantragen muss, damit das später mit dem SGB II verrechnet wird. Solange man nicht all diese Sachen aus dem ganzen Leistungsspektrum beantragt hat, was total intransparent ist, wird halt auch kein SGB II in der Höhe ausgezahlt, damit man seinen Lebensunterhalt sichern kann, wobei der Lebensunterhalt ja auch durch SGB II nicht wirklich gesichert ist. Das ist bigott, wie wir hier mit Menschen umgehen und das als Sozialsystem verkaufen.

Ich finde die Attitüde, die dahinter steckt, grauenhaft. Im Grunde gibt man sich gönnerisch, „bei uns haben die es gut” und so weiter, gleichzeitig lässt man die Leute völlig allein mit der Antragsstellung. Es gibt kein Jobcenter, das dir hilft deinen Wisch auszufüllen, wenn du frisch aus Rumänien kommst und ergänzende Leistungen zu deinem Lebensunterhalt brauchst. Es gibt keinen, der der alten Oma ihren Rentenantrag erklärt, außer die Vereine, die wirklich krächzen und total überlastet sind, die machen das noch mit Terminvergabe. Es gibt sowas wie offene Sprechstunden nur ganz selten. Und wenn, dann sind die total überlaufen und mit Zeitfenstern versehen. Diese ganzen Antragsstellungssituationen sind belastend für Leute, die eh schon am Rande der Gesellschaft leben. Das ist erniedrigend.

Teilweise erwartet man auch, dass die Menschen devot reagieren. Ich seh das oft, dass ältere Leute, die Migrationshintergrund haben und nicht gut Deutsch sprechen, von anderen Beratungsstellen kommen, und erzählen: „Die haben von mir erwartet, dass ich in der Ecke sitze und zu allem Ja und Amen sage. Aber ich bin auch ein Mensch, der als solcher wahrgenommen werden will.Man hört auch öfter Sätze wie: Auch wenn ich, vielleicht nicht Millionen Euro von Steuern abgegeben habe, aber zumindest habe ich mich ja immer bemüht, meinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten und krieg jetzt 440 Euro Rente…“ Häufig ist das durch die langjährige Papierflut in den Beratungsstellen so eine Art – puh, naja – man könnte das Mittäterschaft nennen. Dass man sich dem ergibt, dass man das Gefühl vermittelt bekommt: „Ja, die haben eh alle kapituliert.“ Also finden die Leute dort das selbstverständlich, dass man mit Menschen so umgeht. Wir wollen das nicht, wir wollen keine Mittäter sein. Wir finden dieses System völlig bescheuert, um es mal lapidar auszudrücken. Völlig krank.

Es ist über die letzten Jahrzehnte so oft reformiert und so oft umgewandelt worden, dass es überhaupt keine Schlüssigkeit mehr gibt. Wir sehen das immer wieder im Sozialgericht, wo die Richter vor uns sitzen und sagen: „Klar, natürlich haben Sie Recht.“ Aber der Prozess brauchte eben erst mal zwei Jahre.

Die sind auch völlig überlastet. Und vor den Arbeitsgerichten passiert das gleiche. Wir haben viel zu tun mit Forderungen von Leuten, die irgendwo als Subunternehmer beschäftigt waren. Die Menschen kommen aus Osteuropa, kriegen irgendwelche Werkverträge und die Zahlung wird nicht geleistet. Dann haben die Anspruch auf Leistungen, aber das Jobcenter weigert sich, weil der vorige Arbeitgeber keine Arbeitsbescheinigung rausgibt, so beißt sich die Katze in den Schwanz. Und so landen die Leute auf der Straße und drücken noch mehr auf dieses kranke System.

Wir versuchen halt, diese Kette aufzuhalten, indem wir die Arbeitgeber unter Druck setzen. Oder wir versuchen Geflüchtete aus der langjährigen Tatenlosigkeit rauszuholen, weil sie ja nicht wissen, dass sie etwas dagegen unternehmen können, dass das BAMF seit vier Jahren auf ein Ergebnis warten lässt, bis die verwaltungsrechtliche Klage Erfolg hat.

