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Tödliche Textilproduktion. Die Überlebenden der Brandkatastrophe in Buenos Aires fordern seit 14 Jahren Gerechtigkeit

ila 438 mit dem Schwerpunkt "Textilien"Am 30. März 2006 kam es in einer Textilklitsche in der Luis-Viale-Straße in Buenos Aires zu einem Brand, bei dem sechs Menschen aus Bolivien starben. Verurteilt wurden nur die unmittelbaren Vorgesetzten, die als Betreiber der Werkstatt fungierten. Die eigentlichen Verantwortlichen und Profiteure der Misere sind bis heute straffrei davongekommen. Die Katastrophe hat ein Schlaglicht auf die Lebensbedingungen der migrantischen Arbeiter*innen in der Textilproduktion und die Mechanismen der Ausbeutung geworfen…“ Artikel von Alix Arnold aus der ila 438 externer Link mit dem Schwerpunkt „Textilien“ – wir danken! Siehe im Beitrag auch den Hintergrund aus dem LabourNet-Archiv:

Tödliche Textilproduktion

Die Überlebenden der Brandkatastrophe in Buenos Aires fordern seit 14 Jahren Gerechtigkeit

Am 30. März 2006 kam es in einer Textilklitsche (1) in der Luis-Viale-Straße in Buenos Aires zu einem Brand, bei dem sechs Menschen aus Bolivien starben. Verurteilt wurden nur die unmittelbaren Vorgesetzten, die als Betreiber der Werkstatt fungierten. Die eigentlichen Verantwortlichen und Profiteure der Misere sind bis heute straffrei davongekommen. Die Katastrophe hat ein Schlaglicht auf die Lebensbedingungen der migrantischen Arbeiter*innen in der Textilproduktion und die Mechanismen der Ausbeutung geworfen.

Ein Kabelbrand in der maroden und überlasteten Elektrik löste den Brand im ersten Stock des Gebäudes aus. Diejenigen, die sich in der Nähe der Treppe befanden, konnten sich retten. Fünf Kinder zwischen drei und 15 Jahren und eine schwangere Frau wurden von den Flammen eingeschlossen und starben. Der Vater eines der Kinder versuchte noch, zu ihnen durchzudringen, aber die beiden Feuerlöscher im Haus funktionierten nicht. 64 Personen wohnten hier, davon mehr als 20 Kinder, zusammengepfercht in „Zimmern“ von 3 mal 2,5 Metern, die nur durch Tücher oder Bretter voneinander getrennt waren. Kinder und Verwandte teilten sich Matratzen, es gab kein Esszimmer und nur eine Dusche für alle, ohne warmes Wasser. Die meisten Arbeiter*innen stammen aus Cantón Cohana, einem sehr armen Dorf in den bolivianischen Anden.

Die Lizenz von 2001 für die Werkstatt im Erdgeschoss erlaubte den Betrieb von fünf Nähmaschinen. Kontrollen hatten nie stattgefunden. Zum Zeitpunkt des Brandes standen in dem fensterlosen Raum 37 Nähmaschinen, die nach Aussagen eines Nachbarn Tag und Nacht liefen. Die bolivianischen Näher*innen arbeiteten von Montag bis Freitag täglich 14 Stunden und samstags fünf bis sechs. Laut informeller Absprache sollten sie pro Kleidungsstück zwischen 0,70 und 1,20 Pesos erhalten. Nach dem Brand berichteten die meisten Arbeiter*innen jedoch, dass sie die vereinbarte Summe schon seit fünf Monaten nicht mehr bekommen hatten. Die Betreiber der Werkstatt stellten die Unterkunft und innerhalb der Woche die Verpflegung für die Näher*innen und ihre Kinder, und jeden Freitag zahlten sie 50 Pesos, die gerade reichten, um die Lebensmittel für das Wochenende zu kaufen. 200 Pesos im Monat entspricht bei diesen Arbeitszeiten weniger als 20 Prozent des Tariflohns. Die meisten der bolivianischen Arbeiter*innen hatten keine Aufenthaltserlaubnis. Ohne Papiere und ohne die finanzielle Möglichkeit, eine Wohnung zu mieten, befanden sie sich in extremer Abhängigkeit von den Betreibern der Werkstatt und sahen sich gezwungen, diese Bedingungen hinzunehmen.

