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(„Berichte aus Brasilia“, Ausgabe 3) Zwischen Inkompetenz in der Bekämpfung der Pandemie, Konflikt zwischen den Institutionen und wachsender Polarisierung

Brasilien: Massenproteste gegen Bolsonaro in 2021Drei Themen dominieren derzeit die brasilianische Politik: Erstens deckt eine parlamentarische Kommission des brasilianischen Senats, die den Umgang der Regierung mit der Pandemie untersuchen soll, ein riesiges Korruptionsnetzwerk im Zusammenhang mit dem Kauf von Impfstoffen auf, an dem Präsident Jair Bolsonaro zumindest indirekt beteiligt ist. Zweitens befindet sich die Popularität von Präsident Bolsonaro eindeutig auf einem Abwärtspfad, und der ehemalige Präsident Luiz Lula da Silva führt alle Umfragen mit mindestens 20 Prozent Vorsprung vor Bolsonaro an. Schließlich sind seit Ende Mai Massenproteste gegen Bolsonaro in allen 26 Landeshauptstädten und mehr als 100 weiteren Städten zur regelmäßigen Erscheinung geworden, wobei es bisher drei große Mobilisierungen gab, an denen jeweils rund 500.000 Demonstranten teilnahmen. (…) In den Gewerkschaften haben Debatten darüber begonnen, wie die organisierte Arbeiterklasse stärker in die Bewegung eingebunden werden kann, und Anfang August wird als möglicher Termin für einen Generalstreik gesehen. Die vier zentralen Forderungen der Demonstranten sind Impfstoffe, Essen auf dem Tisch, eine Wiederbelebung des Corona-Grundeinkommens von 600 R$, das fast das ganze Jahr 2020 hindurch gezahlt wurde, und die Amtsenthebung Bolsonaros...“ Bericht von Jörg Nowak, Dozent an der Universität Brasilia, vom Juli 2021 – wir danken!

Brasilien: Zwischen Inkompetenz in der Bekämpfung der Pandemie,
Konflikt zwischen den Institutionen und wachsender Polarisierung

Drei Themen dominieren derzeit die brasilianische Politik:

Erstens deckt eine parlamentarische Kommission des brasilianischen Senats, die den Umgang der Regierung mit der Pandemie untersuchen soll, ein riesiges Korruptionsnetzwerk im Zusammenhang mit dem Kauf von Impfstoffen auf, an dem Präsident Jair Bolsonaro zumindest indirekt beteiligt ist.

Zweitens befindet sich die Popularität von Präsident Bolsonaro eindeutig auf einem Abwärtspfad, und der ehemalige Präsident Luiz Lula da Silva führt alle Umfragen mit mindestens 20 Prozent Vorsprung vor Bolsonaro an.

Schließlich sind seit Ende Mai Massenproteste gegen Bolsonaro in allen 26 Landeshauptstädten und mehr als 100 weiteren Städten zur regelmäßigen Erscheinung geworden, wobei es bisher drei große Mobilisierungen gab, an denen jeweils rund 500.000 Demonstranten teilnahmen.

Impfstoffbeschaffung und Korruption

Die parlamentarische Kommission des Senats wurde am 13. April 2021 eingesetzt. Einer der wesentlichen Punkte, die früh aufgedeckt wurden, war, dass die Bundesregierung 81 E-Mails des Impfstoffherstellers Pfizer ignorierte, der große Mengen seines Impfstoffs für Ende 2020 zum Preis von 10 US-Dollar pro Dosis angeboten hatte. Ein Vertrag mit Pfizer wurde jedoch erst im März 2021 unterzeichnet, ganze 8 Monate nach der ersten E-Mail von Pfizer an die Bundesregierung.

Mitte Juni 2021 berichtete Luis Ricardo Fernandes Miranda, ein Beamter des Gesundheitsministeriums und Leiter der Logistik für den Einkauf von Impfstoffen, der Kommission, dass es ungewöhnlich viel Druck von seinen Vorgesetzten gegeben habe, den Impfstoff Covaxin von der indischen Firma Bharat Biotech zu kaufen.

