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Ewiger Krieg um ein Stück Land? Nicht nur Armenien gegen Aserbeidschan im Krieg um Berg-Karabach: Wenn der Nationalismus tobt – und international befeuert wird

Bild von Internationale der Kriegsdienstgegner/innen, IDK e.V.Erneut stehen die Zeichen auf Krieg im Kaukasus, was sich seit Monaten angebahnt hatte – und beide Seiten erheben Beschuldigungen gegeneinander, betreiben übliche Siegespropaganda und rufen die General-Mobilmachung aus. Sie mögen keine Opposition mehr kennen, nur noch nationale Krieger und Kriegerinnen. Sowohl die Türkei als auch Russland unterstützen jeweils eine Seite, sei es mit Waffen oder mit Söldnern. Während die EU offensichtlich noch nachzählen muss, was die Profite ihrer Unternehmen an Entscheidung für Demokratie mit sich bringen. Schwierigkeiten mit dem „autoritären Regime“ in Aserbeidschan jedenfalls hatte die BRD etwa bisher nicht, wie – in langer Tradition stehend – das Treffen der Kanzlerin mit dem Präsidenten Aserbeidschans 2018 klar machte. Ihr Partner Erdogan hat es da wieder einmal einfacher – nur die HDP verweigert sich der Allparteienkoalition für den Kriegspartner Aserbeidschan. In unserer aktuellen und kommentierten – sehr umfangreichen – Materialsammlung „Ewiger Krieg um ein Stück Land?“ vom 29. September 2020 haben wir uns auch auf die Suche nach Opposition gegen den Kriegskurs begeben, der sich auch gegen die jeweilige Regierungspolitik insgesamt richtet. Diese soziale und politische Opposition ist, wie immer, die einzige wirkliche Alternative – und wie immer ist es, so klein sie auch sein mag, ihre Unterstützung die einzige Alternative im Kampf gegen Krieg und Kriegsgefahr – ansonsten ist man einmal mehr darauf angewiesen, weltweit bekannte Kriegstreiber als Friedensstifter zu inthronisieren.

Ewiger Krieg um ein Stück Land?

(29. September 2020)

Seit rund 30 Jahren, seit dem Zerfall der UdSSR, ist Berg-Karabach ein Synonym für Spannung, Krieg und Hetze. Und Kriegstreiber und Profiteure des Krieges haben sowohl in Armenien, als auch in Aserbeidschan, bescheiden ausgedrückt, die ganze Zeit eine einflussreiche Rolle inne gehabt und haben sie noch. Die einzige Lösung die gesucht wird – ist die militärische. (Und auch wenn die Nationalitätenpolitik in der UdSSR, im Gegensatz zu mancher Behauptung, vergleichbar in etwa in diesem Fall mit jener des BdKJ in Jugoslawien, alles andere als vorbildlich war – wenn man die Zahl der Todesopfer seit 1992 in Betracht zieht, mag man zur Schlussfolgerung kommen, „den Deckel drauf“ zu halten sei für das Leben – das Überleben – der Menschen besser gewesen, als die folgende nationalistische Mobilisierung). Die neuen Kriegshandlungen inklusive jeweiliger Generalmobilmachung, Ergebnis des abermaligen Anheizens der letzten Monate, machen dies mehr als deutlich…

Geht es um mehr als „ein Stück Land“?

Glaubt man der jeweiligen Propaganda, geht es „natürlich“ um die Menschen (die dann im Krieg sterben) und nicht um Ideologie oder Macht, oder eben nur irgendein Stück Land, das  alles wird, wie stets in solchen Fällen, entsprechend aufgeladen. In beiden Gesellschaften ist eine Debatte um alternative Lösungen bestenfalls unterentwickelt.

„Nichts ist normal in Karabach“ von Philippe Descamps am 14. Dezember 2012 in Le Monde Diplomatique externer Link (Deutsche Ausgabe) war ein Beitrag, der die Kontinuität der Konfrontation und ihre Auswirkungen auf die jeweilige Gesellschaft zum Thema hatte: „… Die Gefechte geben den Rhythmus internationaler Treffen vor. Sie werden immer häufiger, obwohl Russland mehrfach Gipfelgespräche mit den Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans organisiert hat. Moskau ist allerdings kein neutraler Vermittler: Mit seinen engen Beziehungen zu Armenien steht es dem turksprachigen Aserbaidschan und der Türkei – Russlands traditionellem Erzfeind – gegenüber. So wird dieser regionale Konflikt weit über seine Grenzen hinaus zum gefährlichen Spannungsherd. Dreimal im 20. Jahrhundert führten das armenische Bergvolk und die aserbaidschanischen „Tataren“ aus den Tälern Krieg gegen einander – 1905, 1918 und von 1991 bis 1994. Das Gebiet Berg-Karabach wurde gegen den Protest der armenischen Bevölkerung nach dem Willen der KPdSU 1921 der neu gegründeten Sowjetrepublik Aserbaidschan zugeschlagen. Am Ende der Sowjetära gehörten die Armenier von Berg-Karabach 1988 zu den Ersten, die aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ausbrechen wollten. (Kurz darauf erklärten die baltischen Republiken ihre Unabhängigkeit und die ganze UdSSR brach auseinander.) Die Minsker Gruppe, die 1992 unter der Ägide der OSZE gegründet wurde, um einen Ausweg aus dem Konflikt zu finden, hat wenig erreicht. Hilflos wirken Auftritte wie der beim G-20-Gipfel im Juni, als die Präsidenten Russlands, Frankreichs und der USA, die gemeinsam der Gruppe vorstehen, „die beiden im Konflikt stehenden Staaten“ aufforderten, „wichtige und notwendige Entscheidungen zu treffen, um zu einer dauerhaften und friedlichen Lösung zu gelangen“. Die Armenier aus Berg-Karabach, die früher für die Zugehörigkeit zur Sowjetrepublik Armenien gestimmt hatten, votierten nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 für die völlige Unabhängigkeit. So wurde aus einem Territorialstreit zwischen zwei Staaten ein nationaler Befreiungskampf. Die Republik Berg-Karabach mit ihren 140 000 Einwohnern hat eine eigene Verfassung, ein eigenes Parlament, eine eigene Fahne, eine eigene Armee, eigene Institutionen und eine eigene Regierung. Tatsächlich ist sie jedoch eng mit ihrer „großen Schwester“ verbunden, alle wichtigen Entscheidungen fallen in Armeniens Hauptstadt Eriwan. (…) Präsident Alijew ist damit einverstanden, dass die Provinzen Kelbadschar und Latschin für fünf Jahre einen Übergangsstatus bekommen sollen. Grundsätzlich stimmt er auch der Einrichtung eines Korridors für diese Provinzen zu.9 Außerdem hat er sich bereit erklärt, dem früheren Autonomiegebiet Berg-Karabach eine gewisse Unabhängigkeit zuzugestehen. Zwei Punkte sind für ihn allerdings nicht verhandelbar: die territoriale Unversehrtheit Aserbaidschans und die Rückkehr der Vertriebenen – auch nach Schuscha. Dass es den Führungsriegen beider Seiten so offenkundig schwerfällt, Kompromisse einzugehen, hat damit zu tun, dass der Konflikt beiden zur Macht verholfen hat. In Aserbaidschan wie in Armenien steht die Karabach-Frage im Zentrum des politischen Lebens und ist die Ursache für innenpolitische Spannungen. Seit der damalige Präsident Lewon Ter-Petrossjan 1998 zurücktreten musste, weil ihm vorgeworfen wurde, er hätte die armenischen Interessen verkauft, als er einer Teillösung zustimmte, sitzen in Eriwan Männer aus Karabach an allen Hebeln der politischen und wirtschaftlichen Macht.10 Der aktuelle Präsident Sersch Sargsjan war damals Verteidigungsminister, und er weiß sehr wohl, dass der Status quo auch für die Armenier einen hohen Preis hat. Nach dem Scheitern seines Annäherungsversuchs an die Türkei kann er nicht mehr darauf hoffen, die Blockadehaltung aufzugeben und den internationalen Druck zu mindern, ohne auf den starren Widerstand eben jenes Systems zu stoßen, das er selbst verkörpert...“

