Voneinander Streiken lernen: Berliner Gorilla Workers und GEW-Lehrer:innen im simulierten Erfahrungsaustausch

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitMit den spontanen Streiks bei dem Lebensmittellieferdienst Gorillas in Berlin sind Arbeitsbedingungen und widerständige Praxis in der Lieferbranche ins Zentrum einer breiteren öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Arbeiter:innen um das Gorillas Workers Collective (GWC) fordern den sozialpartnerschaftlichen Umgang mit dem Arbeitskampfrecht radikal heraus. Immer wieder traten sie im Sommer spontan in den Ausstand, ohne dafür eine Gewerkschaft um Erlaubnis zu bitten. Diese Erfahrungen meist junger Beschäftigter erinnern an den bekannten Spruch »Alle sagten: Das geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht und hat‘s einfach gemacht.« (…) Im Vergleich zu der Handlungsfähigkeit der Rider:innen in einer akuten Gefahr tritt die Misere der deutschen Gewerkschaften deutlich hervor (…) Als Kontrast zu den Gorillas-Aktionen wird im Folgenden das Agieren der Berliner GEW-Landesführung während der zweiten Corona-Welle im Januar 2021 dargestellt. Schulen standen damals, in den ersten Wochen des zweiten Schul-Lockdowns, im Fokus der Öffentlichkeit. Unter den Beschäftigten der Schulen gab es ein verbreitetes Bewusstsein, dass Pädagog:innen und Schüler:innen nicht ausreichend geschützt werden. (…) In der Auseinandersetzung um die Schulöffnung ist die Bildungsverwaltung schließlich eingeknickt, weil sie eine massive Unruhe befürchtete. Nachdem die GEW am Donnerstag eindeutig kommunizierte, dass sie nicht zum Streik aufrufen wird, wäre es am Montag wahrscheinlich zu einem weit verbreiteten »Sick out« gekommen, wenn der Senat nicht bereits zurückgerudert wäre. Auch vereinzelte spontane Arbeitsverweigerungen wären möglich gewesen...“ Artikel von Christoph Wälz in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 9/2021:

Voneinander Streiken lernen

Berliner Gorilla Workers und GEW-Lehrer:innen im simulierten Erfahrungsaustausch – von Christoph Wälz[*]

Die Beschäftigten des Lebensmittellieferanten Gorillas, die sich mit dem Gorillas Workers Collective (GWC) eine Basisorganisation geschaffen haben, und kritische Aktive der DGB-Gewerkschaften können von den ­Erfahrungen der jeweils anderen profitieren, meint Christoph Wälz. Begleitend zu dem Interview von René Kluge mit einem Aktiven des GWC dokumentieren wir hier seine einladende Analyse.

Mit den spontanen Streiks bei dem Lebensmittellieferdienst Gorillas in Berlin sind Arbeits­bedingungen und widerständige Praxis in der Lieferbranche ins Zentrum einer breiteren öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Arbeiter:innen um das Gorillas Workers Collective (GWC) fordern den sozialpartnerschaftlichen Umgang mit dem Arbeitskampfrecht radikal heraus. Immer wieder traten sie im Sommer spontan in den Ausstand, ohne dafür eine Gewerkschaft um Erlaubnis zu bitten. Diese Erfahrungen meist junger Beschäftigter erinnern an den bekannten Spruch »Alle sagten: Das geht nicht. Dann kam einer, der wusste das nicht und hat‘s einfach gemacht.«

Am 9. Juni streikten Beschäftigte bei Gorillas, nachdem ein Kollege ohne Vorwarnung in der Probezeit gekündigt worden war. Es folgten drei Tage des Ausstands, bei denen mehrere Lagerzentren zeitweilig blockiert wurden. Seitdem kam es zu weiteren Aktionen. Erst protestierten am 28. Juni Beschäftigte gegen fehlerhafte Lohnabrechnungen. Dann streikten einzelne Lagerzentren am 30. Juni und am 8. Juli. Am 17. Juli fuhren Beschäftigte als Fahrraddemo von einem Lagerhaus zum nächsten und riefen dort jeweils zum Streik auf.