Der alarmierendste Punkt war, dass der Preis für diesen Impfstoff mit 15 US-Dollar pro Dosis außerordentlich hoch angesetzt war, höher als jeder andere Impfstoff, der bisher von der brasilianischen Regierung gekauft wurde, und dass der Kauf über eine dritte Firma namens Precisa abgewickelt werden sollte, die in den vergangenen Jahren mit Betrugsfällen in Verbindung gebracht worden war. Dies ließ den Verdacht auf überhöhte Preise aufkommen. Die brasilianische Botschaft in Neu-Delhi hatte im August 2020 in einem Telegramm mitgeteilt, dass der Preis für eine Dosis Covaxin 1,34 US-Dollar betragen würde, zehnmal weniger als der Preis im Vertrag der brasilianischen Regierung.

Im Juni 2021 war der Kauf bereits vereinbart und das Geld eigens dafür zurückgelegt worden, die Transaktion hatte aber noch nicht stattgefunden. Wenige Tage nach den Enthüllungen stornierte die Regierung den Vertrag. Der Skandal brach aus, als Ricardo Miranda berichtete, dass er seinen Bruder, Luis Miranda, über den ungewöhnlichen Kauf informiert hatte.

Luis Miranda ist Parlamentsabgeordneter der Partei „Die Demokraten“, und unterstützt eigentlich die Regierung Bolsonaro. Die Miranda-Brüder trafen sich dann Ende März 2021 persönlich mit Bolsonaro und berichteten ihm von den Unregelmäßigkeiten. In ihrem Gespräch erwähnte Bolsonaro offenbar eine Verbindung, die das Geschäft mit Ricardo Barros von der Partei Progressistas, dem Repräsentanten der Regierung im Kongress, hatte, und versprach den Miranda-Brüdern, diese Informationen an die Bundespolizei zu übergeben, was jedoch nie geschah.

Militärische Einmischung und Amtsmissbrauch

Etwa einen Monat nach Bekanntwerden des Skandal, hat Bolsonaro nicht klar auf die Anschuldigungen der Miranda-Brüder reagiert. Als der Präsident der Parlamentskommission, Omar Aziz von der konservativen Sozialdemokratischen Partei (PSD), Anfang Juli erwähnte, dass eine große Anzahl von Militärs in diesen und andere Korruptionsskandale, die mit dem Kauf von Impfstoffen zu tun haben, verwickelt zu sein scheint, und diese lose Gruppe als die „verkommene Seite des Militärs“ bezeichnete, erhielt Aziz eine scharfe Rüge vom Verteidigungsminister Walter Braga Netto und den drei obersten Armeekommandanten, die ihm in einer offiziellen Erklärung mit Konsequenzen drohten.

Braga Netto, ein Armeegeneral ohne Parteimitgliedschaft, ist einer der engsten Verbündeten Bolsonaros und wird von einigen Kommentator/innen als die mächtigste Person in der Regierung Bolsonaro angesehen. Die gemeinsame Erklärung des Verteidigungsministers und der Armeekommandeure war ein Fall von ungewöhnlicher Einmischung des Militärs in politische Debatten und wurde von einem breiten Spektrum von Politikern mit Sorge betrachtet.

In der ersten Juliwoche wurden Gerüchte, dass die Miranda-Brüder im Besitz einer Aufzeichnung ihres Gesprächs mit Bolsonaro seien, von Abgeordneten bestätigt. Verständlicherweise ist die brasilianische Öffentlichkeit nun begierig, den genauen Inhalt des Gesprächs zu erfahren.

Die Aussage von Aziz über die „verkommene Seite“ des Militärs basierte auch auf der Tatsache, dass die Verhandlungen über Impfstoffe von Oberst Elcio Franco geführt wurden, der bis März 2021 die Nummer zwei im Gesundheitsministerium war. Es gibt Hinweise darauf, dass er etwa 110 Millionen Reals, die für den Kauf von Impfstoffen bestimmt waren, an die Streitkräfte weiterleitete, um Treibstoff und Ersatzteile für Flugzeuge zu kaufen.