„„Das Zerstörungspotential ist massiv gewachsen““am 28. September 2020 bei Internationale Politik und Gesellschaft externer Link ist ein Interview von Nikolaos Gavalakis mit Felix Hett (Friedrich Ebert Stiftung Süd-Kaukasus – warum es die eigentlich gibt, wird nicht gefragt…) – worin, neben erwarteten parteipolitischen Überlegungen auch die jüngste Aufrüstung unterstrichen wird: „… Im April 2016 gab es bei viertägigen Kämpfen um die 200 Tote. Über die aktuellen Opferzahlen ist bislang noch wenig bekannt. Die armenische Seite hat bisher die Namen von 59 Gefallenen veröffentlicht (Stand 28.09.2020, 13:30 Uhr deutscher Zeit). Hinzu kommen mindestens acht tote Zivilisten auf beiden Seiten. Diese Zahlen sind sehr vorläufig und werden leider noch massiv steigen. Es steht zu befürchten, dass es diesmal schlimmer wird als 2016. Hinzu kommt auch: Während der 1994 beendete Krieg noch weitgehen eine „low tech“-Angelegenheit war, haben beide Seiten in den vergangenen Jahren stark aufgerüstet. Das wechselseitige Zerstörungspotential auch über das unmittelbare Kampfgebiet hinaus ist massiv gewachsen. (…) Moskau hat sich bereits am Sonntag eingeschaltet: Außenminister Lawrow telefonierte – in dieser Reihenfolge – mit seinen Amtskollegen in Jerewan, Ankara und Baku. Präsident Putin sprach zudem mit dem armenischen Premierminister Paschinjan. In der Vergangenheit – so auch 2016 – konnte russischer Druck die Waffen wieder zum Schweigen bringen. Eine nachhaltige Lösung hat er aber nie hervorgebracht, auch weil alle Konfliktparteien die Stationierung russischer Friedenstruppen ablehnen. Durch die aktivere Rolle der Türkei, den spürbaren Rückzug der USA aus dieser Weltregion und die Handlungsschwäche der EU ist der Konflikt aber ungleich komplexer geworden – und damit auch schwerer zu kontrollieren. Die Minsk-Gruppe der OSZE, die seit 1996 unter dem Ko-Vorsitz Frankreichs, Russlands und der USA versucht, eine Verhandlungslösung zu erwirken, entstammt einer ganz anderen weltpolitischen Lage. Damals war die Sowjetunion gerade zerbrochen, die USA galten als der Hegemon in einer neuen Weltordnung…“