Und das sind so Lücken, das ist so bigott, was wir hier tun, was wir nach außen projizieren, als Deutschland, als humanistisches Land. Was man ganz klar sieht, ist, dass wir die Leute von hinten bis vorne verarschen. Und das ist politisch so gewollt. Da gibt es eine Allianz aus den Leuten, die das wirklich wollen, und den vielen, die dazu schweigen, und dazu kommen die, die das alles umsetzen. Das betrifft kleine NGOs, die über die langjährige Mittäterschaft korrumpiert sind, aber auch Malteser, Rotes Kreuz, Caritas, undsofort, die maximalwirtschaftlich handeln, die in sozialen Bereichen wirklich unglaubliche Zahlen haben. Und die Dividenden haben, bei denen ich sage: Wie kann das denn sein, in diesen Bereichen? Die gründen GmbHs und fahren richtig Geld damit ein. Für mich erklärt sich das nicht, dass es Tagessätze von 60 Euro für Hostels gibt, die nicht mal eine Betriebswirtschaft haben. Und wie kann es sein, dass die mit Menschen zusammenarbeiten, die schon vorher als korrupt galten oder vorbestraft sind? Das geht ja sogar bei Rot-Rot-Grün auf Landesebene, ich sage immer wieder: Das kann nicht euer Ernst sein.

Die Ausbildung zum Sozialarbeiter ist Teil des Problems. Ich nehme wahr, dass die Ausbildung eher in Richtung „Mittäterschaft“ geht. Es gibt da so viele Professoren, die lange nicht mehr im Job sind, oder Dozenten, die angeblich aus der aktiven Arbeit berichten können, aus der Praxis, dabei sind das oft Leute, die resigniert haben. Die im Grunde immer so eine Contenance wahren, wenn gegen das Gesetz gehandelt wird. Immer mit der Attitüde: „Ja, das ist nun mal so.“ Wie oft ich mit irgendwelchen Dozenten aneinandergeraten bin, weil ich gesagt habe: „Nee, das ist natürlich nicht so, da gibt es die und die Möglichkeit.“ Und die meinten: „Ja, aber das ist ja nicht unsere Aufgabe.“ Dann denke ich: Was ist denn unsere Aufgabe? Und wessen Aufgabe ist es, jemandem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen? Das wäre die Aufgabe des Anwalts, heißt es. Aber der Anwalt kommt ja nicht an diesen Fall ran, weil die Leute, die abgehängt sind, keine Möglichkeit haben, sich an einen Anwalt zu wenden. Wer weiß schon von einer Gerichtskostenbeihilfe, und wie oft wird die abgelehnt? Da haben sich die Leute häufig selbst beschränkt in ihrem Handeln, aus Bequemlichkeit, aus uneingestandener Überforderung. Manche finden das wahrscheinlich sogar richtig. Ob das im humanitären Bereich ist, im marktwirtschaftlichen Bereich, im Verwaltungsbereich, bei den NGOs, es ist immer so, dass man das Gefühl hat, wir sind bei Don Quijotte.

Dazu kommt, dass keiner was entscheidet, im Sozialen Bereich. Wenn es ein Problem gibt, heißt es immer: „Dazu müssen wir mal noch ein Briefing machen und dann drüber reden.“ Aber gerade bei akuten Problemen sind die Leute dramatisch fremd- und selbstgefährdet. Doch wenn sich keiner zuständig fühlt? Weder die Psychiatrischen Institutsambulanzen in den Kliniken noch sonst wer. Die Clearing-Stelle wurde jetzt hier gerade zugemacht auf dem Gelände. Da sollen neue Strukturen aufgebaut werden. Das scheitert natürlich wieder an Corona. Das ist auch eine schöne Ausrede. Da wurden jetzt wieder Millionen reingepumpt. Wenn es keine Struktur gibt, kann man auf eine Struktur verweisen, die es zukünftig geben wird. Das ist Absicht. Diese Unterversorgung ist Absicht.

Das ist so ein Unsinn, seit Jahren. Immer heißt es: Es gibt eine Infrastruktur, auf die können wir uns verlassen. Aber diese Infrastruktur gibt es nicht, die ist nur geplant. Und die wird es auch zukünftig nicht geben, weil immer wieder was dazwischenkommt. Und niemand will Verantwortung, alle schieben das von A nach B nach C. Ob es das LAF ist oder die Ausländerbehörde oder was auch immer. Irgendwann bist du mit deinem Anliegen bei der Sozialsenatorin, mit der kannst du sprechen, und denkst dir: „Sag mal, hast du nichts anderes zu tun? Du bist doch weisungsbefugt gegenüber dem LAF. Warum machst du nicht deinen fucking Job?“

Das ist völlig unabhängig vom politischen Hintergrund der Regierenden. Ich habe teilweise sehr engagierte grüne und linke Abgeordnete, mit denen ich zusammenarbeite. Was ich auf Landesebene desolat finde, ist die Unterbringung von Flüchtlingen. Die haben Unmenschliches zu verantworten.