Franco behauptet, dass er dafür sorgte, dass die Armee die Logistik für die Verteilung der Impfstoffe bereitstellen kann und daher die Wartung der Flugzeuge organisierte. Es sind diese Verdächtigungen, die die Armee direkt mit Korruption in Verbindung bringen, die die harsche Reaktion des Militärs auf den Kommentar von Aziz erklären.

Bolsonaro selbst ließ die Öffentlichkeit wissen, dass ihm die Parlamentskommission „scheißegal“ sei, und Beobachter kommentierten, dass er offensichtlich nervös werde, selbst für seine Verhältnisse. Bolsonaro fügte hinzu, dass er einer Kommission, die von „drei Gangstern“ geleitet wird, nicht antworten werde.

Einer dieser drei, Renan Calheiros, ein traditionelles Schwergewicht von der konservativen brasilianischen Partei der Demokratischen Bewegung (MDB), antwortete am 10. Juli im gleichen Register mit den Worten „Ich bin kein Spezialist für Anatomie, aber ich denke, dass jemand untersuchen muss, ob nach der Messerattacke gegen Bolsonaro nicht seine Eingeweide direkt mit seiner Kehle verbunden wurden. Nur das könnte seine Fäkalsprache erklären.“  Man erkennt in diesen Äußerungen deutlich die Feindseligkeit, die aktuell die Beziehungen zwischen Teilen der konservativen Rechten und der extremen Rechten beherrscht.

Bolsonaro goes Trump

Parallel zu diesen Entwicklungen rund um Korruption wiederholte und bekräftigte Bolsonaro, dass er das Ergebnis der nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 nur dann anerkennen würde, wenn das Land zu gedruckten Stimmzetteln zurückkehrt, und dass die Wahlen möglicherweise gar nicht stattfinden, wenn die Verwendung von elektronischen Wahlmaschinen beibehalten wird.

Er wiederholte häufig, dass Lula, den er auch gerne den „Neunfingrigen“ nennt, in Anspielung auf einen fehlenden Finger, den Lula bei einem Arbeitsunfall verloren hat, die Wahlen nur durch Betrug gewinnen konnte.

Aufgrund des historisch weit verbreiteten Wahlbetrugs hat Brasilien 1995 ein elektronisches Wahlsystem eingeführt, das als eines der sichersten Wahlsysteme der Welt gilt. Das System ist nicht online und kann daher nicht gehackt werden.

Der Oberste Gerichtshof hat erst kürzlich bestätigt, dass gedruckte Stimmen verfassungswidrig sind. Eine kleine Wahlreform, die 2015 verabschiedet wurde, enthielt den Passus, dass alle Stimmen aus dem elektronischen System ausgedruckt werden sollten und dass alle Wähler vor der Bekanntgabe des Endergebnisses überprüfen sollten, ob dieser Ausdruck repräsentiert, für wen sie gestimmt haben. Die Bundesstaatsanwältin Raquel Dodge initiierte 2018 einen Antrag, diesen Passus für verfassungswidrig zu erklären, da er das Wahlgeheimnis verletzen würde und es ermöglichen würde, zu prüfen, ob Personen, die bei der Stimmabgabe bestochen wurden, tatsächlich so gewählt haben, wie sie es sollten. Am 14. September 2020 bestätigte der Oberste Gerichtshof die Eingabe von Dodge.

Der Leiter des Obersten Gerichts des Wahlsystems, Luis Roberto Barroso, warnte Bolsonaro, dass es ein Verbrechen sei, Wahlen zu behindern.  Bolsonaro reagierte, indem er Barroso einen „Idioten“ und einen Unterstützer von Pädophilie nannte.

Acht führende Parteien von Mitte-Rechts gaben unterdessen eine Erklärung zugunsten des elektronischen Wahlsystems ab, darunter die Demokraten, die PSDB, die MDB, Solidariedade und die Grünen.

