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In Nigeria wird nicht geplündert, es werden fehlende Nahrungsmittel beschafft – und die Verantwortlichen für die Knappheit angegriffen. Zu denen mit ihrer Sabotage des Kampfes für einen ausreichenden Mindestlohn auch die Gewerkschaftsbürokratie gehört

Plakat der Anti-SARS-Kampagne in Nigeria Oktober 2020„… Bei diesen Protesten sind Themen wie Arbeitsplatzmangel, Korruption, schlechte Straßen und fehlende Elektrizität schnell in den Vordergrund gerückt. In einem kürzlich erschienenen Bericht eines Arbeitgeberverbandes heißt es, dass 102 Millionen Nigerianer, also fast die Hälfte der 205 Millionen Einwohner des Landes, in “extremer Armut” leben. Für die Jugend ist die Situation besonders schlimm. Nur 14,7 Millionen der vierzig Millionen arbeitsfähigen 15- bis 34-jährigen Nigerianer*innen sind erwerbstätig. Die Regierung Buhari hat es trotz ihrer Zusagen bei ihrem ersten Amtsantritt 2015 völlig versäumt, diese und andere drängende soziale Probleme, wie das chronisch unterfinanzierte Gesundheits- und Bildungssystem, anzugehen. Darüber hinaus hat die Regierung vor kurzem die Brennstoffpreise und Stromtarife angehoben und die Lage damit noch verschärft. All dies, während sich das Wohlstandsgefälle zwischen Arm und Reich massiv vergrößert hat. Dieser jüngste Angriff auf den Lebensstandard führte zu massiver Wut unter der Bevölkerung, welche die Führer des Nigerian Labour Congress und des Trade Union Congress dazu drängte, im September einen Generalstreik auszurufen, um gegen Subventionskürzungen, Preis- und Steuererhöhungen und Verzögerungen bei der Einführung von Mindestlöhnen zu kämpfen. In letzter Minute brachen die Führer den Streik jedoch ab und akzeptierten offiziell das Argument der kapitalistischen Regierung, dass Nigerias “schwierige finanzielle Lage” die “Unvermeidbarkeit der Deregulierung” bedeute. Wie DSM seinerzeit dazu berichtete: “In Benin City und Ibadan gingen zahlreiche Gewerkschafter*innen und andere Menschen sofort auf die Straße, um gegen die Entscheidung der nationalen Führer zu protestieren. In anderen Städten gab es stürmische Zusammenkünfte von Aktivist*innen”.Soweto wies im Interview darauf hin, dass dieser Verrat der Gewerkschaftsführung (und frühere ähnliche Fälle) bereits dazu geführt haben, dass unter jungen Menschen neben der weit verbreiteten Ablehnung der wichtigsten politischen Parteien auch Misstrauen und sogar Feindseligkeit gegenüber der Arbeiter*innenbewegung herrscht...“ – aus dem Beitrag „Nigeria: Massenbewegung gegen Polizeibrutalität und Armut“ am 27. Oktober 2020 bei Solidarität externer Link – die Übersetzung eines Interviews mit einem nigerianischen Aktivisten, das einige Tage zuvor auf Englisch erschienen war. Siehe dazu auch zwei Sammlungen und einen Beitrag, die die sogenannten „Plünderungen“ als den Kampf um Nahrung deutlich machen – sowie als Aktionen gegen Verantwortliche des Systems, sowie einen Beitrag der deutlich macht, dass selbst die FES die nigerianischen Gewerkschaften nicht mehr so recht verteidigen mag – und die Hinweise auf unsere jeweils letzten Beiträge zum Kampf gegen Polizeiterror und zum Bremsklotz Gewerkschaften in Nigeria:

  • „Soulèvement au Nigeria“ am 24. Oktober 2020 ebenfalls bei Anthropologie du Présent externer Link ist eine sehr ausführliche und mit sehr vielen Videoberichten versehene Materialsammlung, vor allem zu drei Themen: Der explodierenden Empörung nach neuen tödlichen Polizeischüssen, der inzwischen massenhaften Aneignung von Lebensmitteln quer durchs ganze Land (von der reaktionären Propaganda als „Plünderungen“ versucht, zu diffamieren – was vielleicht noch funktioniert hätte, ginge es dabei etwa um Smartphones oder Fernseher, es geht aber um Mehlsäcke vor allem) – und den Aktionen gegen Wohnsitze von Politikern, die man als Profiteure des Systems ausgemacht hat…