Hier auf Bezirksebene ist die Unterbringungssituation besonders problematisch. Bei uns ist der Bezirk im Verhältnis für sehr viele Menschen verantwortlich, die ein abgeschlossenes Asylverfahren haben. Das bedeutet ja nicht, dass man es schlechter machen muss. Wird aber trotzdem schlechter gemacht. Das kannst du dir mal durchlesen, was es da zum Teil für Dialoge gibt in der Bezirksverordnetenversammlung, das ist alles protokolliert. Wir haben Unterkünfte in der ganzen Stadt, die mit Wanzen verseucht sind, mit Kakerlaken, es gibt nicht genug sanitäre Anlagen. Und das große Problem ist: Wir machen da Business mit Leuten, die nicht vertrauenswürdig sind, auch mit mafiösen Organisationen, die Hostels anbieten, oder sehr, sehr viel Geld mit Tagessätzen verdienen. Da werden Kosten übernommen für Unterbringungen in Massenunterkünften, seit 20 Jahren ausgedienten Altenheimen oder Hotels, die seit Jahrzehnten keinen Touristen mehr gesehen haben. Die Leute wohnen dort dann jahrelang. Die sanitären Anlagen sind auf Vollbelegung nicht ausgelegt, sondern nur für einen saisonalen Betrieb, es gibt nicht genügend Stromkapazität, man kann nicht gleichzeitig mehrere Föhns laufen lassen, ohne dass das Netz zusammenbricht. Gleichzeitig versagen die Klimaanlagen, saniert wird gar nicht mehr, nur noch repariert.

Und die Leute werden komplett allein gelassen, es gibt keine Ansprechpartner, falls die Heizung ausfällt. Niemand reagiert, der Bezirk nicht, der Betreiber nicht, vielleicht weils ihm egal ist, vielleicht, weil er Rassist ist. Und dann wird seit vorletztem Jahr einfach behauptet, es gebe sowas wie eine „freiwillige Obdachlosigkeit” von Geflüchteten. Das sind Leute, die einfach kapituliert und gesagt haben: „Ich kann in der Unterkunft nicht mehr leben, weil mein Kind den ganzen Tag von Wanzen zerstochen wird, und dann kommt einmal im Monat der Kammerjäger und nebelt alles mit Giften voll, mein Kind hat davon schon einen allergischen Schock bekommen, ich muss da raus.“ Die Leute ziehen aus, gehen zur sozialen Wohnhilfe und sagen: „Irgendwo muss ich ja wohnen“, und dann antworten die: „Jetzt sind Sie da ausgezogen, jetzt sind Sie freiwillig obdachlos. Wir haben nichts neues, alles Gute.”

Der alte Träger nimmt die Menschen nicht mehr zurück, einen neuen Träger gibt es nicht. Und solche Fälle haben wir in den letzten zwei Jahren in rauen Mengen gehabt.

Und der Bezirk fühlt sich nicht zuständig. Wir haben öfter mal Anfragen gestellt in der BVV, über Linke und Grüne Abgeordnete, da wird man immer abgewimmelt. Es wird immer gesagt: Wir kümmern uns darum, wir nehmen es mal mit.

Wir hatten hier mal eine super Infrastruktur vom Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk, die haben Geflüchtete in Wohnungen vermittelt. Das war supergut aufgestellt, einen Monat vor Verlängerung wurde es eingestampft. Dann sollte es wieder eine Infrastruktur geben, bloß wollte das diesmal der Bezirk selbst machen. Für ein paar Monate wurden Leute, Studenten, mit der Akquise von Wohnungen beschäftigt, auf Minijob-Basis saßen die in einem Büro, telefonierten sich die Finger wund und hatten am Ende überhaupt keine Vermittlung. So handhabt man das mittlerweile in vielen Bereichen, auch bei Obdachlosigkeit.

Überall unmenschliche Politik, allein diese sheriffartigen Räumungen von Plätzen, da räumen die mit brachialer Gewalt die Obdachlosencamps, vernichten deren Eigentum. Häufig sind unter den Obdachlosen ja illegalisierte Geflüchtete. Diese rabiate Vorgehensweise ist Staatsraison, die wollen das so.

Für uns hat der Bezirk Mitte überhaupt nichts getan. Vor vier Wochen hat das Gesundheitsamts angefragt, was „Moabit hilft“ für den Bezirk tun kann in der Krise. Ich habe sie ausgelacht und aufgelegt.

Da standen wir gerade vor der Frage, wie wir diese Verordnung umsetzen und woher wir die 500 Euro bekommen, die wir für Desinfektionsmittel und all das brauchen, was man eben braucht, Mundschutz, was weiß ich. Da stand nicht zur Debatte, wie wir denen helfen können, sondern wie wir finanziell unterstützt werden können. Die rühmen sich immer damit, dass sie hier in der Turmstraße ein Gesundheitszentrum aufbauen wollen und dass sie uns hier schon platziert hätten. Als ob der Bezirk etwas dazu beigetragen hätte.