Mit seinen Äußerungen zu den Wahlen mobilisiert Bolsonaro bereits Kräfte für einen Angriff auf die demokratischen Institutionen im Stile Trumps. Der Präsident des Senats Rodrigo Pacheco von den Demokraten, aber auch Arthur Lira von der Partei Progressistas, der Präsident des Kongresses, verurteilten die Angriffe Bolsonaros auf das Wahlsystem deutlich.

Kämpfe in und zwischen staatlichen Institutionen

Am 12. Juli erklärte Bolsonaros Vizepräsident, General Hamilton Mourão, dass die Wahlen auf jeden Fall im Jahr 2022 stattfinden werden. Mourão, selbst ein Anhänger der Militärdiktatur, gilt als Sprecher einer wichtigen Strömung in der Armee, die weder fortschrittlich noch demokratisch ist, aber auch nicht den Anspruch erhebt, die herrschende demokratische Ordnung zu verändern. Eine ähnliche Äußerung kam von General Santos Cruz, der eine Zeit lang als Minister für Bolsonaro tätig war.

Die institutionelle Polarisierung zwischen Teilen des Militärs und Teilen des Kongresses sowie zwischen der Regierung und dem Obersten und dem Wahlgericht kommt Bolsonaro sehr entgegen, der nach wie vor einen Bruch mit dem demokratischen System anstrebt – mit dem Ziel, dass das Militär eine Sonderstellung einnimmt und die Exekutive ohne Kontrolle weitgehende Rechte genießt.

Die entscheidende Frage ist, ob Bolsonaro noch genügend Unterstützung für diesen Konfrontationskurs mobilisieren kann. Die Unterstützung für seine Regierung liegt derzeit bei 25 Prozent, die Ablehnung bei rund 52 Prozent, etwas schwächer als die 30 Prozent, die Bolsonaro im Mai 2020 unterstützten, als er erstmals offen gegen das demokratische System zu mobilisieren versuchte.

Anhaltende Straßenproteste und Neuausrichtung bei der Linken

Die Beteiligung an den Massendemonstrationen, die seit Mai 2021 stattfanden, überraschte den linken Kandidaten Lula, der skeptisch war, ob diese genügend Menschen anziehen würden. In der Tat wollte die Führung der Arbeiterpartei (PT) aufgrund der Pandemie nicht zu weiteren Protesten aufzurufen. Doch die Protestbewegung schuf ihre eigene Dynamik. Die Beteiligung an den Demonstrationen hat sich inzwischen eher verbreitert, und für die zweite Julihälfte ist bereits ein vierter Protesttag geplant.

In den Gewerkschaften haben Debatten darüber begonnen, wie die organisierte Arbeiterklasse stärker in die Bewegung eingebunden werden kann, und Anfang August wird als möglicher Termin für einen Generalstreik gesehen. Die vier zentralen Forderungen der Demonstranten sind Impfstoffe, Essen auf dem Tisch, eine Wiederbelebung des Corona-Grundeinkommens von 600 R$, das fast das ganze Jahr 2020 hindurch gezahlt wurde, und die Amtsenthebung Bolsonaros.

Auf der linken Seite des Parteienspektrums gab es einige Umgruppierungen aufgrund eines provisorischen Bündnisses zwischen Lula und der Brasilianischen Sozialistischen Partei (PSB), einer traditionellen Mitte-Links-Partei. Während die Partei Lulas frühere Regierungen unterstützte, unterstützte sie den rechtsgerichteten Kandidaten Aecio Neves in der zweiten Wahlrunde gegen Dilma Rousseff im Jahr 2014 und stimmte für ihre Amtsenthebung im Jahr 2016.

Teile der Partei, vor allem im Süden Brasiliens, sind dezidiert rechts, während ihre traditionellen Hochburgen im Nordosten eher sozialdemokratisch geprägt sind.

Das provisorische Bündnis zwischen PT und PSB führte dazu, dass zwei wichtige linke Kandidaten ihre Parteizugehörigkeit von Parteien, die links von der PT stehen, zur eher gemäßigten PSB wechselten. Marcelo Freixo war 16 Jahre lang Mitglied der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL), einer linken Abspaltung der PT, und verließ die Partei am 11. Juni, um zur PSB zu wechseln. Er wird als gemeinsamer Kandidat der Linken für die Wahlen im Bundesstaat Rio de Janeiro im Jahr 2022 antreten, wo er in den Umfragen mit großem Vorsprung führt.