  • „In Lagos“ von Adewale Maja-Pearce am 28. Oktober 2020 bei der London Review of Books externer Link ist ein Beitrag, der unter anderem sehr konkret („vom Balkon aus betrachtet“) die Ereignisse in Lagos schildert – wo mehrere Häuser der Familie des Gouverneurs in Flammen aufgingen. Warum? Weil – das nachher bestätigte – Gerücht umging, diese Familie habe sich Reserven beschafft – aus den Lagerhäusern, die die Notversorgung während der Epidemie gewährleisten sollen…
  • „Aufstand der Jugend“ von Daniel Mann am 26. Oktober 2020 bei der IPG externer Link ist neben den inhaltlichen Ausführungen auch Hinweis darauf, dass nicht einmal die FES die negative Rolle der Gewerkschaftsbürokratien übergehen mag: „… Das erste Mal trat der Hashtag #endSARS schon 2017 in Erscheinung. Die aktuelle Protestbewegung greift jedoch viel tiefer: Aus Sicht vieler wird das Land von einer abgehobenen und abgekapselten Elite geführt, die ihre Position der Kontrolle über das Öl Nigerias verdankt und ihre Profite im Ausland parkt. Der Reichtum und die Unangreifbarkeit der nigerianischen Elite, die in Städten wie Abuja und Lagos ohne jede Scham vorgeführt werden, lässt selbst Besucher aus den Emiraten erstaunt zurück. Diese Oberschicht ist in den Augen der Protestierenden taub für die Bedürfnisse der großen Mehrheit der 200 Millionen Nigerianerinnen und Nigerianer, von denen rund die Hälfte in absoluter Armut lebt. Die Politik wirkt oft überfordert von einer stetig wachsenden Generation junger Menschen, die zwar nicht direkt von Armut betroffen ist, aber im zementierten Status quo schlicht keine Zukunft mehr sieht. Arbeitslosigkeit, Korruption, Vetternwirtschaft: Jedes Mal, wenn es in den letzten Jahren Hoffnung auf Veränderung gab, wurde diese enttäuscht. Nicht selten fanden sich herausragende Persönlichkeiten sozialer Bewegungen schließlich selbst an den Tischen der Macht wieder. Sie änderten: nichts. Die Unzufriedenheit, das gegenseitige Unverständnis und Misstrauen zwischen den Generationen ist daher hoch. Die Corona-Pandemie und der harte Lockdown in Nigeria haben die Situation noch verschärft, die Wirtschaft liegt am Boden. Noch Anfang Oktober hatten die nigerianischen Gewerkschaften wegen der steigenden Elektrizitäts- und Benzinpreise einen Generalstreik angekündigt. Er wurde in der Nacht vor dem geplanten Beginn abgesagt, nachdem sich Gewerkschaftsführung und Regierung auf die Bildung einer gemeinsamen Kommission geeinigt hatten. Niemand war davon überrascht. Es ist die Vorgehensweise, die die hiesige Politik gewohnt ist: Drohen, Verhandeln hinter geschlossenen Türen, dann Bildung eines Gremiums mit üppigen Sitzungspauschalen. Ergebnis üblicherweise: gleich null. Die Jugend Nigerias hat davon genug. Sie traut weder den Gewerkschaften noch der politischen Klasse zu, sich ernsthaft für ihre Belange einzusetzen. So nehmen diese jungen Menschen ihre Zukunft selbst in die Hand: Sie zeigten Nigeria und der Welt, wie moderner Protest geht: Schnell, mobil, gut vernetzt über WhatsApp und Twitter gingen sie in allen größeren Städten des Südens auf die Straße, auch in der Hauptstadt Abuja...“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=180385
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