Arbeitsniederlegung als Notwehr

Die Forderungen erfassen unterschiedliche Arbeitsbedingungen wie sicheres Equipment, wetterfeste Kleidung, Datenschutz, bessere Bezahlung und Schutz vor sexueller Belästigung. Besonders beachtet wurde seit Anfang Juni der »wilde« Streik gegen die erwähnte Probe­zeitkündigung. Doch diese Aktion hatte einen Vorläufer. Bereits am 8./9. Fe­bruar 2021 ­traten Gorillas-Rider:innen spontan in den Streik, als die vereisten Straßen Unfallgefahren mit sich brachten. Jakob Pomeranzev vom GWC berichtet:

»Es gab einen starken Schneesturm an einem Sonntag. Das Unternehmen gab uns dazu keinerlei Mitteilung raus. Unter uns Beschäftigten kam es aber zu Gesprächen. Es gab damals noch keine Organisation, ­sondern nur lose WhatsApp-Gruppen. Die Leute, die am Montag zur Frühschicht kamen, sprachen bereits darüber, was wir machen können. Es war klar, dass wir unter diesen Bedingungen nicht arbeiten können.

Wir fuhren dann noch ein oder zwei Touren und stürzten dabei etliche Male. In zwei von damals noch acht Lagerzentren, am Checkpoint Charlie und in Schöneberg, haben einige Leute alle Kolleg:innen zusammengeholt. In der Frühschicht arbeiten noch nicht so viele, das waren etwa zehn pro Lagerzentrum. Die haben abgestimmt, die Liefertouren einzustellen. Sie haben sich hingesetzt und allen mitgeteilt, was los ist. Die Nachricht hat sich dann zu anderen Lagerzentren verbreitet. Das Unternehmen versuchte natürlich die Leute zu überreden weiterzuarbeiten. Um 11 Uhr wurden dann aber alle in ganz Berlin bezahlt nach Hause geschickt.

Die Ansage für den nächsten Tag war, dass die Zahl der Arbeitsstunden angesichts der Umstände reduziert wird. Die verkürzte Arbeitszeit würde aber natürlich in keiner Weise bedeuten, dass der Schnee schmilzt. Das hat die Leute nur noch wütender gemacht, so dass die beiden gleichen Lagerzentren und noch ein weiteres morgens eine ähnliche Abstimmung durchgeführt haben. Dieses Mal wurde der Betrieb noch schneller eingestellt, und zwar bezahlt für die ganze restliche Woche.

Am ersten Tag streikten zwei Lagerzen­tren, am zweiten Tag drei. Anscheinend hatte das Management Sorge, was passiert, wenn sie versuchen, die Lieferungen aufrecht zu erhalten. Offiziell stellte es das Unternehmen aber so dar, dass sie besorgt um die Sicherheit der Rider:innen sind.«

Am 30. Juni, als es zu stundenlangen starken Regenfällen kam, wurde erneut spontan gestreikt, dieses Mal im Lagerzentrum Pankow. Diese Aktion weist Ähnlichkeiten mit dem Streik im Februar auf. Jakob Pomeranzev berichtet weiter:

»In Pankow gab es nicht genug und nicht geeignete Regenkleidung. Das Problem ist auch, dass Regenkleidung nur in einer Größe vorhanden war. Du musstest die Einheitsgröße nehmen, ob du groß oder klein bist. Bei einem Arbeiter führte das dazu, dass sich die zu große Regenhose zwischen Zahnrad und Kette verfing und er stürzte. Eine Arbeiterin kam an dem Tag mit ihrer klitschnassen Unterwäsche aus dem Bad und wrang sie wütend aus.

Die Beschäftigten haben dann einfach entschieden, nicht weiter zu arbeiten. Sie waren völlig unvorbereitet und haben sich einfach hingesetzt. Das Management wollte sie überzeugen weiterzuarbeiten. Es ging hin und her, die Arbeit wurde teilweise wieder begonnen und dann doch wieder eingestellt. Letztlich wurden die Lieferungen wieder aufgenommen, als es die Zusage gab, dass bald geeignete Regenkleidung bereitgestellt werden würde. Aber es hat drei bis vier Stunden gedauert.

