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Der Aufruf zum Generalstreik in Belarus: Wie weit wurde er von wem befolgt?

ABC-Belarus - Anarchist Black Cross Belarus„… Nach massenhaften Festnahmen Andersdenkender am Sonntag hat die Demokratiebewegung in Belarus ihre Gangart verschärft, indem Bürger zum Streik aufgefordert wurden. In der Hauptstadt Minsk blieben an diesem Montag zahlreiche Läden und Gaststätten geschlossen. Unter anderem gab es einen „Marsch der Senioren“ durch Minsk. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters zog eine Gruppe von bis zu 3000 Demonstranten durch die Straßen. Die Teilnehmer skandierten: „Lang lebe Belarus!“ Viele trugen die historische weiß-rot-weiße Fahne. Am Protest beteiligten sich viele Rentner und Studenten, aber offenbar auch Fabrikarbeiter. Bislang ist aber unklar, welches Ausmaß der Streik landesweit hatte. Die Gegnerin von Machthaber Lukaschenko, Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja sagte in ihrem EU-Exil, dass es eine „sehr aktive“ Beteiligung nach dem Aufruf zu einem Generalstreik gebe. Es hätten sich medizinisches Personal, IT-Firmen und Studenten beteiligt sowie viele Privatbetriebe...“ – so wird in der Meldung „Streik und Protest in Belarus – Ausmaß unklar“ am 26. Oktober 2020 bei der Deutschen Welle externer Link überraschend vorsichtig berichtet (für einen seltenen Generalstreiks-Aufruf, der die Unterstützung der Bundesregierung „genießt“) und woraus schon deutlich wird, dass die zumindest in westlichen Medien als Oppositionsführerin dargestellte Frau nicht unbedingt auch eine Streikführerin ist… Siehe dazu fünf weitere aktuelle Beiträge sowie einen Hintergrundbeitrag über die Gewerkschaftsbewegung in Belarus und den Hinweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge zur Demokratiebewegung in Belarus:

„Im Ausstand“ von Bernhard Clasen am 27. Oktober 2020 in der taz online externer Link berichtet unter anderem: „… Ein Schwerpunkt der Aktionen war am Dienstag neben Minsk die an der Grenze zu Polen gelegene Stadt Hrodna. Nachdem sich alle Regisseure des dramaturgischen Theaters der Stadt mit den Streiks solidarisiert hatten, stellte das Theater sämtliche Aktivitäten bis auf weiteres ein. Gestreikt wurde in Hrodno auch bei „Hrodno Azot“. Das Werk gehört mit 7500 Beschäftigten zu den Großbetrieben in der belarussischen Chemieindustrie. Doch kaum hatten sich am frühen Dienstag Morgen über hundert streikende Arbeiter auf dem Betriebsgelände versammelt, tauchten Minibusse der Sonderpolizei OMON auf und nahmen einige streikende Arbeiter vorübergehend in Gewahrsam. Auch bei den Minsker Automobilwerken, dem Minsker Traktorenwerk, dem Minsker Werk für Elektrotechnik und Belarusneft streikten am Montag und Dienstag nach Angaben von tut.by einige Schichten. Schüler, Studierende und Lehrer gingen ebenfalls auf die Straße. So demonstrierten Lehrer der Staatlichen Linguistischen Fakultät und Schüler des renommierten mathematischen Gymnasiums Nr. 50 und Studierende der medizinischen Universität, der technischen Universität und der Universität für Informatik. In Gomel blieben am Montag und Dienstag zahlreiche Cafés und Restaurants geschlossen. Auch die Musiker der Bands Brutto, Drezden, „Ljapis-98“, „Kultura“ und The Superbullz erklärten, dass sie bis auf weiteres nicht mehr auftreten würden. Inzwischen, so zitiert das russische Portal lenta.ru Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, seien sieben Millionen Dollar in Solidaritätsfonds für Personen einbezahlt worden, die wegen der Proteste finanzielle Einbußen erleiden müssen. Der gestrige Dienstag war der 80. Protesttag der belarussischen Opposition und der zweite Tag nach dem Ablauf des von Oppositionsführerin Tichanowskaja ausgerufenen Ultimatums. Darin hatte sie sie Alexander Lukaschenko zum Rücktritt, zur Freilassung der politischen Gefangenen und zu Neuwahlen aufgefordert. Bei Nichterfüllung hatte Tichanowskaja mit vielfältigen Protestaktionen gedroht: Streiks, Demonstrationen und dem gezielten Abheben von Geld...“