„Armenisch-aserbaidschanischer Konflikt im Kaukasus birgt Gefahr eines größeren Kriegs“ von Ulaş Ateşçi und Alex Lantier am 29. September 2020 bei wsws externer Link zum kriegerischen Potenzial der neuerlichen Auseinandersetzung: „… Ein Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan könnte schnell außer Kontrolle geraten und zu einem größeren Konflikt werden, in den Russland, die Türkei und die übrigen Nato-Mächte in Europa und Nordamerika ebenfalls hineingezogen werden. Im Juli wurden bei armenisch-aserbaidschanischen Zusammenstößen bei Tawusch im Nordosten Armeniens und dem aserbaidschanischen Bezirk Tovuz zwölf aserbaidschanische und vier armenische Soldaten getötet. Seither haben sich die militärischen Spannungen weiter verschärft. Die Türkei, ein Nato-Mitglied und wichtigster Verbündeter von Aserbaidschan, hat direkt nach den Zusammenstößen im Juli gemeinsame Militärübungen mit aserbaidschanischen Truppen in Baku, Nachitschewan, Ganja, Kurdamir und Jewlach abgehalten. Russland, das Armenien unterstützt, kündigte eine „Überraschungsprüfung der Kampfbereitschaft“ an, an der mehr als 150.000 Soldaten, mehr als 26.000 Waffensysteme, 414 Flugzeuge und 106 Kriegsschiffe beteiligt sein werden. Die Nato-Kriege in Libyen und Syrien haben die Fähigkeit und Bereitschaft der USA, Frankreichs und Russlands beeinträchtigt, wie bei früheren Gelegenheiten Waffenruhen zwischen Armenien und Aserbaidschan auszuhandeln. Ihre Beziehungen zur Türkei sind zusammengebrochen: Russland führt einen Stellvertreterkrieg gegen Kräfte in Libyen, die von der Türkei unterstützt werden; Frankreich unterstützt Griechenland gegen die Türkei bei Ölkonflikten im östlichen Mittelmeer; die USA unterstützen in Syrien kurdisch-nationalistische Guerillagruppen, die die Türkei bekämpft. Armenien hat seine Unterstützung für Griechenland im östlichen Mittelmeer erklärt, und Aserbaidschan hat sich hinter die Türkei gestellt. Die Analystin Olesja Wartanjan von der International Crisis Group schrieb auf Twitter: „Es gab zahlreiche Warnsignale. Alle haben sie gesehen und wochenlang nichts unternommen. Es wäre eine proaktive internationale Vermittlung notwendig gewesen. Viele haben Gründe vorgebracht, warum dieser Angriff in Ordnung war. Wenn sie jetzt schweigen, müssen wir mit einem wirklichen Krieg rechnen.“ Doch statt einen Frieden auszuhandeln, bereiten sich die Großmächte vielmehr auf einen Krieg gegeneinander vor. Entlang des Schwarzen Meers haben amerikanische und britische Truppen zusammen mit deutschen, polnischen und litauischen Beratern letzte Woche gemeinsame Manöver mit der Ukraine abgehalten. Das ukrainische Verteidigungsministerium erklärte: „Zum ersten Mal werden Militäreinheiten der Streitkräfte der Nato-Mitgliedsstaaten an den strategischen Kommando- und Stabsübungen beteiligt sein.“ Daneben hat auch das russische Militärmanöver Kavkaz-2020 (Kaukasus 2020) im nördlichen Kaukasus, am Schwarzen Meer und am Kaspischen Meer begonnen, an dem 80.000 Soldaten beteiligt sind. Darunter befinden sich bis zu 1.000 Soldaten aus China, Armenien, Belarus, dem Iran, Myanmar und Pakistan sowie 250 Panzer, 450 Transportpanzer und 200 Artillerie- oder Raketenwerfersysteme. Stellungnahmen von armenischen und aserbaidschanischen Regierungsvertretern machen deutlich, dass ein offener regionaler und sogar globaler Krieg im Südkaukasus eine reale und akute Gefahr ist…

„Die Gefahr eines großen Brandes“ von Reinhard Veser am 28. September 2020 im faz.net externer Link kommentiert: „… In beiden Ländern sind die Gesellschaften durchdrungen von der mehr als dreißig Jahre währenden Auseinandersetzung: Die Armenier sehen in ihren Erfolgen im Krieg der Jahre 1991 bis 1994 den Beleg dafür, dass sie nicht mehr wehrlose Opfer sind wie während des Völkermords im Osmanischen Reich 1915, in Aserbaidschan halten mehrere hunderttausend Vertriebene aus den von Armenien besetzten Gebieten rings um Karabach den Wunsch nach Revanche wach. Korrupte Eliten auf beiden Seiten schüren diese Gefühle: Die Erfordernis nationaler Einheit gegenüber dem Feind dient ihnen als Legitimation. Eine Lösung des Konflikts ist kaum denkbar ohne Veränderungen in den Ländern…“

„Großmacht auf dem Rückzug“ von Ute Weinmann am 29. September 2020 in nd online externer Link zu Auswirkungen – in Russland: „… In anderen russischen Regionen zeigen sich fast immer unmittelbare Folgen von Kampfhandlungen zwischen armenischen und aserbaidschanischen Truppen. In Russland leben 1,7 Millionen Armenier, die überwiegend im Besitz der russischen Staatsbürgerschaft sind. Über Hunderttausend davon in Moskau. Ihnen stehen allein in der Hauptstadt eine Million Aserbaidschaner gegenüber, die mit 3,6 Millionen Menschen landesweit eine der größten nationalen Minderheiten darstellen. Im Juli gab es in mehreren Moskauer Stadtteilen heftige Massenschlägereien. Bei Übergriffen aserbaidschanischer Männer auf ein armenisches Restaurant und einen Baumarkt kamen Holzschläger und Metallstäbe zum Einsatz…“

„New Armenia-Azerbaijan fighting a long time in the making“ von Joshua Kucera am 28. September 2020 im Eurasianet zeichnet die Vorgeschichte der aktuellen Kriegshandlungen nach – und unterstreicht, dass dieser Kurs spätestens seit ersten Auseinandersetzungen im Juli 2020 wieder voll in Richtung Krieg ging, was auch allseits bekannt gewesen sei…