Ein ähnliches Bündnis kam (noch) nicht im Bundesstaat São Paulo zustande, wo Fernando Haddad von der PT gegen Guilherme Boulos von der PSOL für die Wahlen auf Bundesstaatsebene im nächsten Jahr antreten könnte. Ein gemeinsamer linker Kandidat im Bundesstaat São Paulo würde wahrscheinlich das Gouverneursamt des Bundesstaates gewinnen, was aufgrund der Bedeutung des bevölkerungsreichsten und wohlhabendsten Bundesstaates in Brasilien von extremer Bedeutung wäre. Sollten Haddad und Boulos gegeneinander kandidieren, würde dies den Weg für einen weiteren Staatsgouverneur der Rechten ebnen.

Den zweiten Wechsel in der Parteimitgliedschaft vollzog Flávio Dino, Gouverneur des nordöstlichen Bundesstaates Maranhão, der sich derzeit in seiner zweiten Amtszeit befindet. Der 53-jährige Dino gab nach 15 Jahren am 16. Juni 2021 seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Brasiliens (PCdoB) auf und trat ebenfalls der PSB bei. Die Parteieintritte von Freixo und Dino zielem darauf ab, die PSB in eine Mitte-Links-Partei zu verwandeln, die als stabiler Verbündeter für die PT dienen kann, aber auch in der Lage ist, konservativere Wähler anzuziehen, die zögern, die PT zu wählen.

Diese Entwicklung schwächt eindeutig die Parteiformationen links von der PT, die PSOL und die PCdoB, vor allem durch den Austritt von zwei ihrer politischen Schwergewichte – aber diese beiden Parteien erhalten normalerweise nur sehr geringe Stimmenanteile bei nationalen Wahlen. Ein weiterer bekannter Politiker der PSOL, Jean Wyllys, der aufgrund von Morddrohungen als Kongressabgeordneter zurückgetreten war, verließ die Partei im Mai 2021 und trat der PT bei. Wyllys begründete seinen Parteiwechsel als Reaktion auf die Entscheidung der PSOL, einen eigenen Kandidaten für die Wahlen 2022 aufzustellen, statt Lula zu unterstützen.

Mitte-Rechts gegen Bolsonaro

Das Mitte-Rechts-Spektrum, verkörpert durch verschiedene Parteivehikel, die von den traditionellen Eliten Brasiliens geführt werden, setzt ihre Hoffnungen auf den Niedergang von Bolsonaros Popularität und zielt darauf ab, einen eigenen Kandidaten in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen zu bringen, um Lula zu schlagen.

Während sich diese bei den Wahlen 2018 abgestürzte politische Strömung noch nicht auf einen Kandidaten einigen kann, hat einer ihrer Hoffnungsträger, Sergio Leite von der PSDB und Gouverneur des südlichen Bundesstaates Santa Catarina, einen entscheidenden Schritt gemacht, der ihn in eine gute Position bringen könnte, für die dritte Option zu kandidieren: Er hat sich am 1. Juli offiziell als schwul geoutet, was ihn bei jüngeren Wählern gut platzieren könnte.

Ob es der dritten Option von Mitte-Rechts gelingen wird, Bolsonaro in der ersten Runde der Wahlen aus dem Rennen zu nehmen, wird stark davon abhängen, welchet Kandidat schließlich antritt und wie er bei den Wählern ankommt – bisher sind keine weiblichen Kandidatinnen im Gespräch.

Bolsonaro plant Steuern und Ausgaben

Das größte Problem für Bolsonaro ist indes, dass er kein positives Projekt hat. Der einzige Bereich, in dem er punkten könnte, ist die Wirtschaft, wo zwei Projekte in Planung sind, die dazu dienen könnten, einen Teil seiner Popularität wieder herzustellen.

