Neue Schätzungen für die Stille Reserve – die Arbeitsmarktlage braucht jede(n)

Dossier

Arbeitsmarktpolitik - Montage von Toldi„Mit dem vorliegenden Bericht werden erstmals Schätzungen für die Stille Reserve zur Diskussion gestellt, die das bisher nur auf Westdeutschland angewandte IAB-Konzept der Stillen Reserve auf Gesamtdeutschland übertragen. (…) Die Abweichung der tatsächlichen Arbeitsmarktlage vom Benchmark führt zur Stillen Reserve. (…) Seit den Hartz-Reformen, also nach 2005, sinkt die gesamtdeutsche Stille Reserve. Sie ging von 1,72 Millionen Personen 2006 auf knapp unter 900.000 im Jahr 2019 zurück. Das Geschlechterverhältnis war zuletzt nahezu ausgeglichen. Fast ein Viertel der Stillen Reserve waren Nichtdeutsche, also deutlich mehr als ihr Bevölkerungsanteil.“ Aus der Kurzzusammenfassung des IAB-Forschungsberichts 6/2021 von Johann Fuchs und Brigitte Weber externer Link – siehe den Forschungsbericht und weitere Infos:

  • Neben knapp 1,5 Millionen Erwerbslosen: 3,1 Millionen Menschen 2024 in Stiller Reserve am Arbeitsmarkt New
    „Im Jahr 2024 wünschten sich in Deutschland insgesamt knapp 3,1 Millionen Nichterwerbspersonen im Alter von 15 bis 74 Jahren Arbeit. Diese sogenannte Stille Reserve umfasst Personen ohne Arbeit, die zwar kurzfristig nicht für den Arbeitsmarkt verfügbar sind und momentan nicht aktiv nach Arbeit suchen, sich aber trotzdem Arbeit wünschen. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) auf der Grundlage des Mikrozensus mitteilt, zählten insgesamt 4,6 Millionen Menschen zum ungenutzten Arbeitskräftepotenzial, das sich aus 3,1 Millionen Personen in Stiller Reserve und knapp 1,5 Millionen Erwerbslosen zusammensetzt. Die Personengruppe der Stillen Reserve lässt sich in drei Kategorien einteilen: Zur ersten Kategorie gehören Personen, die zwar Arbeit suchen, jedoch zum Beispiel aufgrund von Betreuungspflichten kurzfristig (innerhalb von zwei Wochen) keine Arbeit aufnehmen können (Stille Reserve A). Personen der zweiten Kategorie würden gerne arbeiten und wären auch kurzfristig verfügbar, suchen aber aktuell keine Arbeit, weil sie zum Beispiel glauben, keine passende Tätigkeit finden zu können (Stille Reserve B). Die dritte Kategorie umfasst Nichterwerbspersonen, die zwar weder eine Arbeit suchen noch kurzfristig verfügbar sind, aber dennoch einen generellen Arbeitswunsch äußern (Stille Reserve C). Diese Personen sind am weitesten vom Arbeitsmarkt entfernt. Im Jahr 2024 setzte sich die gesamte Stille Reserve aus 380 000 Personen in Stiller Reserve A, 930 000 Personen in Stiller Reserve B und weiteren knapp 1,8 Millionen Personen in Stiller Reserve C zusammen. (…) Deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigten sich bei den Hauptgründen für die Inaktivität am Arbeitsmarkt insbesondere in der mittleren Altersgruppe der 25- bis 59-Jährigen: So gaben 31,3 % beziehungsweise 359 000 der Frauen zwischen 25 und 59 Jahren in der Stillen Reserve an, dass sie aufgrund von Betreuungspflichten derzeit keine Arbeit aufnehmen können. Bei den 25- bis 59-jährigen Männern in der Stillen Reserve traf dies nur auf 4,9 % beziehungsweise rund 35 000 Personen zu. Dagegen spielen gesundheitliche Einschränkungen insbesondere bei Männern mittleren Alters eine bedeutende Rolle, werden aber auch von Frauen dieser Altersgruppe häufig genannt: für 35,5 % der Männer und 22 % der Frauen in der Stillen Reserve war dies der Hauptgrund, nicht auf dem Arbeitsmarkt aktiv zu sein. (…) 58,5 % der Personen in der gesamten Stillen Reserve hatten 2024 ein mittleres oder hohes Qualifikationsniveau, das heißt mindestens eine abgeschlossene Berufsausbildung oder die Hoch-/Fachhochschulreife. Bei den Frauen hatten 61,3 % eine mittlere oder hohe Qualifikation, bei Männern 54,9 %. 41,5 % der Stillen Reserve wiesen 2024 ein niedriges Qualifikationsniveau auf, die Hochqualifizierten machten dagegen einen Anteil von 20,3 % bei der Stillen Reserve aus.“ Destatis-Pressemitteilung Nr. 231 vom 27. Juni 2025 externer Link