„Die Angst in den Bunkern“ von Jana Lappert am 28. September 2020 in der taz online externer Link zu den Auswirkungen des Kriegskurses auf die Haltung und das Alltagsleben vieler Menschen unter anderem: „… Für Natalia G. ist es ein Déjà-vu. „Während des Krieges in den 1990ern habe ich meine Kinder in den Bunkern versteckt“, erzählt sie. „Heute verstecke ich meine Enkelkinder.“ Zusammen mit Dutzenden Menschen aus ihrer Nachbarschaft hat die 60-Jährige die Nacht auf Montag im Bunker ihrer Nachbarin im kleinen Dorf Noragjugh in Berg-Karabach verbracht, rund dreißig Kilometer von der Frontlinie entfernt. In dem Gebiet ist der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan am Sonntag besonders heftig eskaliert. (…) Nachdem Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan am Sonntag das Kriegsrecht für das Land ausgerufen und alle einsatzfähigen Bewohner über 18 Jahren dazu aufgerufen hatte, sich für den Einsatz an der Front bereitzumachen, sind Tausende seinem Aufruf gefolgt – auch die Männer der Frauen im Dorf. Das armenische Fernsehen zeigt, wie Männer in verschiedenen Städten in Busse steigen, um sich auf den Weg Richtung Front zu machen. Freunde und Verwandte applaudieren, hupen und pfeifen ihnen begeistert zu. Die Zahl der armenischen Freiwilligen ist nach offiziellen Angaben sogar so hoch, dass viele nach der Registrierung wieder nach Hause geschickt werden müssen. Auch die Regierung Aserbaidschans verhängte Kriegsrecht und eine Ausgangssperre im Land. Dort dürfte die Euphorie in vielen Teilen der Bevölkerung ähnlich groß sein: Nach dem jüngsten Aufflammen des Konflikts im Juli dieses Jahres zogen in Baku bereits Tausende auf die Straßen und forderten mit Rufen wie „Karabach ist unser!“ ein hartes Durchgreifen Aserbaidschans in dem Konflikt. Neben dem umstrittenen Gebiet Berg-Karabach hält Armenien weitere Territorien auf aserbaidschanischem Gebiet besetzt und plant derzeit, eine Straße nach Berg-Karabach zu bauen…“

„Armenia-Azerbaijan: Back to War?“ am 28. September 2020 beim Institute for War and Peace Reporting externer Link lässt „Experten“ beider Seiten zu Wort kommen, woraus ein Kompendium der jeweiligen Kriegspropaganda entsteht, das insofern lesenswert ist, als daraus deutlich wird, dass kein „gesteigertes Interesse“ an irgendeiner Konzeption einer möglichen friedlichen Lösung dieses Konfliktes besteht…

„Ist der Konflikt zwischen Armenien und Azarbeidjan unlösbar?“ von Erich Gysling am 23. Juli 2020 im Infosperber externer Link hielt zu Beginn der aktuellen Konfrontation unter anderem fest: „… Schlussfrage: Könnten die Konflikte im Kaukasus (Georgien beansprucht die verlorenen Regionen Abchasien und Südossetien; zwischen Azarbeidjan und Armenien brachen eben wieder Kämpfe aus) gelöst werden, würden die Regierenden sich zu den historischen Fakten bekennen und nicht länger Mythen und Halb oder Fast-Wahrheiten pflegen? Eigentlich schon – aber «uneigentlich» muss man erkennen, dass Jene, die jetzt in Tbilissi, Yerevan und Baku in Amt und Würden sind, wahrscheinlich von der Macht verdrängt würden, rängen sie sich öffentlich zu so genannten Faktenchecks durch. Kein Premierminister Armeniens, der Konzessionen gegenüber Azarbeidjan eingehen würde, bliebe an den Schalthebeln der Macht. Kein Politiker in Georgien, der Fehler in Bezug auf Abchasien oder Südossetien eingestehen würde, hätte eine Chance, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Und sogar im autoritär regierten Azarbeidjan müsste der Präsident mit massivem Widerstand rechnen, würde er sich öffentlich bereit erklären, mit den „bösen“ Armeniern substanziell zu verhandeln. Was bleibt als Erkenntnis? Dass die Menschen in allen drei unabhängigen Kaukasusländern sich glücklich schätzen können, wenn der labile Zustand von Halb-Frieden und Halb-Konflikt erhalten bleibt“.

Die Rolle von EU und BRD hat eine Tradition: Keine „friedliche“…

Wie immer – wenn sie nicht selbst beteiligt ist, wie an so vielen Orten dieser Welt – appelliert die EU ab beide Seiten und fordert Zurückhaltung. Aber weder die EU, noch ihre Hauptmacht BRD, sind an der Entwicklung im gesamten Kaukasus – wo sie nicht der entscheidende Akteur sind – völlig unbeteiligt sondern gehen qua Assoziierung oder Business as usual ihren Interessen nach und dies in sozusagen traditionellen Formen.

„Die neue „Neue Ostpolitik“ (I)“ am 24. August 2018 bei German Foreign Policy externer Link (Abo-pflichtig) hebt zum damaligen Regierungsbesuch einleitend hervor: „Mit einem Besuch in dem Erdölstaat Aserbaidschan beendet Bundeskanzlerin Angela Merkel am morgigen Samstag ihre aktuelle Reise in die drei Länder des südlichen Kaukasus. Der Besuch hat schon vorab für öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt, weil die autoritär herrschende aserbaidschanische Regierung einem CDU-Politiker aus der begleitenden Bundestagsdelegation die Einreise verweigerte. Berlin ist gegen den ungewöhnlichen Affront nicht vorgegangen – offenkundig, weil es sich von Baku Unterstützung bei wichtigen Projekten für die deutsche Energieversorgung erhofft und die Annäherung des Landes an Russland bremsen will. Laut Auskunft des Bundeswirtschaftsministeriums kommt Baku trotz eines OSZE-Waffenembargos auch als Empfänger deutscher Rüstungsexporte in Frage. Rheinmetall steckt bereits in entsprechenden Verhandlungen. Seit dem Amtsantritt des neuen Außenministers Heiko Maas (SPD) forciert Berlin eine selbst proklamierte „Neue Ostpolitik“, die mit verstärkten Kooperationsangeboten insbesondere an die Staaten des Südkaukasus einhergeht“.