Das erste Projekt ist die Ausweitung der Anzahl der Empfänger des Sozialtransferprogramms, das als Bolsa Familia bekannt ist, von 15 auf 17 Millionen Empfänger, sowie die Erhoehung des Betrags der Bolsa Familia, der von R$200 auf R$300 steigen würde, wenn alles wie geplant läuft. Bolsonaro will das Programm, das stark mit Lula assoziiert wird, auch umbenennen. Wenn dieser Plan durchgeht, und es ist höchst unklar, ob er durchgeht, ist es eine der wenigen Chancen, die dem derzeitigen Präsidenten bleiben, um wieder auf den Weg zur Wiederwahl zu kommen.

Das zweite Projekt beinhaltet eine Steuerreform. Der von der Steuerbehörde entworfene und vom neoliberalen Wirtschaftsminister Paulo Guedes abgesegnete Plan sieht vor, die Steuern für Unternehmen und Arbeitnehmer zu senken. Um jedoch die Staatsverschuldung nicht nachträglich zu erhöhen, sollen die Mitte der 1990er Jahre abgeschafften Steuern auf Dividenden und Gewinne aus Aktienoptionen wieder eingeführt werden. Die Idee ist, zunächst den Schwellenwert für steuerfreie Löhne von 1900 auf 2500 Real zu erhöhen, was etwa 5 Millionen Arbeiter/innen in diese Gruppe aufnehmen würde, aber auch die Steuern für alle Arbeiter/innen deutlich progressiv zu senken, was die Steuerlast von 31 Millionen Arbeiter/innen reduzieren würde. Eine weitere Idee ist, die Steuern für Unternehmen von 34 auf 21 Prozent zu senken. Die Idee des gesamten Pakets ist, dass es die Steuereinnahmen des Staates weder senken noch erhöhen soll.

Es überrascht nicht, dass es erheblichen Widerstand des Finanzkapitals gegen den Vorschlag gibt, Dividenden zu besteuern. Diese Maßnahme könnte verwässert oder ganz abgeschafft werden. Selbst Anhänger der Chicagoer Schule wie Guedes kommentierten, dass reiche Leute in Brasilien sich schämen sollten, keine Steuern zu zahlen. Er betonte, dass 20.000 Brasilianer etwa 360 Milliarden R$ pro Jahr an Dividenden verdienen, also 0,01 % der Bevölkerung einen mittleren Steuersatz von 1,8 Prozent zahlen. Auf diese Weise zahlt eine Arbeiterin, die 4700 R$ im Monat verdient und 27,5 Prozent Steuern zahlt, prozentual mehr als der Miteigentümer eines Unternehmens, der 350.000 R$ im Monat verdient. Guedes will die Steuern auf Dividenden auf 20 Prozent festlegen. ExpertInnen sagen, dass es sich auch lohnen würde, spezielle Steuergeschenke für verschiedene Wirtschaftssektoren abzuschaffen, die insgesamt 4 Prozent des BIP ausmachen, aber das würde noch mehr Widerstand beim Kapital hervorrufen.

Unterstützung der Bevölkerung für die Demokratie

Ein wirtschaftlicher Erfolg Bolsonaros ist also eine höchst unsichere Wette. Was bleibt, ist auf eine Art von Putsch zu setzen, und dafür wird die Haltung des Militärs entscheidend sein. Es gab verschiedene Fälle, in denen Drohungen von Personen, die als dem Militär nahestehend gelten, Einfluss auf Entscheidungen der Justiz hatten. Am sichtbarsten war dies im Sommer 2020, als es Pläne gab, Bolsonaros Mobiltelefon im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen ihn zu beschlagnahmen. General Augusto Heleno, Chef des Generalamts für Nachrichtendienste, warnte vor den möglichen Folgen eines solchen Vorgehens für die „nationale Stabilität“.

Bolsonaros Telefon wurde nach Helenos Äußerung nicht beschlagnahmt. So werden die Ermittlungen gegen Militärangehörige, die in den Kauf von Impfstoffen durch die Regierung verwickelt sind, ein Testfall für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit des Militärs sein, falls sich das Gesetz gegen einige seiner Mitglieder wendet.

