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Die Angst überwinden. Wie wir handlungsfähig werden

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitWas ist die wichtigste Fähigkeit der Arbeiterbewegung? Es ist nicht die Fähigkeit, einen Tarifvertrag auszuhandeln, Schutz am Arbeitsplatz zu bieten oder höhere Löhne zu erkämpfen, auch wenn diese Aspekte wichtig sind. Die wichtigste Gabe aber ist ein Weg aus der Angst. Sobald wir diesen Weg vor uns sehen können, kann der echte Kampf beginnen. Aber die Frage ist, wie wir ihn – besonders in diesen finsteren Zeiten – finden. Aktuell fühlt es sich an, als ob Angst uns ausfüllt. Trotz der gärenden Unzufriedenheit über die Gefahren, denen Chefs und die Regierung uns während der Pandemie ausgesetzt haben, verschmolz diese von vielen geteilte Wut nicht zu gemeinsamer Macht am Arbeitsplatz. Ja, die ArbeiterInnen sprechen miteinander – beschweren sich, bemitleiden sich – und Beispiele für kollektives Handeln nehmen deutlich zu. Aber Angst, Verwirrung und Täuschung wirken zusammen und zersplittern die Macht, die wir haben könnten. (…) Wer also am Arbeitsplatz organisieren will, sollte zunächst den KollegInnen helfen, den Weg aus der Angst zu finden. Beschuldige und verurteile sie nicht, gib sie nicht auf, weil sie Angst haben – hilf ihnen, die Angst zu überwinden. Dies kann ein langer und holpriger Prozess sein. Radikale Geduld – die Geduld, auch angesichts von Enttäuschungen standhaft zu bleiben – wird der Schlüssel dazu sein. (…) Die Angst, mit KollegInnen zu sprechen, ist die wesentlichste Angst, die es zu überwinden gilt – denn sobald diese Aktion beginnt, hat die Dynamik des Aufbaus von Macht eingesetzt und weitere Maßnahmen werden gemeinsam ergriffen. Das ist das beste Gegengift gegen Angst.“ Artikel von Ellen David Friedman, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 11/2020 in der Übersetzung durch Stefan Schoppengerd aus der Oktober-Ausgabe der Labor Notes:

Die Angst überwinden

Wie wir handlungsfähig werden – Von Ellen David Friedman*

Die USA sind ein Land, das reich ist an vernünftigen und mutigen Menschen, an entschlossenen Genossinnen und Genossen, aus deren Erfahrungsschatz die emanzipatorischen Bewegungen in Europa viel lernen können. Wer’s nicht glaubt, werfe zum Beispiel regelmäßig einen Blick in die Zeitschrift Labor Notes, die dieser Tage ihren 50. Geburtstag begeht, und der wir auch die folgende Rückbesinnung auf elementare Tugenden, auf das Einfache, das manchmal gar nicht so schwer zu machen ist, entnommen haben.

 

Was ist die wichtigste Fähigkeit der Arbeiterbewegung? Es ist nicht die Fähigkeit, einen Tarifvertrag auszuhandeln, Schutz am Arbeitsplatz zu bieten oder höhere Löhne zu erkämpfen, auch wenn diese Aspekte wichtig sind.

Die wichtigste Gabe aber ist ein Weg aus der Angst. Sobald wir diesen Weg vor uns sehen können, kann der echte Kampf beginnen. Aber die Frage ist, wie wir ihn – besonders in diesen finsteren Zeiten – finden.

Aktuell fühlt es sich an, als ob Angst uns ausfüllt. Trotz der gärenden Unzufriedenheit über die Gefahren, denen Chefs und die Regierung uns während der Pandemie ausgesetzt haben, verschmolz diese von vielen geteilte Wut nicht zu gemeinsamer Macht am Arbeitsplatz. Ja, die ArbeiterInnen sprechen miteinander – beschweren sich, bemitleiden sich – und Beispiele für kollektives Handeln nehmen deutlich zu. Aber Angst, Verwirrung und Täuschung wirken zusammen und zersplittern die Macht, die wir haben könnten. Die Position »Abwarten und Tee trinken« ist zu einem großen Problem geworden.

Wenn wir bloß abwarten, kommunizieren wir unsere Ohnmacht. Wir erklären, dass wir jemandem mit mehr Macht – dem Chef, den Politikern, dem Gesundheitsamt – die Entscheidungen über unser Schicksal anvertrauen. Dieser tief verwurzelte Glaube an Hierarchien führt dazu, dass wir auf der Suche nach Antworten nach oben schauen. Selbst wenn eine Hierarchieebene nach der anderen uns ignoriert oder verrät, haben wir Angst, sie in Frage zu stellen.