Das GWC war in diese Aktion nicht involviert. Die Beschäftigten in Pankow hatten noch keinen Kontakt zu uns gehabt, aber sie hatten natürlich die Streiks in den Wochen zuvor mitbekommen und haben sich ein Beispiel genommen. Sie nahmen dann Kontakt zu uns auf und wir unterstützten die Aktion. Es gab direkt im Anschluss an den spontanen Streik noch einen Solidaritätsstreik in Kreuzberg, wo der Betrieb komplett eingestellt werden musste. Das Management befürchtete daraufhin offenbar, dass es zu weiteren Aktionen kommen würde. So wurden uns im Lagerzentrum Bergmannkiez, in dem ich arbeite, gleich 30 oder 40 neue Regenausrüstungen in unterschiedlichen Größen bereitgestellt, um einen Streik zu verhindern.«

Gorillas gab bei beiden Streiks nach und zog bisher auch keine arbeitsrechtlichen Konse­quenzen, obwohl Unternehmenssprecher in der Presse wiederholt – wenn auch nur zaghaft – ihr Unverständnis über eine angeblich fehlende Rechtsgrundlage der Streiks geäußert haben.

Berechtigte Interessen

Offenbar ist die Geschäftsleitung besorgt um das Image der Firma, das durch weitere Ak­tionen leiden könnte. Schließlich ist die durch Risikokapital getriebene rasante Expansion des Unternehmens, das erst in noch nicht absehbarer Zeit überhaupt Gewinne machen soll, abhängig von der öffentlichen Wahrnehmung. Um die erforderliche Marktmacht zu erreichen, müssen viele neue Kund:innen und Beschäftigte gewonnen werden.

Der Soziologe Robin De Greef hat für diese Erklärung Bezug auf den Macht­ressourcenansatz genommen. »Die von den ­organisierten Riders primär angezapfte Macht­ressource ist die Medien- und Diskursmacht, also die Möglichkeit, auf die öffentliche Meinungs­bildung einzuwirken«, heißt es in einer Rezension zu seinem Buch über Arbeits­kämpfe bei Essenslieferdiensten im express (6/2021, S. 3).

Nach herrschender Rechtsauffassung mögen die genannten Streiks für den Arbeits- und Gesundheitsschutz »illegal« gewesen sein, weil sie weder auf einen Tarifvertrag zielten, noch ihnen ein Streikaufruf einer verhandlungsmächtigen Gewerkschaft vorausging. Beispielhaft für die Gewerkschaftsbewegung ist jedoch die Haltung des GWC, um ihr Recht kämpfen zu wollen. So führt Jakob Pomeranzev weiter aus:

»Die Auffassung, dass politische Streiks und sogenannte ›wilde‹ Streiks verboten seien, wurde von Juristen aus der Nazi-Zeit geprägt. Es gab allerdings zu Aktionen wie denen bei uns bisher keine Gerichtsprozesse. Also wissen wir noch gar nicht, wie ein Richter darüber urteilen würde. Außerdem entspricht die ›herrschende Meinung‹ des deutschen Arbeitsrechts nicht den Standards der Europäischen Sozialcharta und der Interna­tionalen Arbeits­organisation (ILO). Wenn man also vor einem deutschen Gericht verlieren sollte, kann man immer noch vor ein EU-Gericht ziehen. Niemand weiß, was passieren würde, wenn Gorillas gegen uns vor Gericht ziehen würde. Das könnte auch für sie ein großes Problem werden.«

Ob ein spontaner verbandsfreier Streik wie bei Gorillas gewonnen wird, hängt nicht nur von einer oberflächlich betrachteten Legalität ab. Besonders in Bereichen, in denen eine große öffentliche Aufmerksamkeit besteht, kann die Frage der Legitimität ein weitaus größeres Gewicht erlangen.

