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Wieder ein Mord an einem Landlosen-Aktivisten in Brasilien: Ein „Klima der Gewalt“ von Regierung und Militärpolizei geschürt, gefördert – und betrieben

Der bisher letzte ermordete MST-AktvistDer Mord am MST-Aktivisten Ênio Pasqualin im Bundesstaat Paraná am vergangenen Wochenende – nur runde 50 Kilometer von dem Ort entfernt, an dem bereits 2016 zwei MST-Aktive ermordet worden waren – ist nicht nur im Zusammenhang mit der allgemeinen Förderung der rechtsradikalen Gewalt durch die brasilianische Regierung zu sehen, sondern auch mit ihrer Grundsatzoffensive gegen eine der Organisationen, die gar nicht anders können, als die Eigentumsfrage zu stellen. In einem Land, wo (rassistische) Polizeimorde noch viel alltäglicher sind, als etwa in den USA – und wo in den letzten 10 Jahren rund 25.000 Militärpolizisten in politische Ämter gewählt wurden – ein ausgesprochen gefährliches Unterfangen. Erst recht bei einer Militärpolizei, die nicht nur grünes Licht von der Regierung erhält, sondern auch neben der politischen Karriere noch andere Wege und Optionen hat – beispielsweise bei der Bildung von Milizen, die inzwischen das Alltagsleben von Millionen Menschen terroristisch bestimmen. Zur faschistischen Gewalt in Brasilien – mit und ohne Uniform – eine kleine Sammlung aktueller und Hintergrundbeiträge:

Im Bundesstaat Paraná wurde ein Koordinator der Landlosenbewegung MST entführt & ermordet. Der linke Aktivist soll zuvor bedroht worden sein, die Polizei schließt eine politische Motivation nicht ausam 25. Oktober 2020 i Twitter-Kanal von Niklas Franzen externer Link war die erste deutschsprachige Meldung über den neuerlichen Mord.

„Nota de falecimento do companheiro Ênio Pasqualin, de Rio Bonito do Iguaçu/PR“ am 25. Oktober 2020 bei der MST externer Link war die – eher vorsichtig formulierte – erste Mitteilung der Organisation zum Mord an ihrem Aktivisten in einer Hochburg der Rechten.

„MST Aktivisten in Parana ermordet“ am 25. April 2016 bei KoBra externer Link war ein Aufruf zur Unterzeichnung eines offenen Protestbriefs nach dem Mord an zwei MST-Aktivisten rund 50 Kilometer vom diesmaligen Tatort entfernt (in Brasilien: ist das benachbart).

„Bolsonaro bezeichnet soziale Bewegungen in Brasilien als „Terroristen““ von Harald Neubar am 31. Oktober 2018 bei amerika21.de externer Link war ein Beitrag zu den Drohungen Bolsonaros nach seinem Wahlsieg (auf den wir bereits damals verlinkt hatten), in dem unter anderem hervor gehoben wurde: „… In einem ersten Interview mit dem Privatsender RecordTV äußerte sich Bolsonaro auch zu seinen im Wahlkampf angekündigten Vorhaben wie einer Liberalisierung des Waffenrechtes und einer Verschärfung der Politik gegenüber sozialen Bewegungen. Vor allem von der Landlosenbewegung MST und der Bewegung der Obdachlosen in dem von massiven sozialen Gegensätzen geprägten Land dürften diese Stellungnahmen mit Sorge aufgenommen werden. Landbesetzungen durch die MST will Bolsonaro künftig nicht mehr dulden und als Terrorismus verfolgen lassen. Er werde weder mit der Landlosenbewegung noch mit der Bewegung der obachlosen Arbeiter Gespräche führen, sagte er gegenüber RecordTV. „Jede Aktion von MST und MTST wird als Terrorismus beurteilt werden. Das Privateigentum ist heilig“, so Bolsonaro“.

„„Hier stirbt alle 23 Minuten ein George Floyd““ von Gustavo Veiga am 20. August 2020 beim NPLA externer Link war die Übersetzung eines Interviews mit der Obdachlosen-Aktivistin Janice Ferreira zum internationalen Vergleich rassistischer Polizeigewalt aus Anlass der BLM-Bewegung in den USA, worin sie unter anderem unterstrich: „… Wenn es um Wohnraum geht, spielt die Hautfarbe natürlich eine Rolle. Das ist seit der Sklaverei so und den Staat interessiert es nicht, ob eine Schwarze Frau studiert oder ein Diplom hat, denn das Recht auf Wohnraum wird verweigert, das zeigen auch die Statistiken. Auch mir ist das schon passiert. Der Rassismus in diesem Land ist wie ein Krebsgeschwür. Diese Regierung ist diktatorisch, totalitär, faschistisch, rassistisch, machistisch. Eine Regierung, die ausschließt und nur für eine organisierte Clique regiert. Der Präsident fühlt sich für die Indigenen und Quilombolas nicht zuständig. Er ist nicht der Präsident der Republik, denn ein Präsident sollte für alle regieren, für die ganze Republik. Bolsonaro regiert für die Reichen, denen geht es gut. Sein Sohn ist in den Mord an Marielle Franco verwickelt. Bolsonaro und der Gouverneur von São Paulo, Joao Doria, haben die Bundespolizei geschickt, um uns festzunehmen. Und jetzt, wo wir mit der Pandemie leben müssen, verweigert der Präsident einem Teil der Bevölkerung ihre Rechte. Ein Präsident, der ein Veto einlegt, damit die Indigenen und Quilombolas keine medizinische Betreuung während einer globalen Pandemie bekommen, ist ein Mörder. Ich denke, dass wir in Brasilien unsere Kämpfe wertschätzen sollten, denn hier stirbt alle 23 Minuten ein George Floyd. Alle 23 Minuten wird ein junger Schwarzer ermordet“.