„Merkel: Aserbaidschan ist ein „wichtiger Partner“ bei der Energieversorgung“ am 25. August 2018 bei der Deutschen Welle externer Link machte deutlich, dass die Bundesregierung ihren Kurs offensiv vertritt: „… Die frühere Sowjetrepublik Aserbaidschan ist bereits jetzt Deutschlands größter Handelspartner in der Region. Das Land besitzt zudem Rohstoffe, vor allem Gas. Die Bedeutung dürfte durch die im Bau befindliche Tanap-Gaspipeline, die durch die Türkei führt, noch steigen. Deutschland und die EU wollten ihren Energiemarkt breiter aufstellen, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern, machte Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einem Gespräch mit Präsident Ilham Alijew in der Hauptstadt Baku deutlich. Die Bundesregierung will dafür Gaslieferungen des aserbaidschanischen Staatsunternehmens CJSC mit einer Garantie in Milliardenhöhe absichern. Derzeit liefert Aserbaidschan über die sogenannte Südschiene insgesamt 16 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr in den Westen: zehn Kubikmeter an die Türkei und sechs in die EU. Diese Menge sei ausbaufähig, betonte Merkel. Alijew hob ebenfalls die Rolle seines Landes bei der Gasversorgung Europas hervor und signalisierte Bereitschaft zu einem weiteren Ausbau der Pipelines. Merkel erklärte weiter, es gebe gute Chancen für engere wirtschaftliche Beziehungen mit Aserbaidschan auch in anderen Bereichen. Deutsche Firmen seien etwa an einer Zusammenarbeit beim Bau, bei der Infrastruktur, bei Landmaschinen, auf dem Agrarsektor sowie bei der Digitalisierung interessiert. „Was immer Aserbaidschan braucht, da wollen wir mitwirken“, sagte sie und verwies auf 150 deutsche Firmen in dem Land. Auch Alijew sprach sich für eine engere Kooperation aus. Die Kanzlerin hob hervor, dass Aserbaidschan ein „weitgehend säkulares muslimisches Land“ sei, an dessen Stabilität Deutschland Interesse habe. „Wir kennen von überall her auf der Welt, dass es auch Tendenzen zu einer sehr stärkeren Islamisierung gibt“, sagte sie. „Insofern ist der wirtschaftliche Erfolg für die aserbaidschanische Bevölkerung natürlich sehr wichtig, und Deutschland kann hierbei ein guter Partner sein.“ Politisch gesehen ist Aserbaidschan allerdings kein leichter Partner. Die Regierung unter dem als autoritär geltenden Staatschef Alijew steht international wegen fehlender Rechtsstaatlichkeit und verbreiteter Korruption in der Kritik…“

„Zielmarktanalyse“ am 01. Februar 2020 beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie externer Link soll die Profitchancen für bundesdeutsche Kleine und Mittlere Unternehmen in Armenien und Georgien bewerten und geht dabei für Armenien von folgender Tatsachenbeschreibung aus: „Deutschland und die EU beobachten die aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen in Armenien genau. Der Kaukasusstaat kann durch die vorteilhafte Lage zwischen Asien und Europa ein wichtiger Markt auch im Rahmen anderweitiger Kooperationen bilden. Die deutschen Einfuhren nahmen zuletzt wieder zu. 2016 betrugen sie noch 113,5 Mio. EUR, 2018 erreichten sie einen Wert von 144,7 Mio. EUR. Die deutschen Exporte nach Armenien stiegen die letzten drei Jahre konstant an. 2016 betrug der Wert 151,2°Mio.°EUR, 2018 lag der Wert bereits auf 199,3 Mio. EUR. Innerhalb der EU nimmt Deutschland als Handelspartner Armeniens eine wichtige Rolle ein. Allgemein betrachtet legte der deutsche Handel mit allen Südkaukasus-Staaten in den vergangenen Jahrenzu, dabei nahm der Handel mit Armenien besonders stark zu (+41 %). Experten zufolge, sei diese positive Entwicklung auch der politischen Veränderung Arme-niens im Frühjahr 2018 zuverdanken. Nach Angaben des Deutschen Wirtschaftsverbandes in Armenien ist Deutschland Armeniens drittwichtigster bilateraler Wirtschaftspartner und ist mit über 700 Firmen auf dem armenischen Markt vertreten. 2018 betrug das bilaterale Handelsvolumen zwischen Deutschland und Armenienrund344,5 Mio.EUR–ein Plus von 30 % vergleichs-weise zum Vorjahr17. Deutsche Einfuhrgüter bestanden 2018 v. a. aus NE-Metalle (42,4 %), Eisen und Stahl (34,4 %), Textilien/Be-kleidung (19,4 %), Getränke und Tabak (1,4 %), Mess-und Regeltechnik 0,5 %, Rohstoffen (außer Brennstoffe) (0,4 %), Optik (0,2 %), chemische Erzeugnissen (0,2 %), nichtmetallische Mineralien (0,1 %) und Nahrungsmittel (0,1 %)...“

„Berg-Karabach in Berlin“ von Tigran Petrosyan am 01. August 2020 in der taz online externer Link zum Echo auf die Auseinandersetzung im Kaukasus (vor allem durch die hiesigen Communities) unter anderem: „… Armenien zeigt Flagge und zwar in Berlin. „Frau Merkel, ist wieder Völkermord in Armenien? Mit deutschen Waffen!“, steht auf einem großen Plakat. Über 300 Menschen forderten am Samstagnachmittag vor dem Bundeskanzleramt, die deutschen Waffenlieferungen an die Türkei und Aserbaidschan zu stoppen. Seit der vergangenen Woche finden türkisch-aserbaidschanische Militärübungen an die Grenze zu Armenien statt. Damit demonstriert der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan seine militärische Unterstützung für Aserbaidschan gegen Armenien im Krieg um die Region Berg-Karabach. (…) Hajkanusch Secheljan protestiert für Frieden. Die 28-Jährige ist Mitglied eines armenischen Jugendverbandes in Hamburg. Sie hält ein Plakat hoch, darauf steht „Make Dolma, not war“. Dolma nennt man gefüllte Weinblätter – ein Nationalgericht sowohl in Armenien, als auch in Aserbaidschan und der Türkei. Auch für einige Gemeindeorganisationen sind Protestaktionen keine Lösung für den Konflikt. Vor allem einige Jugendorganisationen raten ihren Mitgliedern davon ab, auf Kundgebungen zu gehen, um weitere Provokationen und ethnische Zusammenstöße zu vermeiden...“

Die türkische Rechte und ihr shithole Turan

Voll im Kriegsgeschehen aktiv ist die Regierung der Türkei – samt der kemalistischen und sonstigen „Opposition des Führers“, bezeichnenderweise war und ist die HDP die einzige Partei, die sich gegen Erdogans Kriegskurs stellt und dennoch (bisher?) nicht die armenische Partei ergreift. Von diesem Kriegskurs begeistert sind vor allem Erdogans faschistische Koalitionspartner, die ihrem Idioten-Traum vom Großreich Turan nachhängen – in etwa so nett (0%) und klug (0%) wie teutonische Reichsbürger-Scheiße, aber zutiefst reaktionär (100%) und gefährlich (100%).