Viele Analysten auf der Linken und auch im liberalen Mainstream glauben, dass Pläne für einen Putsch von Bolsonaro und Teilen des Militärs bereits im Gange sind, aber in jedem Fall wird dies ziemlich riskant sein, wenn die Stimmung in der Bevölkerung so bleibt, wie sie heute ist.

Die letzten Umfragen von Anfang Juli 2021 zeigen, dass 63 Prozent der Bevölkerung denken, dass Bolsonaro unfähig ist, das Land zu führen. 58 Prozent sind der Meinung, dass Militärangehörige keine Posten in der Regierung haben sollten, während 38 Prozent der Meinung sind, dass sie in der Lage sein sollten, solche Posten zu bekleiden.

Eine Wahlumfrage des Instituts Datafolha vom 9. Juli ergab, dass in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 46 Prozent für Lula stimmen würden und 25 Prozent für Bolsonaro. In der zweiten Runde würde Lula 58 Prozent der Stimmen erhalten und Bolsonaro 31 Prozent. 59 Prozent der Wähler würden unter keinen Umständen für Bolsonaro stimmen, im Falle von Lula sind es 37 Prozent.

Das soziale und wirtschaftliche Profil der Wähler/innen ist recht eindeutig. Mehr Unterstützung für Lula als in der Gesamtbevölkerung findet sich in den folgenden Gruppen: Menschen, die bis zwei Mindestlöhne im Monat verdienen, die nur eine Grundausbildung haben, katholisch sind, im Nordosten leben, schwarz oder braunhäutig sind und arbeitslos oder arbeitssuchend sind. Eine Mehrheit für Bolsonaro gegen Lula gibt es nur bei den Unternehmer/innen (52 versus 25 Prozent), der Mittelschicht, die zwischen dem 5- und 10-fachen des Mindestlohns im Monat verdient (41 versus 21 Prozent), und den Reichen, die mehr als das 10-fache des Mindestlohns im Monat verdienen (36 versus 22 Prozent).

Jeder Putschversuch oder eine Blockade der für Oktober 2022 angesetzten Wahlen, wie sie die brasilianische Verfassung vorsieht, müsste sich also gegen eine populäre Mehrheit durchsetzen. Das Militär hat durch seine enge Beziehung zur Regierung Bolsonaro bereits viel Prestige verloren und jeder Versuch eines Bruchs mit der demokratischen Ordnung würde diesen Prozess höchstwahrscheinlich verstärken.

Ein kürzlich in der brasilianischen Finanzzeitung Valor Econômico erschienenes Interview mit einem der einflussreichsten liberalen Ökonomen Brasiliens, Arminio Fraga, verschaffte interessante Einblicke in die Machtverhältnisse hinter einem Putschversuch. Fraga, der von 1999 bis 2003 die Zentralbank leitete, bestätigt, dass Bolsonaro eine echte Bedrohung für die Demokratie ist, aber Fraga glaubt nicht, dass das Militär einen Putsch unterstützen würde. Fraga spricht sich für ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro aus und unterstreicht, dass sich das Kapital an eine neue Präsidentschaft Lulas anpassen wird, während der dritte Weg, dass ein Kandidat der rechten Mitte das Präsidentenamt erringt, eine realistische Option bleiben würde. Der Journalist Luis Nassif fügt in einem anderen Kommentar hinzu, dass die Mittelschicht 1964 einen Putsch voll und ganz unterstützte, dies aber 2022 nicht mehr tun wird.

Herausforderungen für ein drittes Mandat von Lula

Die Volksmassen unterstützen eine Lula-Kandidatur nicht nur wegen der besseren Berechenbarkeit von Lulas Politik, sondern auch wegen der Hoffnung auf eine Rückkehr zu besseren Zeiten an der wirtschaftlichen und sozialen Front. Abgesehen von der Idee, die Situation der armen Bevölkerungsmehrheit durch weniger Steuern und höhere Geldtransfers zu verbessern, hat die Regierung Bolsonaro keine Wirtschafts- und Industriepolitik, die zu einem Anstieg von Beschäftigung und Löhnen führen könnte.

