Niedriglöhne im digitalen Sektor: Das Bürgertum und seine Diener

J'ai (très) mal au travail. Ein 90minütiger Dokumentarfilm über die moderne Arbeitsorganisation und ihre GefahrenLieber outsourcen als selbst kochen und putzen. Neben der digitalisierten Welt entsteht eine neue Klasse unterbezahlter Helfer. (…) Die Anbieter digitaler Dienstleistungen sind oft Monopole, manchmal auch Duopole oder Oligopole. (…) Was die Buchung solcher Dienste per App so verlockend macht, ist nicht nur der Komfort der Dienstleistung selbst, sondern schon der Komfort ihrer Anbahnung, das Reibungslose und angenehm Unpersönliche der Transaktion. All diese neuen Plattformgeschäfte verkaufen, so Joseph Vogl in „Kapital und Ressentiment“ externer Link, „Autofahrten ohne den Besitz von Fahrzeugen, Unterkünfte ohne Immobilienbesitz, Raumpflege ohne Putz­eimer, Mahlzeiten ohne Küchenmobiliar oder Flugreisen ohne Wartung und Betrieb von Flugapparaten“. (…) In dieser digitalen Servicewelt werden nur einige wenige Gründer reich. Ihr Personal dagegen besteht überwiegend aus schlecht bezahlten und prekär beschäftigten Fußsoldaten. Manche fühlen sich deshalb an feudalistische Zeiten erinnert. (…) aber die von ihnen „ausgebeuteten“ Leichtlohnbelegschaften sind weder Vasallen noch Knechte. Es handelt sich vielmehr um Servicekräfte, die ihrerseits gern konsumieren. (…) ist es gut, wenn alternative Anbieter die Oligopole schwächen. Noch besser wäre es allerdings, wenn weniger bestellt würde. Wir, die Kunden, haben es in der Hand, bei wem wir bestellen. Und ob wir überhaupt bestellen.“ Essay von Christoph Bartmann vom 6.6.2021 in der taz online externer Link. Siehe zum Thema:

  • Gorillas, Lieferando und Co.: Die Mittelschicht bestellt, das Prekariat liefert New
    Liefern lassen macht das Leben leichter, keine Frage. Doch im Boom der Lieferandos, Gorillas und Co. wird auch ein neuer Klassenkonflikt deutlich, meint Ann-Kristin Tlusty. Der wird aber nicht dadurch gelöst, dass man nicht mehr dort bestellt. (…) „Menschen haben ein Recht auf Faulheit“, äußerte Nazim Salur, Gründer des türkischen Lieferdienstes Getir, kürzlich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, und genau diese Haltung ist es, die die betont juvenilen Werbekampagnen der Anbieter transportieren. Kühlschrank leer? Flink’s dir. Doch längst nicht allen steht diese kostspielige Mentalität offen. Vielmehr zeigt sich in der Welt der fix apportierten Mahlzeiten eine Klassenkonfrontation: Die einen bestellen, die anderen liefern. Diese Entgegensetzung entspricht der Diagnose des Soziologen Andreas Reckwitz, nach der sich die Mittelklasse zunehmend in eine gutsituierte, akademische neue Mittelklasse und eine prekarisierte, oftmals migrantische „service class“, also Dienstleistungsklasse, aufteilt. In den urbanen Ballungszentren träfen diese beiden Klassen aufeinander, so Reckwitz.
    Der kollektive Fahrstuhleffekt, mit dem die Soziologie in den Achtzigerjahren noch beschrieb, wie die Klassengesellschaft gemeinsam eine Etage höher fahre, ist demnach längst passé. Vielmehr sei ein Paternostereffekt zu beobachten: Während die einen aufsteigen, steigen die anderen ab. (…) Sollte die neue Mittelklasse nun also schleunigst aufhören, den Gang in Supermarkt und Restaurant outzusourcen? Macht sich mitschuldig, wer bei Flink und Co. bestellt und das schlechte Gewissen bestenfalls mit etwas Trinkgeld kompensiert? Einerseits: Natürlich. Andererseits kann man es niemandem verübeln, nebst Vierzig-Stunden-Woche und etwaiger Sorgearbeit auf die lebensvereinfachenden Möglichkeiten der Gig Economy zurückzugreifen. Eine Konsum- und Lifestylekritik würde hier zu kurz greifen – denn wie so oft ist die Idee gut und lediglich die Umsetzung miserabel. Mit weniger Zeitdruck, Schlechtwetterzuschlag, guter Arbeitsausrüstung und vor allem: festen Beschäftigungsverhältnissen, Tarifverträgen und einem angemessenen Stundenlohn könnte die Lieferbranche Beschäftigten faire Konditionen bieten. (…) Nicht zuletzt aus diesem Grund versuchen Zusammenschlüsse wie das Berliner Kurierkollektiv Khora, Essenslieferungen genossenschaftlich zu organisieren. Denn Menschen haben nicht nur ein Recht auf Faulheit, sondern vor allem auf würdevolle Arbeitsbedingungen.“ Ein Standpunkt von Ann-Kristin Tlusty vom 09.11.2021 beim Deutschlandfunk Kultur externer Link
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=190652
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