  • Frauen an die Arbeitsfront! Das „Fachkräfteland Deutschland“ braucht noch die letzte Frau. Das wird dann sogar als Emanzipationsakt verkauft
    „… Dass nicht alle Frauen voll arbeiten, lässt weder Politiker noch Experten ruhen. Dabei ist es keinesfalls so, dass Frauen nicht ausgelastet wären. Nicht wenige stöhnen über die Doppelbelastung von Haushalt und Beruf. Was aber die Kritiker nicht ruhen lässt, ist die Tatsache, dass Frauen nicht voll dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und damit der Wirtschaft als Gewinnquelle verloren gehen. (…) Und genau deshalb muss auch alles getan werden, damit der wirtschaftliche Druck auf Frauen erhöht wird, sich ganz in den Dienst von Unternehmen und Staat zu stellen. So können sie ihren Beitrag zum Erfolg der Nation abliefern. Und das natürlich – Achtung! – alles im Sinne der Gleichberechtigung, ja als längst notwendiger emanzipatorischer Akt, der endlich die letzten Zöpfe der Adenauer-Ära abschneidet. Weg mit dem Ehegattensplitting. Mit dieser Forderung eröffnete der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil dieses Jahr die Saure Gurken-Saison in den Medien: „Wir haben im Koalitionsvertrag schon festgelegt, dass wir Steuern gerechter verteilen wollen,“ stellte er Anfang Juli fest. „Das jetzige Steuerrecht führe dazu, dass vor allem Frauen eher zu Hause blieben, anstatt zu arbeiten, weil Frauen im Vergleich zu ihrem Partner häufiger weniger verdienen.“ (ZDF 10.7.23) Dieser Kalkulation von Paaren will der oberste Sozialdemokrat ein Ende setzen, was dazu führen würde, dass sie steuerlich stärker belastet würden. So buchstabiert sich Steuergerechtigkeit Anno Domini 2023! Für sich genommen natürlich wieder ein Lehrstück in Sachen sozialer Gerechtigkeit: Dass es einige Leuten besser geht, zeigt sofort an, dass man ihnen etwas wegnehmen kann. (…) „Die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, möchte die Witwenrente abschaffen – in ihrer jetzigen Form. Stattdessen setzt sie auf Rentensplitting. Die große Babyboomer-Generation erreicht das Rentenalter – damit droht der Wirtschaft ein Fachkräftemangel und dem Rentensystem eine gewaltige Belastung. Die Ökonomin und Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, setzt sich deshalb für die Abschaffung der sogenannten Witwenrente ein. Statt der aktuellen Form schlägt sie eine andere Regelung vor: das sogenannte Rentensplitting. Gegenüber dem Spiegel begründete die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen ihre Position so: ‚Die jetzige Regelung reduziert die Anreize, eine Beschäftigung aufzunehmen‘.“ (Frankfurter Rundschau, 11.7.23) Während die jetzige Regelung der Frau oder dem Mann lebenslang 55 bzw. 65 Prozent der Rente des verstorbenen Partners sichert, soll beim Rentensplitting nur dann ein Anspruch auf einen Teil der Rente des Partners bestehen, wenn der oder die Überlebende während der Ehe selber gearbeitet und in die Rentenversicherung eingezahlt hat. (…) So geht sie eben die Befreiung der Frau von Mann und Herd. Es wird alles getan, damit sie gezwungen ist, für sich selber zu sorgen und sich Arbeitgebern anzudienen. Und neben der Lohnarbeit bleiben die Notwendigkeiten des Alltags trotzdem erhalten in Form von Einkaufen, Waschen, Putzen, Kindererziehen usw. – auch wenn der Partner mithilft. So werden Frauen aus ihren subalternen Rollen befreit. Sie sind nicht länger „Reproduktionsgehilfinnen“ des erwerbstätigen Ehemannes, wie es bei Friedrich Engels zu Beginn der kapitalistischen Ära hieß. Sie sind frei und unabhängig und haben keinem Herrn zu dienen – außer dem Erfolg der Nation, der auf dem Arbeitsmarkt und noch an einigen anderen Fronten erstritten wird.“ Beitrag von Suitbert Cechura vom 16. Juli 2023 bei Telepolis externer Link