„Armenien: 4.000 Söldner aus Nordsyrien in Aserbaidschan“ am 28. September 2020 bei der ANF externer Link meldet (bündnistreu, pro-armenisch) zu einer Bekanntmachung der armenischen Botschaft in Russland: „… Wie die russische Nachrichtenagentur Interfax meldet, seien nach Angaben des armenischen Botschafters 4.000 Söldner aus Nordsyrien von der Türkei nach Aserbaidschan entsandt worden. Die Agentur Ria berichtet, der Botschafter habe erklärt, die Kämpfer würden bei den Zusammenstößen in Bergkarabach eingesetzt. Quellen in Nord- und Nordwestsyrien gehen von weit weniger Milizionären aus, die aus den besetzten Gebieten abgezogen wurden, und nun im Südkaukasus sind. Aserbaidschan wies die Vorwürfe zurück…

„Bergkarabach-Konflikt: Kriegstreiber Türkei“ von Hovhannes Gevorkian am 28. September 2020 im Lower Class Magazine externer Link zur Rolle der Türkei im aktuellen Konflikt unter anderem: „… Diese Intervention der Türkei im Nachbarland ist nichts Neues. Schon die Regierung unter Turgut Özal (1989 -1993) spekulierte öffentlich, an der Seite Aserbaidschans zu intervenieren und Armenien zu bombardieren. Mitten im Krieg 1993 drohte er offen damit,“für den Fall, dass Armenien die Lektion von 1915 nicht verstanden” hätte – eine unmißverständliche Anspielung auf den von der damaligen jungtürkischen Regierung verübten Genozid, dem Schätzungen zufolge mehr als 1,5 Millionen Menschen zu Tode kamen, hauptsächlich Armenier*innen, aber auch Assyrer*innen und Mitglieder anderer christlicher Minderheiten. Heute ist es Reçep Tayyip Erdogan, der bei der jüngsten kurzzeitigen militärischen Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan im Juli 2020 offen mit weiteren Massenmorden drohte: “Wir werden die Mission fortführen, die unsere Großväter seit Jahrhunderten im Kaukasus angeführt haben.” Wie Erdogan sich die“Fortführung der Mission” vorstellt, kann mensch darin sehen, dass er am 25. September rund 1000 dschihadistische Kämpfer nach Baku schickte, die fortan gegen Armenien kämpfen.. Dass die Türkei islamistische Söldner einsetzt ist dabei weder neu, noch überraschend:Der kurdische YPG-Kämpfer Azad Cudibeschreibt beispielsweise in senem Buch wie er in Kobanê die Herkunft der verstorbenen IS-Kämpfer recherchierte. Er stellte fest, dass nicht wenige der dschihadistischen Mörder gar keine Syrer oder Iraker waren, sondern ausländische Söldner aus Tschetschenien oder Turkmenistan. Die gleiche Erfahrung machte 20 Jahre vorher schon Monte Melkonian, als er im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan die Pässe der getöteten Kämpfer aufseiten Bakus untersuchte: Viele kamen aus der Türkei, aus Tschetschenien oder Turkmenistan. Sie waren bezahlte Söldner, unter anderem Graue Wölfe, deren Kämpfer von der türkischen Regierung nach Karabach geschickt wurden, um Armenier*innen zu ermorden und ihrerseits den Genozid von 1915 fortzusetzen…“

„Vorwürfe gegen Ankara“ von Reinhard Lauterbach am 29. September 2020 in der jungen welt externer Link zu politischen Reaktionen auf die Kriegshandlungen unter anderem: „… Die neuen und offenbar umfangreichen Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan haben international Besorgnis ausgelöst. In seltener Einigkeit riefen von der Bundesregierung über Russland, China und den Anrainerstaat Iran bis Usbekistan, das aktuell den Vorsitz in der GUS führt, Staats- und Regierungschefs die kämpfenden Parteien auf, die Gewalt einzustellen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Anzeichen, dass dem Folge geleistet wird, gibt es jedoch bislang keine. Die armenische Seite teilte am Montag morgen mit, in der Nacht seien mehrere Dörfer in Berg-Karabach, die aserbaidschanische Truppen am Sonntag besetzt hatten, zurückerobert worden. Armenien sprach von etwa 200 gefallenen aserbaidschanischen Soldaten, Aserbaidschan von 550 getöteten Armeniern. Jede Seite wies die Darstellung der anderen zurück. Die Behörden des international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach räumten 31 Gefallene auf eigener Seite ein. Aserbaidschan bezeichnete Armenien als »Terrorstaat«, der Aktivisten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bewaffne und sie im besetzten Aserbaidschan gegen die Zivilbevölkerung einsetze. Das ist nur begrenzt glaubhaft, weil im Gefolge des Krieges von 1991 bis 1994 die meisten Aserbaidschaner aus den während dieses Krieges von Armenien besetzten Gebieten geflohen sind. Aserbaidschan machte auch keine Angaben, wo die behaupteten Gewalttaten passiert sein sollen...“

„Erdoğan bedankt sich bei den vier Parteien (AKP, MHP, CHP, IYI) für die Positionierung im Bergkarabach-Konflikt auf der Seite von Aserbaidschan und gegen Armenien“ am 28. September 2020 im Twitter-Kanal von Ismail Küpeli externer Link kommentiert die entsprechende (türkische) Meldung – und hält ergänzend fest, dass nur die HDP sich gegen diesen Kurs richte, während eben Faschisten, Kemalisten und Co dem Führer folgen…

„EMEP: Third countries must stop interfering and a ceasefire must be declared between Azerbaijan and Armenia“ am 28. September 2020 bei Evrensel Daily externer Link ist die Erklärung der EMEP gegen die Einmischung anderer Länder und der Aufruf zu einem Waffenstillstand zwischen beiden betroffenen Staaten.