„Os números da violência brasileira“ am 26. Oktober 2020 bei den Brigadas Populares externer Link ist eine Analyse des linken Basis-Netzwerkes zum offiziellen „Jahrbuch öffentliche Sicherheit“ Ausgabe 2020 mit dem Schwerpunkt auf die rassistische Struktur der Gewalt. Über 1.300 Morde an Frauen im Jahr 2019 – von denen rund 90% vom „Lebensgefährten“ (oder „Ex“) begangen wurden und deren Opfer zu rund zwei Dritteln schwarz waren – das ist eine der Kernzahlen in Zeiten, da große Verteidiger der Familie regieren. Und 3.181 Todesopfer von Polizeischüssen: 79% der Opfer waren Afrobrasilianer, 74% unter 30 Jahre alt. Von den knapp 750.000 im Gefängnis befindlichen Menschen sind wiederum rund zwei Drittel Afrobrasilianer.

„Polizei und Sicherheitskräfte agieren zunehmend brutaler – warum?“ von Caroline Oliveira am 11. Oktober 2020 beim NPLA externer Link ist die Übersetzung eines Beitrags von Brasil de Fato, worin unter anderem zu strukturellen Fragen der Polizeigewalt hervor gehoben wird: „… Der Lehrplan für die Militärpolizei und die örtlichen Polizeikräfte sei 2003 entwickelt worden und verschreibe sich den demokratischen Prinzipien entsprechend dem weltweiten Verständnis von polizeilicher Arbeit. Muniz, ehemals Leiterin der Abteilung für Forschung, Informationsanalyse und Personalentwicklung im Bereich Sicherheit des Justizministeriums, ist der Ansicht, dass es nicht allein um die Ausbildung geht, die die Beamten in den Polizeischulen erhalten. „Die Frage ist, warum diese inhaltlichen Aspekte nicht deutlicher gefördert und in die Polizeipolitik aufgenommen und vor allem im Arbeitsalltag umgesetzt werden, um die Handlungen im Sinne der Staatsgewalt und die taktische Arbeit des polizeilichen Handelns deutlicher abzugrenzen und eine gesellschaftliche Kontrolle über dieses Handeln zuzulassen. Mit anderen Worten: Diese Verfahren sollten nicht im Verborgenen stattfinden sondern öffentlich.“ Nach Ansicht von Muniz handelt es sich bei der Praxis der polizeilichen Gewalt um ein strukturelles Problem, das mit der Politik der Gewaltanwendung, den Kompensations- und Sanktionsmechanismen und den Leitlinien der Polizeiarbeit, also der öffentlichen Sicherheitspolitik der Staaten zu tun hat. Es gebe keine „Klarheit“ über die Politik der Gewaltanwendung in Brasilien, trotz der 2003 festgelegten Richtlinien, die sich eng an den von der Internationalen Vereinigung der Polizeichefs IACP festgelegten Verfahren orientieren. Tatsächlich existiert in Brasilien keine Gesetzgebung, die zum Beispiel die Anwendung von Gewalt durch die Militärpolizei regelt. Nur einige wenige Dokumente im Strafgesetzbuch und im Militärstrafgesetzbuch nehmen Bezug auf diesen Punkt. Laut Artikel 243 im Militärstrafgesetz ist die Anwendung von Gewalt nur dann gültig, wenn „sie im Fall von Ungehorsam, Widerstand oder Fluchtversuch unerlässlich ist“, und der Einsatz von Waffen nur, „falls unbedingt notwendig“. „Entscheidend ist somit die Frage, ob Polizeiinstitutionen Rechtsverletzung und Gewalt als Einzelfälle oder als strukturelles, wiederkehrendes Problem betrachten“, folgert Muniz…“

„En 10 años, más de 25 mil policías y militares han sido elegidos para cargos públicos“ am 25. Oktober 2020 bei Resumen Latinoamericano externer Link ist ein Betrag über die politischen Karrieren von Militärpolizisten und Militärs im Brasilien der letzten 10 Jahre – die überraschenderweise nicht bei linken oder liberalen Parteien stattfinden…

„Brasil. Más de 2 millones de personas viven amenazadas por paramilitares en Río de Janeiro dice diputada“ von Camila Piacesi am 27. Oktober 2020 bei kaosenlared externer Link ist ein Beitrag zur Mitteilung der linken Abgeordneten Taliria Petrone, sie seit ihrer Wahl 2016 sechs Mal mit dem Tod bedroht worden – was sie eben nicht als Einzelfall versteht, sondern als Ausdruck des Lebens jener rund 2 Millionen Menschen in Rio de Janeiro, die im „Herrschaftsgebiet“ jener Milizen leben müssen, die vor allem aus ehemaligen Militärpolizisten bestehen…

Siehe zum Kampf gegen MST zuletzt am 17. August 2020: Nach 22 Jahren Besetzung und alternativer Bewirtschaftung von uniformierten Brandstiftern (aufgrund des großen Widerstandes nur teilweise) zwangsgeräumt: Ein rechtsradikaler brasilianischer Gouverneur organisiert die Angriffe auf Landlosen-Siedlungen

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=180396
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