Wir werden im Abgeordnetenhaus auch der Zorn Christi genannt. Wir sind nicht besonders beliebt, weil wir ja immer gegenhalten und häufig sehr, sehr deutlich öffentlich sagen, was wir davon halten, wenn nur Lippenbekenntnisse gemacht werden. Und diese ganzen Feigenblätter, die können die sich echt in die Haare schmieren. Das ist alles nur noch… Mist. Und ich halte mich noch zurück.

Wir haben jetzt tatsächlich den Integrationspreis des Bezirks bekommen. Allerdings nur, weil sich viele Abgeordnete für uns eingesetzt haben. Aber man hat sich in der BVV dagegen ausgesprochen, dass wir den Preis bekommen, weil wir zu widerständig sind. Es war auch nicht unser Ziel, denen zu gefallen. Ich bin da nicht traurig. Wir müssen nicht beliebt sein, um durchzusetzen, was wir wollen. Aber je unbeliebter wir sind, desto schwieriger wird es. Wie gesagt: Mittäterschaft gibts bei uns nicht.

„Die Situation an den Außengrenzen der EU ist nach wie vor katastrophal, und die Berliner Regierung schöpft ihre Möglichkeiten nicht aus, den Menschen in Moria und anderen Lagern zu helfen. Während sich die Zusammenarbeit mit einigen Behörden wie Jobcenter und Ausländerbehörde verbessert hat, ist das LAF nach wie vor bekannt für lange Bearbeitungszeiten, Intransparenz, bürokratische Gängelung, übergriffiges Personal und gilt insgesamt als ein Hort direkten und systemischen Rassismus“, so Henniges.

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Siehe auch:

  • Siehe die Homepage von „Moabit hilft“ externer Link und diese auf Twitter externer Link
  • Arbeit mit den Unsichtbaren. Maximalwirtschaftliche Menschenfeindlichkeit: Frédéric Valin hat in der Pandemie »Pflegeprotokolle« versammelt 
    “Er hat »diesen Job geliebt« und musste doch hinschmeißen, mitten in der Pandemie, alleingelassen vom mittleren Management, einer Leitung, die weder die ihr anvertraute Wohngruppe sogenannter geistig Behinderter noch die Pflegenden angemessen schützen wollte. (…) Seine eigene Geschichte hat der Autor Frédéric Valin, der seit 2020 nicht mehr als Pfleger arbeitet, vor gut einem Jahr für die »Taz« aufgeschrieben. Sie hätte auch in den nun von ihm versammelten »Pflegeprotokollen« vorkommen können, doch aus seinen Berufserfahrungen soll später ein gesondertes Buch werden. Sein Fazit damals: »Gleichzeitig beherrschen draußen irgendwelche Demonstrant*innen mit ihren gefährlichen Agenden die Schlagzeilen, während von uns Pflegenden erwartet wird, dass wir unseren Job machen und die Fresse halten … Betreuer*innen und Pflegende müssen anfangen, ihre Geschichten zu erzählen.« Weil Valin plötzlich viel Zeit hatte, hat er andere Care-Arbeitende gebeten, genau das zu tun. Die entstandenen »Pflegeprotokolle« flankieren die Arbeitskämpfe, die in den Medien meist nur am Rande vorkommen, und erscheinen, auch wenn Voreilige die Pandemie bereits an ihrem Ende wähnen, zur rechten Zeit. Denn an der Ökonomisierung und Privatisierung des Gesundheitssystems, dem Personalmangel, den hierarchischen Strukturen in der sozialen Arbeit, der Geringschätzung von Care-Arbeitenden und Schutzbefohlenen, den Schikanen der Ämter gegenüber sozial Benachteiligten wird sich auch nach Corona nicht so schnell etwas ändern. Im Vorwort stellt Valin fest, »dass Pflege und Soziale Arbeit der Öffentlichkeit im Grunde fremd sind«. Seine Gesprächspartner*innen »waren froh, dass ihnen mal jemand zugehört hat«. Vanessa, die sich um Obdachlose und Drogenkranke kümmert, bestätigt: »Wir arbeiten mit den Unsichtbaren der Gesellschaft … Und genau so wie diese Menschen übersehen werden, werden wir auch übersehen … Soziale Arbeit ist ja immer ein Frauenberuf gewesen …, der nicht wirklich wertgeschätzt … wird … Aber es bräuchte auch Leute, die öffentlich aus der Praxis berichten.«…” Rezension von Marit Hofmann vom 18. Oktober 2021 in neues Deutschland online externer Link
  • Siehe zum Hintergrund auch unser Dossier: Auch in Deutschland stehen dem Corona-Virus (politisch gewollt) knappe Ressourcen des Gesundheitswesens gegenüber
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=196805
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