Überall „nationale Einheit?“

Die Suche nach oppositionellen Kräften, Strömungen und Aktivitäten ist auch in dieser kriegerischen Situation eine schwierige Aufgabe, da sie – wie so oft – aktuell von den bundesdeutschen (und europäischen) Mainstream-Medien ausgeblendet werden und ihre Unterstützung oft genug auch bei jenen, die sich gegen Kriegsgefahr wenden, ersetzt wird durch Appelle an diverse Böcke, zum Gärtner zu werden. Solche Kräfte mögen eher klein sein, aber sie versuchen, die Kriegsmüdigkeit wachsender Teile der Bevölkerung zu vertreten und brauchen und verdienen dabei jede mögliche Unterstützung – und auch verschiedene soziale Auseinandersetzungen in beiden Ländern im Verlauf des Jahres 2020 legen nahe, dass einer der Kriegsgründe auc immer ist, die „Ruhe an der Heimatfront“ per nationalistischer Mobilisierung zu sichern…

„„Viele sind kriegsmüde““ am 17. Juli 2020 in der taz online externer Link ist ein Gespräch von Tigran Petrosyan mit dem Georgier Paata Zakareishvili über die da beginnende Eskalation, worin dieser unter anderem hervor hebt: „… Sowohl in Aserbaidschan als auch in Armenien ist die Bevölkerung müde vom Krieg. Propagandistische Durchhalteparolen wie „Ein Volk, eine Armee“ sind nach der Samtenen Revolution 2018 in Armenien verschwunden. Als Nikol Paschinjan als Premierminister an die Macht kam, gehörte auch eine friedliche Lösung für Karabach zu seinem Programm. Die Waffen haben dann ja auch lange geschwiegen. Doch eine weitere Eskalation könnte Pashinjans Politik infrage stellen. Auch in Aserbaidschan haben die Menschen den Krieg satt. Die Bevölkerung in Aserbaidschan ist leicht zu mobilisieren, vor allem viele aserbaidschanische Flüchtlinge (Personen, die wegen des Karabachkrieges 1992 – 1994 nach Aserbaidschan flüchten mussten, Anm. d. Red.) fordern von der Regierung ein härteres Vorgehen gegen Armenien. Dafür nutzen sie jede Möglichkeit. Obwohl einige versucht haben in das Parlamentsgebäude einzudringen, verwandelten sich die Demonstrationen trotzdem nicht in einen Anti-Regierungs-Protest. Alijew muss seinem Volk beweisen, dass er daran arbeitet, Karabach zurück zu holen. Um die Demonstranten zu beruhigen, sucht er nach Schuldigen und verspricht sie zu bestrafen. Dieses Mal sind die Diplomaten dran. Auch Personalwechsel im Ministerium würden sich nur an die eigene Gesellschaft richten. In Armenien denkt die Mehrheit, der Krieg sei bereits gewonnen. Deswegen will sie den Status Quo aufrecht erhalten. In Aserbaidschan ist das Gegenteil der Fall…

„ARMENIEN: Proteste und Auseinandersetzungen vor dem Polizeipräsidium“ am 17. Juni 2020 bei Dem Volke Dienen externer Link berichtet über die damalige Reaktion der armenischen Regierung auf soziale Proteste: „… Am Sonntag wurden mindestens 90 Demonstranten während einer Demonstration vor dem Polizeipräsidium in Yerevan, der Hauptstadt der unterdrückten Nation Armenien, festgenommen. „Der Protest in der Hauptstadt Yerevan fand statt, nachdem Beamte des Sicherheitsdienstes eine Durchsuchung in dem Haus des Führers der wichtigsten Oppositionspartei des Landes durchgeführt hatten.“ Die Sicherheitskräfte hatten eine regelrechte Armada aufgefahren um die Proteste nieder zu schlagen. Als Grund für die Festnahmen machte ein Polizeisprecher die Versammlungsbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie verantwortlich.  Natürlich ist dieser Politiker keine fortschrittliche Kraft, aber er verdeutlicht, wie der Staat mit Widersprüchen umgeht, insbesondere in der Zeit einer Wirtschaftskrise, selbst wenn diese Widersprüche auf parlamentarischer Basis bestehen. Was die Imperialisten und ihre Lakaien brauchen ist Ruhe und diese können sie nicht mehr schaffen, sie können die Wut der Massen nicht mehr bändigen. In Armenien gibt es wiederholt kämpferische Proteste und sogar bewaffnete Aktionen…“

„In Armenia, a new property tax prompts debate about social justice“ von Samson Martirosyan am 23. Juni 2020 bei Open Democracy externer Link berichtet von einer weiteren sozialen Debatte in Armenien, die nun still gelegt werden soll: Die eindeutig klassenspezifische Steuer-Reform zugunsten der (nicht sehr vielen) Reichen im Lande – die Versprechungen der neuen (2018) Regierung hatten sich ziemlich anders angehört…

