Die Klassenkämpfe in Deutschland während der Coronakrise
„Klassenkampf findet nicht nur statt, wenn irgendwo gestreikt oder demonstriert wird. Vielmehr ist der Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion und Reproduktion ein Prozess des Klassenkampfes. (…) Andererseits können in der Covid-19-Pandemie notwendige Maßnahmen des Gesundheitsschutzes mit dem Interesse der Kapitalisten an einer ununterbrochenen Kapitalverwertung kollidieren. Auch die Interessen der Arbeiterklasse sind in sich widersprüchlich. Die Arbeiter wollen zum einen ihre Gesundheit schützen. Das kann jedoch mit der Absicht in Konflikt geraten, weiter der Lohnarbeit nachzugehen, um den für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Lohn zu erhalten. Ebenso kann das Bedürfnis nach Gesundheitsschutz mit dem Ziel kollidieren, dass die eigenen Kinder weiter in die Schule gehen können, um dort die notwendige Bildung zu erhalten, die zu Hause nicht oder nur unzulänglich vermittelt werden kann. Auch im Hinblick auf die Krisenpolitik sind die Interessen der Arbeiterklasse nicht eindeutig.(…) Der DGB und die BDA gaben am 13. März eine bemerkenswerte Stellungnahme ab, in der es heißt: »Die Sozialpartnerschaft ist einer der Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben sich in Krisenzeiten stets gemeinsam und verantwortungsvoll für das Gemeinwohl eingesetzt. (…) Die Klassenkonflikte waren mit der Pandemie jedenfalls nicht verschwunden…“ Vorabdruck des Aufsatzes von Thomas Sablowski aus dem Heft 200 der Zeitschrift Prokla (redaktionell leicht gekürzt), „Block an der Macht. Soziale Fragmentierung und politische Maßnahmen“ ist der Teil I in der jungen Welt vom 17.09.2020
, siehe nun auch den Teil II:
- Geschenke und Brosamen: Politik zugunsten der Kapitalisten
„Kurz nach der Verabschiedung der Maßnahmen der Bundesregierung zur Abmilderung der Krisenfolgen im März setzte die Debatte über weitere Maßnahmen ein. So forderte etwa der DIHK bereits am 5. April »ein zweites Coronapaket für die Wirtschaft«. Die Beschlüsse der Bundesregierung vom März gingen zwar in die richtige Richtung, seien aber noch vor dem eigentlichen Shutdown entwickelt worden. Die Unternehmen seien jetzt noch stärker betroffen als seinerzeit, daher seien neue Maßnahmen notwendig. (…) Die Aufstockung des Kurzarbeitergeldes muss auch vor dem Hintergrund des großen Niedriglohnsektors gesehen werden: Teile der Arbeiterklasse mit niedrigen Löhnen rutschen mit einem Kurzarbeitergeld von 60 Prozent unter das Existenzminimum. Zum Teil wird mit dieser Erhöhung die alternative Anhebung von Hartz IV/Grundsicherung vermieden. Durch die staatliche Aufstockung des Kurzarbeitergeldes werden außerdem gerade jene Großunternehmen und Branchen entlastet, die mit Betriebsräten oder Gewerkschaften durch Betriebsvereinbarungen oder Tarifverträge vorher bereits eine Anhebung des Kurzarbeitergeldes vereinbart hatten. Diese müssen sie nun nicht mehr selbst zahlen. Die Lohnabhängigen können sich zwar über die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes freuen, jedoch bedeutet die Kurzarbeit zugleich auch eine Umverteilung von den Lohnabhängigen zur Kapitalistenklasse. Über die Notwendigkeit eines staatlichen Konjunkturpakets bestand schnell breiter Konsens. Umstritten waren allerdings einzelne Maßnahmen. Die von den verschiedenen Verbänden gemachten Vorschläge repräsentierten unterschiedliche