In „Belarus – Eigentor per Generalstreik“ schreibt Roland Bathon am 28. Oktober 2020 auf telepolis externer Link zur Streikbeteiligung: „… Die Arbeit der meisten Unternehmen wurde nicht gestört, berichtet externer Link das russische Medienportal RBK, die Aktion der Opposition erreichte bei weitem nicht den beabsichtigten Umfang. Es war vorhersehbar, dass die Opposition in Belarus in einer Zeit zurückgehender Straßenproteste die nötige Mobilisierung nicht erreichen wird. Der Staat war zur Verhinderung eines großen Streiks dabei natürlich nicht untätig. Bei den ersten Anzeichen einer Streikbeteiligung waren laut Berichten externer Link der Minsker Onlinezeitung tut.by sofort Sicherheitskräfte vor Ort und führten Verhaftungen durch – aus mehreren Betrieben werden große Aktionen in dieser Richtung gemeldet. 216 Verhaftete sollen es nach dem ersten Streiktag sein externer Link. Schon im Vorfeld versuchten zudem Führungskräfte, ihre Belegschaften von einer Streikteilnahme abzuhalten, Rädelsführer wurden in andere Schichten verlegt oder ihre Betriebsausweise zeitweise gesperrt, so dass sie nicht in die Unternehmen kommen konnten. Wo diese Maßnahmen nicht fruchteten kam es dann zwar zu Arbeitsniederlegungen oder Protesten an den Werkstoren. Was jedoch ganz entscheidend ist: Die Produktion musste laut dem Telegram-Kanal externer Link von RIA Nowosti in keinem der mächtigen belorussischen Staatsbetriebe eingestellt werden. Nur unbedeutende Kleinbetriebe wurden teilweise komplett bestreikt. Das würden auch die vor Ort bestätigen, die sich am Streik beteiligt hätten, meint dazu RBK. Der Streik hat sein Ziel bisher also komplett verfehlt und kann als Misserfolg betrachtet werden. Das alles, obwohl es laut verschiedenen Berichten zu Solidaritätsaktionen von Studenten an den belorussischen Universitäten und Straßenprotesten von Streikteilnehmern kam…“

„Streiks und Festnahmen“ ebenfalls von Bernhard Clasen am 26. Oktober 2020 in der taz online externer Link berichtete am Tag zuvor: „… Bereits am Montagmorgen hatte die Polizei Gefangenentransporter vor strategisch wichtigen Fabriken postiert. In Grodno gingen Polizisten gegen 200 streikende Arbeiter vor, die sich im Werk versammelt hatten. Dabei seien einige Arbeiter festgenommen und misshandelt worden, berichtet ein Streikkomitee Asot. Die Internetseite der Menschenrechtsorganisation Wjasna berichtete von 80 Festnahmen allein am Montag. „Ich bin gerade mit dem Auto nach Hause gefahren“, berichtet die Minskerin Olga der taz am Telefon. „An vielen Straßen habe ich Menschenketten gesehen.“ Dennoch hält sie es für übertrieben, von einem landesweiten Generalstreik zu sprechen. Ihr falle es schwer abzuschätzen, inwieweit der Streikaufruf befolgt werde. Allerdings sei jetzt schon klar, dass an vielen Orten dezentral demonstriert und gestreikt werde...“

„Stunde der Wahrheit für die Opposition“ von Denis Trubetskoy am 26. Oktober 2020 in nd online externer Link zum Thema Generalstreik und Realität unter anderem: „… Am Montagmorgen begannen Streiks bei wichtigen Einrichtungen wie dem Düngemittelhersteller Hrodna Azot, dem Minsker Traktorenwerk sowie auch bei der Staatlichen Universität. Weitere Schlüsselunternehmen wie etwa der Ölkonzern Belorusneft schlossen sich später an. Ein Teil der Mitarbeiter demonstrierte, andere erschienen nicht am Arbeitsplatz. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass sich viele Mitarbeiter privater Firmen dem Streik anschlossen. Der 26. Oktober wurde dort oft zum arbeitsfreien Tag erklärt, in anderen Fällen wurden kurzfristig Ferien angesetzt oder die Firmen blieben vorgeblich aus technischen Gründen geschlossen. Auch die Mitarbeiter des wichtigen Mobilfunkanbieters MTS traten in Streik. Für den Streiktag hatte die Opposition zusätzlich den bereits traditionellen Marsch der Rentner organisiert. Für den Montagabend waren die Autofahrer dazu aufgerufen, die Straßen zu blockieren. Im Anschluss sollten Demonstrationen zur Unterstützung der Streikenden stattfinden. »Dieser Sonntag war sehr wichtig«, erläutert ein Minsker Journalist dem »nd«. »Eine derart große Aktion habe ich in diesem Herbst noch nicht erlebt. Auch der Streik ist größer, als ich es erwartete.« Allerdings sei er doch zu klein, um Lukaschenko und seinen Apparat zu beeindrucken. Die Polizei nahm bis zum Montagnachmittag mehr als 100 Menschen fest. »Es kommt stark darauf an, wer jetzt die Initiative erlangt«, schreibt der belarussische Politologe Anton Schrajbman. »Im September hat Lukaschenko das Spiel bestimmt, nun ändert sich das. Die Proteste waren wieder genauso groß wie im August.«…“