Dass sich der Klassenkampf bei Gorillas in diese Richtung entwickelte, hat auch damit zu tun, dass die Handelnden unbelastet von Vorstellungen über »Legalität« und »Tariffähigkeit« sind, die deutsche Gewerkschaften manchmal handlungsunfähig machen. Das Fehlen einer offiziellen gewerkschaftlichen Betriebsgruppe und eines Betriebsrates mag zunächst sogar begünstigt haben, dass die Beschäftigten gar nicht anders konnten, als sich durch ihre spontane Initiative zu wehren.

Im Vergleich zu der Handlungsfähigkeit der Rider:innen in einer akuten Gefahr tritt die Misere der deutschen Gewerkschaften deutlich hervor. So stellt der Arbeitswissenschaftler Wolfgang Hien fest, dass »eine breite gewerkschaftliche Bewegung für einen partizipativen und effektiven Gesundheitsschutz« in der Coronakrise ausgeblieben sei. Erst recht gab es hierzulande keine Streiks dafür, eine zeitweilige Schließung der Betriebe zum Zweck des Gesundheitsschutzes von unten zu erzwingen. Diese Perspektive hatte die Initiative »ZeroCovid« im Januar 2021 in die Diskussion um die Pandemiebekämpfung eingebracht.

Sicherlich spielt dabei eine Rolle, dass die DGB-Gewerkschaften ihre Mitglieder fast durchgehend nur dann zum Streik aufrufen, wenn dieser ihnen rechtlich absolut wasserdicht erscheint. Die restriktive Auslegung der Koalitionsfreiheit durch die vom BAG seit Jahrzehnten wiederholte Rechtsauffassung wird von den DGB-Gewerkschaften kaum in Frage gestellt.

Als Kontrast zu den Gorillas-Aktionen wird im Folgenden das Agieren der Berliner GEW-Landesführung während der zweiten Corona-Welle im Januar 2021 dargestellt. Schulen standen damals, in den ersten Wochen des zweiten Schul-Lockdowns, im Fokus der Öffentlichkeit. Unter den Beschäftigten der Schulen gab es ein verbreitetes Bewusstsein, dass Pädagog:innen und Schüler:innen nicht ausreichend geschützt werden.

»Aufstand der Berliner Schulen«

Im Herbst 2020 hatte sich die Stimmung in den Schulen immer weiter zugespitzt. Abstände einzuhalten war bei vollen Klassen nicht möglich. Maskenpflicht, regelmäßiges Lüften bei sinkenden Temperaturen und überforderte Gesundheitsämter sorgten für ein Gefühl der Überlastung und Schutzlosigkeit. Viele Gewerkschaftsmitglieder wollten, dass wir unser wichtigstes Machtmittel – den Streik – auch für den Gesundheitsschutz einsetzen.

Mitte Dezember 2020 beschloss der Berliner Senat, dass bis zum 8. Januar 2021 Fernunterricht stattfinden soll. Zuletzt hatten Lehrkräfte im Frühjahr 2020 aus dem Homeoffice heraus unterrichtet. Bei rasant steigenden Infektionszahlen war das Homeoffice drei Tage vor den Weihnachtsferien für viele eine Rettung.

Am Montag, den 4. Januar, kündigte die Bildungssenatorin Sandra Scheeres an, ab dem 11. Januar wieder schrittweise in den Präsenzunterricht zu wechseln, vorbehaltlich des Beschlusses der Bund-Länder-Konferenz. Diese kam dann am folgenden Tag zusammen und entschied, die Schulen bundesweit bis Ende Januar geschlossen zu halten, wobei die einzelnen Länder davon abweichen könnten. Am Mittwoch verkündete dann aber die Berliner Bildungs­verwaltung ihren ursprünglichen Plan: Bereits fünf Tage später sollten die »abschluss­relevanten Klassen« wieder in Präsenz unterrichtet werden.