„Regiert wie geschmiert – Was bedeuten Wahlen im Erdölstaat Aserbaidschan?“ von Ismail Küpeli am 17. Januar 2011 in seinem Blog externer Link hielt damals zu den poltischen Verhältnissen in Aserbeidschan lange Zeit gültiges fest (was – vielleicht – erst heute durch die Wirtschaftskrise beginnen mag, sich zu ändern): „… Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erklärte die Region Berg-Karabach im Januar 1992 ihre Unabhängigkeit und Armenien intervenierte mit seiner Armee, um die aserbaidschanischen Truppen zu vertreiben. In den folgenden Kämpfen scheiterten alle aserbaidschanischen Regierungen militärisch, was innenpolitisch jeweils zu ihrem Sturz durch politische Konkurrenten führte. Als 1993 Heydar Aliyev an die Macht kam, war er der vierte aserbaidschanische Staatspräsident innerhalb von drei Jahren. Der Konflikt um die Berg-Karabach-Region bedrohte ihn ebenfalls. Auch unter seiner Führung kam es zu weiteren militärischen Niederlagen gegen Armenien. Aliyev erkannte, dass ein militärischer Sieg vorerst unwahrscheinlich war, und schloss im Mai 1994 ein Waffenstillstandsabkommen mit Armenien. Das neue Regime ging nun dazu über, die ehemalige Regierungspartei »Volksfront Aserbaidschans« (AXC) und die bisher unabhängigen aserbaidschanischen Milizen zu zerschlagen. Die aus Armenien und der Berg-Karabach-Region vertriebenen Aserbaidschaner formte Aliyev durch staatliche Unterstützung zu einer loyalen Gruppe. Innenpolitisch nutzte das aserbaidschanische Regime das »Einfrieren« des Konfliktes, um die politische Debatte zu »versicherheitlichen«. Das Regime definierte seine politischen Maßnahmen als Schritte zum Schutz des Staates vor externen Bedrohungen. Das unterminierte die politische Opposition, deren Kritik mit mangelndem Patriotismus gleichgesetzt wurde. Dies wirkte insbesondere gegen die nationalistische AXC. Sie ist inzwischen in verschiedene Parteien zersplittert. (…) Das Regime kann so durch die Schaffung von politischer Stabilität und durch die Zuteilung von staatlichen Ressourcen an zahlreiche gesellschaftliche Gruppen seine Macht sichern, während die Opposition dem wenig entgegenzusetzen hat. Die AXC und ihre Nachfolgeparteien sind durch den Konflikt um die Berg-Karabach-Region mit den zehntausenden Todesopfern und hunderttausenden Flüchtlingen diskreditiert. Die übrigen Oppositionsparteien haben sich nicht konsolidiert und Parteispaltungen selbst innerhalb der Kleinstparteien sind gängig. Oppositionsparteien spalten sich in regierungsnahe und regimekritische Flügel auf. Noch schwerwiegender ist, dass es keine relevanten oppositionellen Kräfte gibt, die politische Ziele oder gar Gesellschaftsentwürfe haben, die zu einer Verbesserung der Lebensumstände für die breite Bevölkerung führen würden. Folgerichtig haben die Menschen wenige Gründe, sich der Opposition anzuschließen. Die Fähigkeit des Regimes, politische Loyalität zu belohnen, lässt sich ohne die Geldströme aus dem Erdöl- und Erdgassektor nicht erklären. Über die Hälfte des staatlichen Budgets stammen aus diesen Sektoren. Die Abhängigkeit Aserbaidschans von Erdöl und Erdgas ist vergleichbar mit der Abhängigkeit der Golfstaaten Saudi Arabien, Kuwait und Oman, die als Rentierstaaten par excellence gelten. Die Unterschiede liegen auf der politischen Ebene, wobei das Mehrparteiensystem Aserbaidschans und die augenscheinlich kompetitiven Wahlen die auffälligsten Unterschiede sind. Diese Rentierstaatlichkeit fiel dem Regime nicht vollständig in den Schoß. Die Erdöl- und Erdgaseinnahmen eröffnen dem Regime zwar Möglichkeiten der Machterhaltung. Umgekehrt waren diese Einnahmen jedoch erst möglich durch die Erfolge des Regimes bei der Schaffung von politischer Stabilität. Aserbaidschan hatte nach der Unabhängigkeit 1991 nicht die finanziellen Ressourcen, die Erdölförderung ohne ausländische Investoren wiederaufzubauen. Ausländische Investoren wiederum waren durch den Berg-Karabach-Konflikt abgeschreckt. Weder war absehbar, ob der Krieg bis in die Erdölregionen um Baku vordringen würde, noch, wer demnächst die politische Führung in Aserbaidschan stellen würde. Die notwendige Sanierung der Förderanlagen und die Erschließung neuer Erdölfelder blieben aus. So war die Fördermenge vor der Machtergreifung Aliyevs gesunken. Erst nach der Beendigung des Krieges mit Armenien konnte Aserbaidschan Verträge mit ausländischen Erdölunternehmen über die Ausbeutung aussichtsreicher Erdölfelder abschließen. Dabei hat BP eine führende Position …“

„Fehlende Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer beklagt“ am 16. Februar 2020 bei Evangelisch.de externer Link zur Situation der Kriegsdienstverweigerer in Aserbeidschan unter anderem: „…Kriegsdienstverweigerer in Europa sind nach Angaben von Friedensaktivisten nach wie vor oft Diskriminierungen ausgesetzt. Weiterhin kritisch sei die Lage in der Türkei, wo Kriegsdienstverweigerer verfolgt würden, hieß es in dem am Sonntag in Bonn veröffentlichten Jahresbericht des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO). Die Regierung in Ankara missachte damit seit mehr 14 Jahren ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, das das Land dazu verurteilt hatte, das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen gesetzlich zu regeln. Auch Aserbeidschan habe sein beim Beitritt zum Europarat 2001 versprochenes Gesetz über einen Ersatzdienst zum Wehrdienst bisher nicht verabschiedet, hieß es weiter...“

„Giyas Ibrahimov, ein anarchistischer Genosse aus Aserbeidjan, wurde gestern in Baku wegen antimilitaristischer Äußerungen im Zusammenhang mit dem von der Türkei unterstützten Krieg gegen Armenien festgenommen“ am 29. September 2020 im Twitter-Kanal der FAU externer Link meldet die Festnahme nach offenem Protest – und fordert seine sofortige Freilassung (was LabourNet Germany voll und ganz teilt)…

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=178838
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