Toxische Normalität

Frag eine Kollegin, wie sie die Lage der Dinge beurteilt, und das Elend wird aus ihr strömen: Das Management sagt uns nichts, sie ändern ständig die Pläne, sie hören uns nicht zu, wir sind nicht sicher, wir sind unterbesetzt, Leute sind erschöpft, die Moral ist am Boden.

Aber lade sie und andere KollegInnen ein, zu einem kleinen Treffen zu kommen, sich zusammenzuschließen und mit dem Chef zu sprechen, eine Petition zu unterschreiben, einen gemobbten Kollegen zu verteidigen – und die Angst baut sich auf wie eine Mauer. Angst vor Vergeltungsmaßnahmen, davor, den »Zugang« zum Chef zu verlieren, zu spalten, FreundInnen zu verlieren, einen Job zu verlieren, als Unruhestifter bezeichnet zu werden.

Diese Angst erscheint so normal und ra­tional, dass die meisten Menschen sie nicht einmal in Frage stellen. Stattdessen wirst du als die Person, die ihnen diese Schwierigkeiten einbringt, mit Misstrauen bedacht werden. Und so stolpern wir isoliert dahin und akzeptieren Angst und Verzweiflung, als ob sie selbstverständlich wären. Diese Kultur der Angst ist den Chefs sehr dienlich. Es ermöglicht ihnen, Informationen zurückzuhalten, die Regeln zu ändern und Verantwortung von sich zu weisen. Sie wissen, dass ArbeiterInnen murren, aber solange dem Murren keine Taten folgen, können sie das ignorieren.

Vor Corona war dies nur »normal schlecht«. Jetzt ist es toxisch schlecht geworden. Unsere kollektive Angst ist keine Entschuldigung mehr. Ihre Folgen sind zu fatal.

Den ersten Schritt machen

Wer also am Arbeitsplatz organisieren will, sollte zunächst den KollegInnen helfen, den Weg aus der Angst zu finden. Beschuldige und verurteile sie nicht, gib sie nicht auf, weil sie Angst haben – hilf ihnen, die Angst zu überwinden.

Dies kann ein langer und holpriger Prozess sein. Radikale Geduld – die Geduld, auch angesichts von Enttäuschungen standhaft zu bleiben – wird der Schlüssel dazu sein.

Machen wir uns erstmal klar, wie Gewerkschaften der Angst nicht Herr werden können: Wir können uns nicht auf Arbeitsgesetze verlassen. Unter den gegebenen Bedingungen sind sie oft nutzlos. Wir können nicht versprechen, dass jemand anderes – GewerkschaftsfunktionärInnen, Regierungsbehörden – uns die schwerste Last abnimmt. Wir können nicht leugnen, dass es riskant ist, aktiv zu werden. Und wir können keine Garantien abgeben. Die Ergebnisse hängen davon ab, wie viel Macht wir entwickeln.

Unter Berücksichtigung all dessen können wir folgende Dinge tun, die jeden Tag von ArbeiterInnen auf der ganzen Welt getan werden:

Zuerst überprüfen wir unsere eigene Einstellung. Sind wir bereit, unseren KollegInnen zu vertrauen, auch wenn es in der Belegschaft tiefsitzende Spaltungslinien gibt? Selbst wenn wir den Eindruck haben, dass Unterschiede in Bezug auf Herkunft, Geschlecht, Sprache, Alter und politische Einstellungen unüberwindbar sind, liegt es in unserer Verantwortung, die KollegInnen zu erreichen (und ja, AnhängerInnen gegnerischer Präsidentschaftskandidaten können Verbündete in Arbeitskämpfen sein.)

Kultivieren wir unsere Neugier. Bringen wir Respekt auf – wenn nicht für ihre Überzeugungen, dann für den Beitrag, den unsere KollegInnen leisten können. Zynismus ist fehl am Platz und hat keinen Platz im Organisierungsprozess.

Seien wir zuversichtlich, dass wir gemeinsam das Kräfteverhältnis verändern können. Geben wir den KollegInnen das Gefühl: »Endlich hört mir jemand zu! Ich bin nicht unsichtbar.»

In der Gruppe reden

Zuhören, reden, zusammenfassen, ergänzen, wiederholen. Angst wird durch ständige Gespräche abgebaut – eins zu eins, in kleinen Gruppen, in großen Gruppen. Je mehr wir die Erfahrungen anderer Menschen hören und Gemeinsamkeiten erkennen, desto weniger isoliert sind wir.