  • Für die Lohnarbeit unabdingbar: Die akribische Suche nach jedem einzelnen erwerbsfähigen Menschen zur Hege der „Stillen Reserve“ auf dem Arbeitsmarkt 
    „Seit vielen Generationen hat die organisierte Unternehmerschaft den Grundsatz verinnerlicht, dass Mehrwert allein durch Lohnarbeit geschaffen wird. Deshalb ist sie stets darum bemüht, genau zu wissen, mit wie vielen potenziell lohnabhängigen Beschäftigten zu rechnen ist und welche Reserven zur möglichen Mobilisierung zur Verfügung stehen. Die Arbeitsverwaltung wird permanent beauftragt, alle Bewegungen und Bestände am Arbeitsmarkt angemessen zu erfassen und auch die Reserve an Arbeitskräften im Auge zu haben. Falls harte Fakten nicht ermittelt werden können, greift man auch auf Prognosen und Schätzungen zurück, denn es darf auf keinen Fall passieren, dass der Strom der lohnabhängigen Menschen als Arbeitskräfte versiegt. Trotz hoher Arbeitslosigkeit und der Tatsache, dass immer mehr Menschen durch Maschinen ersetzt werden, war in der Nachkriegsgeschichte die Gesamtzahl der Erwerbsbevölkerung nie größer als heute und noch nie gingen mehr Menschen einer Lohnarbeit nach als heutzutage. Auch die Stille Reserve, die kontinuierlich bei über zwei Millionen Arbeitskräften liegt, muss berücksichtigt werden, andernfalls unterschätzt man die Gesamtzahl des potenziellen Arbeitskräfteangebots und weiß nicht, wie groß die hiesige industrielle Reservearmee ist. Dieses Wissen ist einerseits die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der stetigen Konkurrenz unter beschäftigten und erwerbslosen Menschen, die erst niedrige Löhne und niedrige Sozialleistungen ermöglicht und soll andererseits die wichtige Funktion und Fähigkeit der Gewerkschaften, die Arbeitskraft zu kartellieren, torpedieren. (…) Hinzu kommt, dass die Menschen, die der Stillen Reserve zugerechnet werden überwiegend im unentgeltlichen Sorge/Carebereich arbeiten und dort eine auch für Staat und Unternehmerschaft wichtige Dienste leisten. Der Unterschied zu anderen Beschäftigungssektoren besteht darin, dass die Care-Arbeit wichtig für die Wirtschaft hierzulande insgesamt ist, da sie erst die Erwerbstätigkeit vieler Menschen ermöglicht und so die Voraussetzungen für die Produktion überhaupt erst schafft. Die Tätigkeitsweisen von sachbezogener Produktionsarbeit und interpersonaler Reproduktionsarbeit ist jedoch völlig unterschiedlich. Die auf der Schaffung von Waren gerichtete Lohnarbeit unterliegt einer Zeitsparlogik, nach der in immer kürzerer Zeit immer mehr aus der Arbeitskraft herausgeholt wird, während die auf Personen gerichteten Care-Tätigkeiten sich mehr auf eine Zeitverausgabungslogik ausrichtet, also sich Zeit für den Aufbau und die Pflege interpersonaler Beziehungen nimmt. Der Staat hat die Investitionen und Schaffung der Rahmenbedingungen in diese Voraussetzungen übernommen, die aus den Steuern und Abgaben generiert werden. Die Unternehmen halten sich dabei vornehm zurück, weil solche Ausgaben den Profit verringern und Investitionen in den Care-Bereich sich erst in vielen Jahren rentieren. Genauso so wie sich nicht bestätigt hat, dass der Gesellschaft die Arbeit ausgeht scheint es bei uns auch keine „überflüssigen und nicht verwertbaren“ Menschen zu geben, wie uns die Stille Reserve auf dem Arbeitsmarkt zeigt.“ Beitrag vom 29. März 2023 im gewerkschaftsforum.de externer Link
  • der 61-seitige Forschungsbericht steht als kostenloser Download externer Link zur Verfügung
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=191245
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