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Massenproteste gegen Wahlbetrug auch in Kirgisistan: Wahl für ungültig erklärt, die Regierung der Anti-Gewerkschaftsgesetze ist „unbekannt verzogen“

Protest gegen Wahlbetrug in Kirgisistan„… Dass gestern Tausende dem Aufruf der Oppositionsparteien folgten, kam für viele Beobachter überraschend. Nach der Tulpenrevolution 2005 und einem blutigen Regierungsumsturz 2010 wirkten die Kirgisen müde. Dabei hatte das Land nach einer Verfassungsänderung vor zehn Jahren ein parlamentarisches Regierungssystem eingeführt. Dass dem Parlament mehr Macht als dem Präsidenten eingeräumt wurde, brachte Kirgistan schließlich den Ruf als »Zentralasiens Insel der Demokratie« ein. Tatsächlich galten auch die vergangenen Parlamentswahlen 2015 als die bisher freiesten. Dieses Erbe sehen nun anscheinend viele in Gefahr. Bis Redaktionsschluss hatten sich etwa 4000 Menschen in Bischkek und anderen Städten friedlich versammelt. Es sind die größten Proteste seit zehn Jahren…“ – aus dem Beitrag „Demokratische Reformen in Gefahr“ von Othmara Glas am 6. Oktober 2020 in nd online externer Link zu den Massenprotesten gegen Wahlbetrug in einem der ärmsten Länder Zentralasiens – wo knapp die Hälfte der Berechtigten sich an den Wahlen beteiligte. Zur Entwicklung in Kirgisistan vier weitere aktuelle Beiträge – und der Hinweis auf einen unserer früheren Berichte über die antigewerkschaftliche Politik der bisherigen Regierung:

  • „Regimewechsel im Gange“ von Reinhard Lauterbach am 07. Oktober 2020 in der jungen welt externer Link hebt unter anderem hervor: „… Ob hinter den Protesten in Kirgistan der Versuch steht, eine »Farbenrevolution« durchzuziehen, ist auf den ersten Blick schwer einzuschätzen. Dafür spricht, dass relativ schnell aktuelle Vorbilder aus Belarus wie die Gründung eines Koordinationsrats der Opposition mit dem Anspruch, eine Übergangsregierung zu bilden, übernommen wurden. Während der Straßenproteste gab es auch, ähnlich wie in Belarus, Aufrufe an die Bewohner, den Zugang zu den Treppenhäusern der Wohnblocks für Demonstranten zu öffnen und die lokalen WLAN-Verbindungen freizuschalten, damit die Blockade des Internets durch die Regierung umgangen werden konnte. Andererseits waren bisher die meisten Wahlen in Kirgistan seit der Unabhängigkeit 1991 von größeren oder kleineren Tumulten begleitet. Ihr Hintergrund ist, dass die kirgisische Gesellschaft in Clans mit regionalen Einzugsgebieten gegliedert ist: Der politische Prozess besteht im Kern darin, dass mal der eine, mal der andere Clan Zugriff auf die Posten und Ressourcen des Zentralstaats bekommt. Dieser Zugriff wird dann durch Jobs im Staatsdienst an Anhänger und Mitglieder des Clans weitergegeben, was die Bindungskraft nach innen stärkt. Ein Beispiel dieser Mechanismen ist, dass unter dem Eindruck der aktuellen Unruhen selbst der oberste Veterinär des Landes zurückgetreten ist. Grundlage dieses Systems ist, dass Kirgistan geographisch und sozial zweigeteilt ist. Der Süden, wo es überdies im fruchtbaren Ferganatal Nationalitätenkonflikte gibt, ist immer noch von Armut geprägt. Der reiche Norden, aus dem der jetzt befreite Expräsident Atambajew stammt, ist durch einen Ausläufer des Tian-Shan-Gebirges vom Rest des Landes abgetrennt. Insgesamt leben auf einer Fläche von gut 200.000 Quadratkilometern etwas über sechs Millionen Menschen…“