Es folgte ein »Aufstand der Berliner Schulen« (Tagesspiegel). Aus der Elternschaft wurde die Petition »Kein Präsenzunterricht in Berlin, solange Covid-19 nicht unter Kontrolle ist« gestartet. Von Mittwoch bis Freitag unterschrieben über 31.000 Menschen die Petition. An jeder Schule explodierten die Chatgruppen der Beschäftigten. Lehrkräfte und Erzieher:innen tauschten sich minutiös über die Entwicklungen aus und zeigten aus dem Homeoffice heraus eine erstaunliche Handlungsfähigkeit.

Etliche Kollegien verfassten Brandbriefe. An einigen Schulen kamen virtuelle Gesamt­konferenzen des pädagogischen Personals zusammen, die Resolutionen gegen den verfrühten Präsenzunterricht verabschiedeten. Schulleitungen stellten Eilanträge, um von der zentralen Regelung abweichen zu dürfen. Einzelne Schulleitungen erklärten öffentlich, sich der Anweisung des Senats widersetzen zu wollen. Personalräte forderten Auskunft darüber, wie ein angemessener Arbeitsschutz in dieser kurzen Frist realisiert werden könne. An vielen Schulen kursierte die Idee einer kollektiven Krankmeldung (»Sick out«).

Der Druck wurde nach zwei Tagen so groß, dass der Berliner Senat am Freitag beschloss, die Entscheidung zurückzunehmen und die Schulen bis Ende Januar geschlossen zu halten. Der berlinweite Schulaufstand am 7./8. Januar hat gezeigt, dass sich etwas bewegt, wenn Tausende für ihre Interessen aktiv werden.

Dieser Protest wurde nicht von der GEW initiiert. An einigen Schulen, an denen es GEW-Betriebsgruppen oder Kerne von Aktivist:innen gab, kam es aber schnell zu Brandbriefen, an denen sich andere Schulen dann orientiert haben. Eine kämpferische Landesführung kann eine positive Rolle spielen, wenn sie spontanen Protest und Aktivität aufgreift, vorantreibt und zuspitzt.

Die Berliner GEW-Spitze unterstützte die Petition, verschärfte ihre Rhetorik und meldete eine Kundgebung vor der Senatsbildungsverwaltung am Vormittag der angekündigten Schul­öffnung an, bei der aller­dings – anstelle einer Präsenz-Kundgebung – auf einer Leinwand Fotos von Protestierenden gezeigt werden sollten. In ihrer Antwort auf eine E-Mail-Flut von Mitgliedern schrieben die beiden Vorsitzenden:

»Viele Kolleg:innen wollen streiken. Streiks sind in der Bundesrepublik allerdings nur dann legal, wenn ihr Ziel in einem Tarifvertrag geregelt werden kann oder es eine tarifliche Regelung zu dem Ziel gibt, die bereits gekündigt wurde. Wir sehen deshalb leider keine Möglichkeit, für besseren Gesundheitsschutz zu streiken, so gerne wir dazu aufrufen würden.«

Zunächst ist es beachtlich, dass eine gewerkschaftliche Landesführung öffentlich zugibt, dass viele Mitglieder sie zum politischen Streik auffordern. Fatal ist aber, dass diese Auf­forde­rung einfach abgetan wurde. Streikbereitschaft ist ein wertvolles und fra­giles Gut. Eine pauschale Absage kann die kampfbereitesten Mitglieder entmutigen und desorientieren. Dem Bedürfnis vieler Beschäftigter nach kollektiver Notwehr hätte ganz anders entsprochen werden müssen. Als Reaktion hätte die Landesführung kurzfristig zu einer Videokonferenz einladen sollen, um mit den Mitgliedern die nächsten Schritte zu diskutieren. Dabei hätte sie auch eine ergebnisoffene Diskussion ermöglichen müssen, zu welchen Schritten die Mitglieder denn bereit wären. Würden sie auch Bußgelder oder Abmahnungen in Kauf nehmen?

Verschiedene alternative Handlungsoptionen hätten sich dabei ergeben können: Beschäftigte können sich in so einer Situation absprechen, vor der Wiederaufnahme des Präsenzbetriebs aktualisierte individuelle Gefährdungsbeurteilungen einzufordern. Die am weitesten gehende Option wäre der Aufruf zum politischen Streik gewesen. In einer Macht­probe mit dem Senat hätte dann dessen mangelnde Fürsorge attackiert werden müssen.