„Solidarität mit den Streikenden in Belarus“ am 26. Oktober 2020 beim DGB externer Link ist eine Solidaritätserklärung des geschäftsführenden Bundesvorstandes, worin unter anderem unterstrichen wird, dass man auch für eine „Modernisierung der Wirtschaft“ in Belarus zu haben ist: „… Offensichtlich ist nur der offene Widerstand gegen die bestehenden Verhältnisse die einzige Abhilfe für die Menschen in Belarus. Streik ist das legitime friedliche Mittel gegen eine Regierung, die sich nur durch Wahlbetrug und Polizeiterror an der Macht hält. Seit Jahren wird  in Belarus  systematisch gegen internationale Arbeitnehmergrundrechte verstoßen. Die unabhängigen Gewerkschaften sind ständiger staatlicher Einschüchterung und  Repressionen ausgesetzt.Mit einem Regime, das die eigenen Bürger verprügeln lässt und jeden Dialog verweigert,  kann es keine zwischenstaatliche politische und wirtschaftliche Kooperation geben. Auch von deutschen Unternehmen erwarten wir, dass sie Geschäfte mit der belarussischen Regierung und belarussischen Staatsbetrieben auf Eis legen, solange die Regierung die Forderungen ihrer Bürger mit Gewalt beantwortet. Die demokratischen und freien Gewerkschaften in Belarus sind Teil der breiten Volksbewegung, die sich von Gewalt und staatlichem Terror nicht aufhalten lässt. Gleichzeitig müssen die Menschen in Belarus darauf vertrauen können, dass die Bundesregierung und auch die Europäische Union mit einem demokratischen Belarus eine wirtschaftlich starke Nachbarschaft  anstreben, um einen demokratische und sozial gerechte Modernisierung  der belarussischen Wirtschaft zu ermöglichen…“-

„»Arbeiter sollen in Belarus nicht politisch aktiv sein«“ am 22. Oktober 2020 in der jungle world externer Link (Ausgabe 43/2020) ist ein Gespräch von Paul Simon mit Volodymyr Artiukh über die Rolle der ArbeiterInnen in der Bewegung, worin dieser unter anderem ausführt: „… Seit August gibt es immer wieder Arbeitskämpfe und Proteste: spontane Versammlungen, Arbeitsniederlegungen, Petitionen. Oft versammelten sich Arbeiter außerhalb der Arbeit, traten aus den ›gelben Gewerkschaften‹ (regierungsfreundliche, von den Betriebsleitungen kontrollierte Gewerkschaften, Anm. d. Red.) aus und schufen Streikkomitees. Aber tatsächliche Streiks gab es nur eine Handvoll. Es gab keine Streikwelle, aber selbst Arbeitsniederlegungen für ein oder zwei Tage hätte ich mir früher nicht vorstellen können. Die Menschen müssen wohl außerhalb der Fabrik politisiert worden sein, denn ich denke, dass es immer noch sehr schwierig ist, in den Betrieben zu organisieren. Die Bürokraten schienen zunächst überrumpelt. Sie sprachen mit den Arbeitern und unterzeichneten sogar Petitionen gegen Wahlbetrug und Polizeigewalt. Aber seit Ende August ist der Staat dazu übergegangen, aktive Arbeiter systematisch zu bedrohen, zu entlassen oder festzunehmen. Das erklärt, warum die Arbeiterunruhen wieder abgeflaut sind. Die Belarussische Unabhängige Gewerkschaft hat am meisten gelitten: Viele Mitglieder sind im Gefängnis, einige im Exil. Vor einigen Tagen musste der Anführer des Streikkomitees in der Minsker Traktorenfabrik (Sergej Dylewskij, Anm. d. Red.) nach Warschau fliehen. Arbeiter sollen in Belarus nicht politisch aktiv sein und sind häufig völlig atomisiert. Das war nicht immer so: In den letzten Jahren der Sowjetunion gab es riesige Arbeiterproteste. Große Teile der Arbeiterbewegung blieben in den neunziger Jahren militant und in Opposition zu Präsident Alexander Lukaschenko. Bei der Präsidentschaftswahl 2001 (am Ende von Lukaschenkos erster Amtszeit, Anm. d. Red.) trat Wladimir Gontscharik, der damalige Vorsitzende der Belarussischen Gewerkschaftsföderation, die fast alle Arbeiter vertritt, gegen Lukaschenko an. Danach änderten sich die Dinge sehr schnell. Lukaschenko setzte eine loyale Führung bei der Gewerkschaftsföderation ein, die seitdem de facto ein Organ der Staatsbürokratie ist, und übte starken Druck auf die militanteren kleinen Gewerkschaften aus. Nach der Niederlage der Arbeiterbewegung konnten unabhängige Gewerkschaften nur noch in Nischen existieren...“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=180231
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