Derzeit sind 14 Prozent der Brasilianer offiziell arbeitslos, 10 Prozent der Bevölkerung hungern und etwa die Hälfte befindet sich in einer Situation der Ernährungsunsicherheit, d.h. die Hälfte der Bevölkerung hat zeitweise nicht genug zu essen.

Etwa die Hälfte der Bevölkerung ist informell beschäftigt und eine steile Inflation bei Grundgütern wie Gas zum Kochen, Bohnen, Reis, Fleisch und Speiseöl trifft auf sinkende Löhne – mit anderen Worten: die Armut nimmt rapide zu. Die Wirtschaftspolitik der Regierung Bolsonaro konzentriert sich bisher vor allem auf den Aufbau neuer Infrastruktur für das wachsende Exportvolumen der Agrarindustrie, einer der Hauptgründe für die steigende Lebensmittelinflation innerhalb Brasiliens. Tatsächlich besteht der „Erfolg“ des brasilianischen Agrarexportmodells, das das Land zum größten Nahrungsmittelproduzenten der Welt gemacht hat, im weit verbreiteten Hunger im eigenen Land.

Die Pandemie, deren (Nicht-)Bewältigung das größte Versagen der Regierung Bolsonaro darstellt, ist zwar etwas zurückgegangen, aber die Zahlen sind mit durchschnittlich 1300 Todesfällen pro Tag immer noch hoch. Dieses Szenario könnte sich im August ändern, wenn sich die Delta-Variante in Brasilien ausgebreitet haben wird und die Zahlen wahrscheinlich wieder ansteigen werden. Obwohl die Impfkampagne endlich an Fahrt aufnimmt, haben bisher nur 15 Prozent der 210 Millionen starken Bevölkerung eine vollständige Impfung erhalten, und die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 nähert sich 550.000.

Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Situation und der schwierigen Lage Brasiliens auf dem Weltmarkt wird eine neue Präseidentschaft von Lula noch weniger Handlungsspielraum haben als die Vorgängerregierungen zwischen 2003 und 2010. Sie wird auch mit einer neu formierten extremen Rechten konfrontiert sein, die über eine gewisse Fähigkeit zur Mobilisierung auf der Straße verfügt. Lula hat das Militär bereits über einen Mittelsmann, einen ehemaligen Verteidigungsminister, wissen lassen, dass er keine Rache gegen Militärkommandanten wegen ihrer Loyalität zu Bolsonaro ergreifen würde, falls Lula Präsident werden sollte. Dieses Manöver sagt auch viel über mögliche Kräfteverhältnisse zwischen den Streitkräften und einer neuen Lula-Regierung aus.

Abgesehen von der Agrarindustrie, der Petrochemie und dem Abbau von Mineralien nimmt Brasilien in keiner fortschrittlichen Industrie eine führende Position ein – mit Ausnahme von flexiblen Motoren für Autos, die zwischen Biodiesel und Benzin wechseln können, in die Volkswagen eine große Neuinvestition plant. Der langfristige Trend zur Deindustrialisierung, der bereits in den späten 1980er Jahren begann, wurde auch von den aufeinanderfolgenden Mitte-Links-Regierungen unter den Präsidenten Lula und Dilma Rousseff nicht aufgehalten.

Der Super-Rohstoffzyklus der 2000er Jahre verstärkte die Abhängigkeit von der Rohstoffnachfrage aus China, das heute der größte Handelspartner Brasiliens ist. Brasilien ist der größte Eisenerz- und Sojaproduzent der Welt, verfügt aber nur über geringe Verarbeitungskapazitäten. Mit anderen Worten: Die wirklichen Konflikte um den Entwicklungsweg des Landes werden erst mit einer neuen Regierung nach Bolsonaro beginnen. Dennoch können diese Konflikte dann zumindest ausgetragen und verschiedene Optionen in der Gesellschaft debattiert werden.

Bericht von Jörg Nowak, Dozent an der Universität Brasilia, vom Juli 2021 – wir danken!

Siehe zuvor:

Siehe auch:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=192078
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