In der Auseinandersetzung um die Schulöffnung ist die Bildungsverwaltung schließlich eingeknickt, weil sie eine massive Unruhe befürchtete. Nachdem die GEW am Donnerstag eindeutig kommunizierte, dass sie nicht zum Streik aufrufen wird, wäre es am Montag wahrscheinlich zu einem weit verbreiteten »Sick out« gekommen, wenn der Senat nicht bereits zurückgerudert wäre. Auch vereinzelte spontane Arbeitsverweigerungen wären möglich gewesen. In jedem Fall hätten betriebliche Aktionen gesellschaftlichen Rückhalt gehabt, wie auch die Unterstützung für die Petition verdeutlicht.

Mehr Mut und Kreativität

Eine Basisbewegung hat hier eine gewerkschaftliche Forderung durchgesetzt, ohne dass sie ihr Potential überhaupt entfaltet hat. Das ist – wenn man sich Arbeitskonflikte gesamt­gesellschaftlich anschaut – ungewöhnlich. In diesem Fall hat es nicht nur mit der Stärke des Protests zu tun, sondern auch damit, dass die Entscheidung zur Öffnung der Schulen bei steigenden Inzidenzwerten in einem Widerspruch zur bundesweiten Pandemiepolitik stand.

Viele GEW-Mitglieder drangen darauf, alle gewerkschaftlichen Machtmittel zu nutzen, oftmals ohne eine klare Vorstellung von den arbeitskampfrechtlichen Umständen zu haben. Die Kolleg:innen mussten dabei die Erfahrung machen, dass die Gewerkschaftsspitze den spontanen Impuls aus der Basis entschieden zurückwies, ohne auch nur in Diskussionen zu gehen. Für einen mittel- und langfristigen Aufbau von Gegenmacht ist die vorgetragene legalistische Haltung und damit der Unwille, um das Recht zu kämpfen, schädlich.

Wir brauchen mehr Vertrauen auf die – auch spontane – betriebliche Initiative. Genau in dieser Hinsicht sind die Erfahrungen der Gorillas-Beschäftigten inspirierend, auch wenn sich viele Rahmenbedingungen, besonders hinsichtlich der institutionellen Machtfülle der beiden Beschäftigtengruppen, unterscheiden. Beschäftigte der öffentlichen Schulen können sich an ihren Personalrat und an den gewerkschaftlichen Rechtsschutz wenden und so oft Probleme lösen. Das sind wichtige Machtressourcen, auch wenn sie eine Stellvertreterhaltung in den genannten Strukturen mit sich bringen. Gorillas-Beschäftigte haben kaum vergleichbare Strukturen, wissen sich aber dennoch zu wehren.

Eine wichtige Gemeinsamkeit der beiden Beschäftigtengruppen ist, dass sie kaum über strukturelle ökonomische Macht verfügen, sondern sich über ihre gesellschaftliche und Diskursmacht durchsetzen müssen. Um diese zu konstituieren, ist es zentral, die Legitimität der eigenen Interessen kommunikativ in der Öffentlichkeit zu verankern.

Als DGB-Gewerkschaften sollten wir uns darauf vorbereiten, bei zukünftigen Ausein­ander­setzungen differenzierter auf die Kampfbedingungen zu schauen. Nicht nur die herrschende Rechtsauffassung ist für Form und Inhalt der Kämpfe relevant. Vielmehr müssen die Legitimität unseres Anliegens und das gesellschaftspolitische Kräfteverhältnis in Betracht gezogen werden, um einschätzen zu können, ob wir uns gegebenenfalls auch gegen eine herrschende Rechtsauffassung durchsetzen und diese damit sogar angreifen und verändern können.

Artikel von Christoph Wälz in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 9/2021

* Christoph Wälz ist Vorsitzender des GEW-Bezirksverbands Berlin-Pankow.

Siehe zum Hintergrund:

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