In Gruppen zu sprechen ist ein Akt des Vertrauens, und Vertrauen ist ein Gegenmittel gegen Angst. Diese Gespräche sollten in immer größeren Kreisen stattfinden. Jede Entwicklung am Arbeitsplatz, jeder Versuch der Gegenwehr, jede Reaktion des Chefs – all diese Momente sollten Auslöser für gezielte Gespräche sein. (Und denk dran … beschwer’ dich nicht, organisier’ dich.)

Finde Übereinstimmungen. Die stärkste Macht, die wir haben, ist eine mehrheitliche Einigkeit. Es ist selten, dass sich alle über alles einig sind, aber wir müssen eine Einigkeit über irgendetwas finden. Wer an immer größeren Gesprächsrunden am Arbeitsplatz teilnimmt, sollte die Ohren offen halten für gemeinsame Ziele – nicht nur für geteiltes Leid.

Engagier dich in angstvermindernden Aktivitäten. Wo Angst dominiert, ist es keine gute Idee, die Leute zu bitten, sofort Risiken einzugehen. Jemanden direkt zu bitten, eine Petition zu unterschreiben oder mit dem Chef zu sprechen, kann abschrecken. Stattdessen braucht es angstreduzierende Optionen. Sprechen wir über die spezifischen Befürchtungen eines Kollegen und überlegen wir, wie mit den befürchteten Katastrophen umgegangen werden kann. Welche Informationen benötigen die KollegInnen, um sich sicherer zu fühlen, und wo sind diese zu finden? Oberflächliche Gerüchte sollten auseinandergenommen und zerstreut werden. Bitten wir KollegInnen, andere Personen zu benennen, denen sie am Arbeitsplatz vertrauen, und schlagen wir eine Gruppendiskussion in dieser Runde vor.

Geben wir Beispiele dafür, wie eine Gruppe aktiv geworden ist und was sie erreicht hat. Teilt Artikel, die Organisationserfolge unter ähnlichen ArbeiterInnen beschreiben (die Archive der Labor Notes {und des express, Anm. d. Lektors] sind eine gute Quelle dafür), und bietet an, darüber zu diskutieren.

Denkt daran: Verhandelt nicht, verkauft nichts, bedrängt euer Gegenüber nicht und drückt keine Verzweiflung aus.  All diese Kommunikationsarten verringern das Vertrauen und erhöhen die Angst.

Ideen aufblühen lassen

Entwickelt euren Plan zusammen. Die höchste Wahrscheinlichkeit, dass KollegInnen trotz ihrer Angst handeln, entsteht, wenn sie ihre Aktionsschritte und ihren Plan als Gruppe entworfen haben. Bei einer vorgefertigten Strategie fällt es leichter, sie zu verwerfen: »Ha, Du hast leicht reden – Du stehst eh schon auf der Abschussliste.« Aber wenn Menschen zusammen gesessen haben (und sei es bei Zoom), überlegt haben, sich gegenseitig ermutigt haben und das wachsende Gefühl der Sicherheit zusammen gespürt haben, wird ihr Geist weniger durch Sorgen belastet und beginnt kreativ zu werden.

Sie bringen Ideen ein, die auf ihrer eigenen Erfahrung beruhen und die ihnen sinnvoll scheinen. Die Pläne, die entstehen, ­werden zum gemeinsamen Eigentum der Gruppe und erhöhen daher automatisch die Sicherheit, die wir durch zahlenmäßige Stärke fühlen.

Jedes Aktivwerden kann klein anfangen. Kollektives Handeln ist wichtig, um Angst zu überwinden − aber »Handeln« ist nicht nur eine aufsehenerregende, trotzige Aktion auf der Straße. Gemeinsames Handeln sehen wir auch bei einer Gruppe von KollegInnen, die eine Liste von Namen unter sich aufteilt, vereinbart, wer wen anruft, sich auf die Ziele dieser Anrufe einigt, einen Zeitpunkt für ein Wiedersehen festlegt und den nächsten Schritt plant. Die Angst, mit KollegInnen zu sprechen, ist die wesentlichste Angst, die es zu überwinden gilt – denn sobald diese Aktion beginnt, hat die Dynamik des Aufbaus von Macht eingesetzt und weitere Maßnahmen werden gemeinsam ergriffen. Das ist das beste Gegengift gegen Angst.

  • * Ellen David Friedman ist Organizerin im Ruhestand und Mitherausgeberin der Labor Notes, in deren Oktober-Ausgabe der Beitrag unter dem Titel »A Path out of Fear« in der »Steward’s Corner« erschienen ist.
  • Übersetzung: Stefan Schoppengerd

express im Netz und Bezug unter: www.express-afp.info externer Link

Email: express-afp@online.de

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