Was wusste der (hessische) Verfassungsschutz? Erkenntnisse zu NSU/Rechtsterroristen im Geheimdossier

Dossier

Vom Rechtsextremismus zum Rechtsterrorismus – die NSU-„Affäre“„… Die Akten der Abteilung Beschaffung, also jener Mitarbeiter, die etwa mit den V-Leuten zu tun haben, weisen „insbesondere für die 1990er Jahre Defizite auf“, heißt es im Bericht. Ausgerechnet also in jener Zeit, die nicht für den NSU, sondern auch für die Entwicklung des Rechtsterrorismus insgesamt von entscheidender Bedeutung war. (…) Außerdem werden mehr als 540 Aktenstücke vermisst: Ihr Verbleib konnte zunächst „nicht geklärt werden“. Im Laufe der Jahre taucht zumindest ein Teil wieder auf. (…) „Außerdem fielen zahlreiche Hinweise auf Waffenbesitz von Rechtsextremisten an, die zum Zeitpunkt des Informationsaufkommens in der Regel nicht bearbeitet worden waren.“ Waffen also in Händen von Neonazis – und keiner geht dem nach. (…) Im Kern macht der Geheimbericht zweierlei deutlich: zum einen, wie viele Informationen dem hessischen Dienst vorlagen – über Terrorkonzepte, Bewaffnung, Untergrundbestrebungen –, und zum anderen, wie gefährlich fahrlässig damit umgegangen worden ist…“ Artikel von Martín Steinhagen vom 20. April 2021 in der Zeit online externer Link, siehe dazu:

  • Der Verfassungsschutz brachte V-Mann Kai D. ins direkte Umfeld der NSU, er sammelte auch Daten von Linken in Nürnberg New
    „… Haben die Sicherheitsbehörden im Freistaat einen Spitzel direkt ins Umfeld des späteren NSU-Kerntrios heranspielen können, der auch den links-alternativen Szene-Treff im früheren Kultur- und Kommunikationszentrum „KOMM“ in Nürnberg ausspioniert hat? Dem zweiten Untersuchungsausschuss im bayerischen Landtag zu den Morden der rechtsextremen Terrorzelle NSU liegen dazu Dokumente vor. (…) Dem V-Mann Kai D. (59), der heute im Raum Nürnberg lebt und der in den 1990er Jahren bis in die späten 2000er Jahre als wichtiger Zuträger bei bayerischen wie auch anderen Behörden geführt wurde, werden in den Abschlussberichten des jetzt zu Ende gehenden Ausschusses lange Passagen gewidmet. Seine Rolle ist umstritten. Der Verfassungsschutz hat mit der Herausgabe von seitenweise geschwärzten Akten dazu beigetragen, dass D.’s genauer Einsatz im Dunkeln bleibt. (…) Kai D. hat, so viel steht inzwischen fest, als „Gausekretär“ von Franken, wie er sich bei seiner Vernehmung im Untersuchungsausschuss selbst bezeichnete, in der rechtsextremen Szene die Kontakte zu Neonazis in Thüringen hergestellt. Dort formierte sich in den 1990er Jahren der gewaltbereite „Thüringer Heimatschutz“, aus dem später der terroristische NSU um Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe hervorgegangen ist. (…) Deshalb ist besonders brisant, dass D. auch die links-alternative Szene in Nürnberg ausspioniert hat. Er gab im Ausschuss zu, dass er selbst im früheren „KOMM“ am Hauptbahnhof gewesen ist. Im ehemals selbstverwalteten Kommunikationszentrum, dem heutigen Künstlerhaus, hielten sich damals auch linksautonome Gruppen auf. D. sammelte dort Namen und Adressen von Antifaschistinnen und Antifaschisten, vor allem von jenen, die Busreisen für große Demonstrationen organisierten. Etwa, um gegen die Rudolf-Heß-Gedenkmärsche von Neonazis zu demonstrieren: Kai D. wiederum gehörte dem „Aktionskomitee Rudolf Heß“ an und war 1996 Mitorganisator eines Umzugs für die rechte Szene in Worms. Auf diesem Heß-Gedenkmarsch liefen auch Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt mit. (…) D. soll Namen, Bilder und Adressen der Linken nicht nur an den Verfassungsschutz, sondern auch an einen Nürnberger Anti-Antifa-Aktivisten und Rechtsextremen weitergeleitet haben, der sie in der Zeitschrift „Der Einblick“ veröffentlichte, mit dem Hinweis, den „politischen Gegner ausschalten“ zu wollen. D. bestreitet das, Ausschussmitglieder sehen dies aber als realistisch an. Und: D. schleuste mit der Aktivistin Silke W. einen Spitzel in die linksextreme Szene ein, wie er zugab. Auf die Frage des Vorsitzenden Schuberl, ob der Verfassungsschutz für die Daten aus dem linken Bereich dankbar gewesen sei, sagte Kai D.: „Er hat sich nicht beklagt.“ Es habe zu seiner Pflicht gehört, diese Informationen weiterzugeben. Jedoch habe er seine Spitzel sofort abziehen müssen, als der Geheimdienst davon erfahren habe. Die Namenssammlung habe er auch an den niederländischen Neonazi-Führer Eite Homann sowie an den damaligen deutschen Neonazi-Führungskader Christian Worch nach Hamburg geschickt…“ Beitrag vom 28. Juli 2023 bei BR24 externer Link („Wie nah ein V-Mann am NSU-Kerntrio war“)
  • Liste mit Sprengkraft: Drei Seiten Zündstoff zum NSU 
    „Eine Liste von Neonazis, die per Bus nach Ungarn fuhren, liefert Spuren mit mehr Sprengkraft als der von Böhmermann im Vorjahr geleakte NSU-Report, den Hessens Verfassungsschutz zuerst 200 Jahre geheim halten wollte. Kommt nun doch noch der Durchbruch zum Motiv für den Polizistinnenmord? Max-Florian Burkhardt lautete der Aliasname, den der Rechtsterrorist Uwe Mundlos vor seinem Tod 2011 mehr als 13 Jahre lang nutzte – im „Nationalsozialistischen Untergrund“, kurz NSU. Bei Wohnungsmietungen hieß Mundlos so, bei Konteneröffnung, im alltäglichen Umgang. Im bayrischen NSU-Untersuchungsausschuss sagte jetzt der hinterm Alias stehende, echte Max-Florian Burkhardt als Zeuge aus. (…) Während der bayerische NSU-Untersuchungsausschuss sich eingehend mit Burkhardts gemeinsamer Zeit mit dem Trio befasste, gibt es genau an diesem Punkt im NSU-Komplex noch einen Ermittlungsstrang. Dieser Strang beleuchtet Max-Florian Burkhardts Abwesenheit an jenem 13. Februar 1998, als das Trio seine Wohnung bezog. Max-Florian Burkhardt war mit Szenekameraden nach Ungarn gefahren zu einem europaweit ausstrahlenden Neonazi-Event. Knapp 50 Neonazis aus Sachsen, Thüringen und Bayern fuhren gemeinsam im Reisebus zum sogenannten „Tag der Ehre“ in Budapest, einem Gedenken für Angehörige der Waffen-SS. Nahe Regensburg gab es einen unfreiwilligen Zwischenstopp. Die Polizei hielt den Bus an. Die Kripo nahm von allen 48 Fahrgästen Personalien auf. Die Liste der damals festgestellten Personen liegt der „Freien Presse“ vor. Sie kommt in dem mehrere Millionen Seiten umfassenden Akten-konvolut zum NSU-Komplex nur ein einziges Mal vor. Doch steckt in ihren drei Seiten mehr Zündstoff als in jenem 173 Seiten umfassenden NSU-Geheimreport, den der hessische Verfassungsschutz zunächst für 200 Jahre hatte unter Verschluss halten wollen und den Jan Böhmermann nach Senken der Geheimhaltungsfrist auf reguläre 30 Jahre veröffentlichte. Wiederum vorfristig. Neudeutsch gesprochen: Im Vorjahr leakte der TV-Moderator diesen Report. Warum die Bus-nach-Ungarn-Liste mehr Zündstoff birgt? Sie nennt sechs Personen, deren Hilfen für den NSU – 1998 bereits erfolgt oder später folgend – von enormer Wichtigkeit waren. Hinter den Namen stehen Helferdienste von Anschlägen oder Morden. Andere sind personalisierte Puzzlestücke, um Motive im NSU-Komplex zu verstehen. Dass NSU-Kontakte und -Helfer aus Thüringen, Sachsen und Bayern schon 1998 so eng vernetzt waren, legt eines nah: Auch die Taten des NSU waren szenebekannt und -gestützt. (…) Und dann ist da Marcel D. aus Gera. Der Thüringer Sektionschef der im Jahr 2000 bundesweit verbotenen Neonazi-Bewegung „Blood & Honour“ (B&H) hatte die Busreise nach Ungarn überhaupt erst organisiert. (…) Tage, bevor man im September 2000 das bundesweite Verbot von „Blood & Honour“ mit groß angelegten Polizeirazzien durchsetzte, war der Thüringer B&H-Chef Marcel D. davor gewarnt worden – vom Thüringer Verfassungsschutz. Marcel D. war V-Mann. Effekt: Bei der Razzia zum Verbot fanden die Polizisten bei Marcel D. eine „klinisch saubere“ Wohnung vor, wie sie sagten. Drei Tage vor den Razzien zum Durchsetzen des Verbots geschah in Nürnberg an Blumenhändler Enver Simsek der erste von neun Morden der Serie. Hatte Marcel D. oder „V-Mann Hagel“, wie er für seine Dienstherren beim Thüringer Verfassungsschutz hieß, sein Vorwissen über Razzien und Verbot an die Chemnitzer Helferszene weitergegeben? Und damit ans NSU-Trio? Das Indiz dafür lieferte der zweite Mord. Gegen das B&H-Verbot ging Marcel D. gerichtlich vor – und scheiterte. Am 13. Juni 2001 erklärte das Bundesverwaltungsgericht das Verbot für rechtens und unanfechtbar. Noch am selben Tag geschah in Nürnberg der zweite Ceska-Mord…“ Beitrag von Jens Eumann vom 1. April 2023 bei knack.news externer Link
  • Die „NSU-Akten“ befreit: FragDenStaat und das ZDF Magazin Royale veröffentlichen, was der Verfassungsschutz 120 Jahre geheim halten wollte 
    Die Geschichte des NSU ist auch eine Geschichte der jahrelangen Vertuschung beim Verfassungsschutz. FragDenStaat und das ZDF Magazin Royale veröffentlichen jetzt Geheimdokumente, die vielleicht nur deshalb geheim sind, weil sie ein schlechtes Licht auf den Verfassungsschutz werfen: Hier sind die „NSU-Akten“…“ Aktionsseite externer Link mit der Vorgeschichte und dem Videobeitrag der Sendung sowie natürlich dem Leak samt Zusammenfassung der Inhalte. Siehe auch:

  • Hessen: Sonderermittler soll NSU-Akten einsehen: Eine Petition verlangt die Veröffentlichung von Dokumenten des hessischen Verfassungsschutzes 
    „… Der Kampf um die so genannten „NSU-Akten“ ist zu einem Symbol dafür geworden, wie offen die hessische Landesregierung mit Versäumnissen der eigenen Verfassungsschutzbehörde umgeht. Nun haben CDU und Grüne in Hessen einen neuen Weg vorgeschlagen, wie die Öffentlichkeit mehr darüber erfahren kann, ohne dass der Geheimschutz verletzt wird. (…) Ein Sonderbeauftragter des Parlamentarischen Gremiums zur Kontrolle des Verfassungsschutzes solle die Dokumente sichten „und etwaige offene Fragen bestmöglich beantworten“, kündigten Grünen-Fraktionschef Mathias Wagner und der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Holger Bellino, am Donnerstag in einer gemeinsamen Presseerklärung an. Sie schlugen auch eine Person für diese Aufgabe vor: den früheren hessischen Justiz-Staatssekretär Rudolf Kriszeleit. Da das Parlamentarische Gremium geheim tagt, fügten die Politiker von CDU und Grünen noch hinzu: „Über das Ergebnis der Arbeit des Sachverständigen soll in geeigneter Form auch die Öffentlichkeit informiert werden.“ Sie sehen darin „einen klaren Schritt auf die Petentinnen und Petenten zu“. (…) Der Journalist Martín Steinhagen hat sie aber für sein Buch „Rechter Terror“ einsehen können. Er beschreibt, dass beim hessischen Verfassungsschutz viele Informationen über Terrorkonzepte und Bewaffnung der rechten Szene vorlagen, aber fahrlässig mit ihnen umgegangen worden sei. (…) Ayse Gülec und Miki Lazar aus Kassel, die die Petition mit anderen zusammen angestoßen hatten, sehen keine Bewegung bei ihrem Anliegen. Die mögliche Berufung eines Sonderermittlers Kriszeleit wäre aus ihrer Sicht „weiterhin nur Zeitschinden“, wie sie der FR sagten. Ihr Ziel sei weiterhin die Veröffentlichung der Akten…“ Artikel von Pitt von Bebenburg vom 20. Januar 2022 in der Frankfurter Rundschau online externer Link
  • »Petition für die sofortige Freigabe der NSU-Akten« vom Petitionsausschuss des hessischen Landtags abgelehnt 
    „… Die »Petition für die sofortige Freigabe der NSU-Akten« wurde mittlerweile von rund 130.000 Menschen unterschrieben, vergangenen Mittwoch war sie Thema im Petitionsausschuss des Landtags. In den Akten sind Verfehlungen hessischer Behörden im Zusammenhang mit der Neonazimordserie dokumentiert. Ursprünglich wurden die Papiere bis ins Jahr 2134 gesperrt. Begründung: Schutz von V-Leuten und deren Angehörigen. Später wurde diese Frist von 120 auf 30 Jahre gesenkt. Das Ergebnis im Petitionsausschuss: Die Abgeordneten von CDU und Grünen – beide Parteien stellen die Landesregierung – bügelten das Vorhaben ab…“ Aus dem Artikel „Luftnummer des Tages: Hessische Grüne“ von Jan Greve in der jungen Welt vom 18.05.2021 externer Link – siehe zum Hintergrund:

    • [Petition] Hessischer Landtag: Geben Sie die NSU-Akten frei! Gemeinsam gegen Rechtsextremismus!
      Spätestens mit dem feigen Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke ist klar: Die Politik ist gefordert, die NSU-Akten, die der hessische Verfassungsschutz anfangs für 120 Jahre unter Verschluss gestellt hat, öffentlich zugänglich zu machen! Allein in Hessen stehen aktuell 38 Polizist*innen wegen rechtsextremer Umtriebe unter Verdacht. Ebenfalls in Hessen leben bundesweit vernetzte rechtsextreme Personen. Anders ist nicht zu erklären, wie die schreckliche Mordserie des NSU in Kassel schon einmal ein Todesopfer, den 21 Jahre alten Halit Yozgat, fordern konnte. Wir dürfen nicht zulassen, dass Rechtsextreme wie Stephan E. sich weiter vernetzen, ihre menschenfeindliche Hetze und Gewalt verbreiten und brutale Morde begehen!...“ Petition be change.org der Gruppe zur Freigabe der NSU-Akten externer Link, siehe auch:
    • Was wusste der Verfassungsschutz?
      Eine Petition fordert die Veröffentlichung des hessischen Verfassungsschutzberichtes. Darin geht es um die eigene Verstrickung in den NSU-Skandal.(…) Die Verbindung zwischen den beiden Mordfällen bezeugt das Hessische Landesamt für Verfassungsschutz mit einem Bericht, der das eigene Versagen rund um den NSU aufdecken soll. Er enthält unter anderem auch den Namen des Mörders von Walter Lübcke mehrfach. Und der Journalist Martín Steinhagen, der für sein Buch „Rechter Terror“ intensiven Einblick bekommen hat, schreibt: „Das Amt war nicht, wie es oft heißt, auf dem rechten Auge blind. Die Vielzahl an Funden zeigt, dass teils brisante Hinweise bei den Verfassungsschützern ankamen. Sie wurden aber offenbar nicht analytisch eingeordnet, falsch bewertet, und es wurde nicht entsprechend gehandelt.“ Weil der Bericht politisch brisant sei, aber für 30 Jahre der Geheimhaltung unterliegt, hat nun Miki Lazar gemeinsam mit weiteren Bürger*innen aus Kassel eine Petition zur sofortigen Veröffentlichung ins Leben gerufen. Mit dieser Petition befasst sich jetzt der Hessische Landtag. Nach einer nichtöffentlichen Sitzung in der vergangenen Woche debattieren die Abgeordneten erneut im großen Plenum, die Landtagssitzung am kommenden Mittwochabend wird auch als Livestream übertragen. Das weitere Vorgehen hängt auch von den Grünen ab, die gemeinsam mit der CDU die Landesregierung bilden. Entsprechende Erwartungen der Petition*istinnen wurden bereits enttäuscht – von verschiedenen Parteiebenen wurde zwar Anerkennung für das Anliegen geäußert, eine Unterstützung wurde aber aus Gründen der Koalitionstreue bislang verweigert…“ Artikel von Christoph Sommer vom 14.5.2021 in der taz online externer Link
  • Der Artikel von Martín Steinhagen vom 20. April 2021 in der Zeit online externer Link ist ein überarbeiteter und gekürzter Auszug aus dem Buch „Rechter Terror: Der Mord an Walter Lübcke und die Strategie der Gewalt“ externer Link des Autors, das am 21. April 2021 im Rowohlt Verlag zum Preis von 18 Euro (304 Seiten) erscheint

Siehe u.a. zum Thema im LabourNet Germany:

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=189168
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