  • „Ministerpräsident Kirgistans tritt nach Protesten zurück“ am 06. Oktober 2020 bei der Deutschen Welle externer Link meldet zur Regierung: „… Nach den Unruhen in Kirgistan ist der Ministerpräsident des zentralasiatischen Landes, Kubatbek Boronow, zurückgetreten. Wie der parlamentarische Pressedienst in der Hauptstadt Bischkek mitteilte, wurde der erst am Montag von Demonstranten aus dem Gefängnis befreite nationalistische Politiker Sadyr Schaparow von der Volksvertretung zum neuen Regierungschef gewählt. Wegen des offiziell verkündeten Siegs des politischen Lagers von Staatschef Sooronbai Dscheenbekow bei der Parlamentswahl vom Sonntag war es zu massiven Protesten gekommen. „Schaparow wurde zum amtierenden Ministerpräsidenten der Kirgisischen Republik gewählt“, hieß es in einer Erklärung. Die Entscheidung sei auf einer außerordentlichen Sitzung des Parlaments getroffen worden. Die Wahl fand demnach in einem Hotel statt, nachdem Demonstranten das Parlament besetzt hatten. Den Gegnern des Präsidenten war es in der Nacht zu Dienstag auch gelungen, den wegen Korruption inhaftierten Ex-Staatschef Alsambek Atambajew aus dem Gefängnis zu befreien. Atambajew war von 2011 bis 2017 Präsident…“
  • „Der Aufstand in Kirgisistan – Ein Bericht der ersten drei Tage nach der Wahl“ am 06. Oktober 2020 bei Schwarzer Pfeil externer Link berichtet unter anderem: „… Bei Tagesanbruch am 6. Oktober, auf dem zentralen Platz von Bischkek, wo stundenlange friedliche, wenn auch hitzige Kundgebungen, ausgelöst durch den Ärger über die Wahlmanipulation, zu einem Schauplatz erbitterter Kämpfe in der Nacht zuvor ausgeartet waren, mischten sich große Menschenmassen in unsicherer Erwartung.  In der Nacht zuvor ist die Bereitschaftspolizei in die kirgisische Hauptstadt eingezogen, um eine große Kundgebung aufzulösen, die durch den Ärger über eine Parlamentswahl ausgelöst worden war, die von weit verbreiteten Stimmenkäufen beeinträchtigt worden war, nur um eine wütende und brutale Reaktion zu provozieren. Mehrere Oppositionsparteien in Kirgisistan, die bei den Wahlen aus dem Parlament ausgeschlossen worden waren, da sie durch weit verbreitete und gut dokumentierte Anschuldigungen des Stimmenkaufs geschädigt wurden, haben eine hitzige Kundgebung von Tausenden im Zentrum der Hauptstadt Bischkek veranstaltet. Bis zu 4000 Anhänger:innen von fast einem Dutzend politischer Parteien haben sich am 5. Oktober auf dem Ala-Too-Platz versammelt, um die Wiederholung einer Abstimmung zu fordern, bei der Parteien, die eng mit der herrschenden Ordnung verbunden sind, eine überwältigende parlamentarische Mehrheit erhalten haben. Der Morgen begann mit unzufriedenen Parteien, die zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten Protestdemonstrationen ankündigten. Bis zum frühen Nachmittag hatten sich jedoch alle Kundgebungen bei einer Tribüne in der Nähe des Regierungsgebäudes des Weißen Hauses zusammengeschlossen, wo Parteivertreter:innen zur Einigkeit aufriefen und wütende Reden hielten. Die Menge rief in Sprechchören „kaira shailoo“, was „Neuwahlen“ bedeutet. Kleinere Kundgebungen fanden etwa zur gleichen Zeit in den Städten Talas und Naryn statt. Am späten Nachmittag waren etwa 20 Busladungen mit Schild schwingenden Bereitschaftspolizist:innen und mindestens einem Wasserwerfer auf einem Platz aufgestellt worden, der nur wenige Gehminuten entfernt lag, von wo aus die Menge allmählich anschwoll. Irgendwann rief Elvira Surabaldiyeva, eine Kandidatin der Ata Meken-Partei, die Öffentlichkeit dazu auf, den Protest-Teilnehmenden zu Hilfe zu kommen, von denen einige Berichten zufolge bereits begonnen hatten, Geld zu sammeln, um Essen für die Leute zu bringen, die geschworen hatten, den Platz zu besetzen…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=179203
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