Interessenlagen. (…) Am 3. Juni verständigte sich der Koalitionsausschuss auf die Eckpunkte des Konjunkturpakets. Wie auch schon im März kommt das Gros der vereinbarten Maßnahmen unmittelbar den Unternehmen zugute. (…) Neben der Mehrwertsteuersenkung waren weitere steuerpolitische Maßnahmen vorgesehen. Die Möglichkeit des Verlustrücktrags wurde nochmals ausgeweitet und die Unternehmen dadurch um weitere zwei Milliarden Euro entlastet. (…) Eine weitere sehr wichtige Maßnahme zugunsten der Kapitalisten war die Deckelung der Sozialbeiträge bei insgesamt 40 Prozent. In jeder Krise steigen die Sozialausgaben an, während die Einnahmen der Sozialversicherungen aufgrund der wachsenden Erwerbslosigkeit sinken. Normalerweise müssten dann bei einer Kostendeckungslücke der Sozialversicherungen die Beitragssätze angehoben werden. Genau dieser Anstieg soll vermieden werden. Sollten die Ausgaben der Sozialversicherungen in Zukunft nicht durch die Sozialbeiträge gedeckt werden können, so werden entweder Zuschüsse aus dem Staatshaushalt fällig, die letztlich überproportional von den Lohnabhängigen bezahlt werden – oder Kürzungen der Sozialleistungen. (…) Wie in jeder Krise brechen die Profite zunächst schneller ein als die Löhne, so dass der Anteil der Profite am Wertprodukt sinkt. Um diesem Einbruch entgegenzuwirken, hat die Kapitalistenklasse in Deutschland alle Hebel in Bewegung gesetzt. Die meisten Maßnahmen der Bundesregierung dienen dazu, die Liquidität der Unternehmen zu erhalten und ihre Profitabilität wiederherzustellen. (…) In politischer Hinsicht konnte die Kapitalistenklasse ihre Hegemonie gegenüber den anderen Klassen vorerst festigen. Ein Anzeichen dafür ist, dass die politische Zustimmung zur Bundeskanzlerin und zur CDU/CSU als der dominanten Staatspartei, auf die die Kapitalistenklasse ihre Herrschaft hauptsächlich stützt, in der Krise gewachsen ist. Gerade die Tatsache, dass die Bundesregierung einerseits nicht jede ökonomisch-korporative Forderung einzelner Wirtschaftsverbände umgesetzt hat und andererseits kleinere materielle Zugeständnisse an die subalternen Klassen gemacht hat, spricht für eine funktionierende relative Autonomie des Staates – und eine Hegemonie der Kapitalistenklasse. Die Zugeständnisse an die beherrschten Klassen können allerdings auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kapitalistenklasse ihre Interessen im wesentlichen durchsetzen konnte und die Regierung eine Vielzahl der Forderungen der Wirtschaftsverbände erfüllt hat. Was die Gewerkschaften angeht, so scheint der Krisenkorporatismus als defensive Strategie zu dominieren. Auch dies kann als eine Wirkung der Hegemonie der Kapitalistenklasse verstanden werden. (…) Offene Arbeitskämpfe während der Krise wie der Streik bei Spargel Ritter in Bornheim sind bisher die Ausnahme – und sie finden an den »Rändern« des »Modells Deutschland« statt, wo dessen grundlegende Normen nicht gelten; entsprechend spielen dort auch andere Akteure wie die Freie Arbeiterinnen und Arbeiter Union (FAU) und andere Formen der Konfliktaustragung eine Rolle…“ Vorabdruck des Aufsatzes von Thomas Sablowski aus dem Heft 200 der Zeitschrift Prokla (redaktionell leicht gekürzt), Teil II in der jungen Welt vom 18.09.2020 - Siehe zum Thema u.a. auch unser Dossier: “Schlimmer als die Pandemie” – Wirtschaftskreise fordern Abkehr von Schutzmaßnahmen: Finanzschlacht um Covid-19-Profite hat begonnen