Der erste Prozess zu der Brandkatastrophe fand erst zehn Jahre später statt. Um die drohende Einstellung des Verfahrens zu verhindern und neben den Werkstattbetreibern auch die Besitzer vor Gericht zu bringen, hatten sich Überlebende Ende 2015 an Menschenrechtsgruppen gewandt und die Kampagne initiiert, die Gerechtigkeit für die Opfer fordert. Die beiden Betreiber der Werkstatt, ein Argentinier und ein Bolivianer, wurden im Juni 2016 zu 13 Jahren Haft verurteilt. Die ursprüngliche Anklage wegen des Brandes mit Todesfolge wurde aufgrund der sklavenartigen Verhältnisse in der Werkstatt noch um Menschenhandel (reducción a la servidumbre) erweitert. Nicht angeklagt waren jedoch die eigentlich Verantwortlichen für die Tragödie: Daniel Fischberg und Jaime Geiler, die Besitzer des Gebäudes und der drei Textilmarken, für die in der Werkstatt ausschließlich produziert wurde. Im Prozess gegen die Werkstattbetreiber konnte die Kampagne immerhin erreichen, dass der Richter Ermittlungen gegen Fischberg und Geiler anordnete. Das Verfahren gegen sie wurde jedoch im Mai 2019 eingestellt. Trotz der nicht zu leugnenden Verantwortung der Besitzer und der Aussage von Zeug*innen, dass Fischberg dort regelmäßig vor Ort war, sah der Richter keine Beweise dafür, dass die beiden von den Zuständen in ihrer Klitsche gewusst haben.

Das Urteil ist ein Freibrief für die Fortführung dieser lebensgefährlichen Ausbeutung von Migrant*innen in ausgelagerten Klitschen. 5000 gibt es allein in der Stadt Buenos Aires, im Großraum Buenos Aires sind es mehr als 15000. Selbst der Unternehmerverband der argentinischen Bekleidungsindustrie geht davon aus, dass mehr als 70 Prozent der Produktion im informellen Sektor stattfindet und der Anteil damit zu den höchsten in der Wirtschaft des Landes zählt. Der durchschnittliche Lohn ist der niedrigste in der gesamten Industrie. In dieser informellen Grauzone kommt es immer wieder zu angekündigten Tragödien wie in der Luis-Viale-Straße. Im April 2015 starben zwei Kinder bei einem Brand in einer Kellerwerkstatt im Stadtteil Flores, einem der Zentren der illegalen Textilproduktion, zwei Erwachsene wurden verletzt. Im Dezember 2018 starb ein elfjähriges Mädchen bei einem Brand in einer Klitsche im Stadtteil Mataderos.

Dieses Schwitzbudensystem begann in Argentinien Ende der 1980er-Jahre, als große Bekleidungsfabriken geschlossen und die Betriebe zu „Marken“ wurden, die sich nur noch um Modelle, Schnittmuster und den Vertrieb kümmern. Die Produktion wurde in kleine Werkstätten ausgelagert. Die Betriebe konnten so Lohnkosten reduzieren, Sozialabgaben umgehen und das Risiko der schwankenden Nachfrage auf die Klitschen abwälzen. Anfangs konnten Subunternehmer*innen, die Nähwerkstätten aufmachten, noch bessere Tarife mit den Modemarken aushandeln, aber mit der Zunahme von Werkstätten und billiger Arbeitskraft in dieser Branche begann ein ruinöser Wettbewerb. Manche Betreiber*innen versuchten, der Abhängigkeit von den Markenbetrieben durch selbstständige Produktion und eigene Vertriebswege zu entkommen. So entstand das Textilgebiet „Calle Avellaneda“ im Stadtteil Flores, wo Millionen Kleidungsstücke produziert und verkauft werden, und der riesige Markt für Markenpiraterie La Salada eröffnete 1999 eine dritte Halle (siehe ila 359).

Anstatt in eigenen Fabriken zu produzieren, stellen die Modebetriebe einem ihrer Angestellten eine Werkstatt mit Maschinen zur Verfügung und schließen einen fiktiven Mietvertrag ab. So entziehen sie sich der Verantwortung für die dort herrschenden Zustände. Der neue Werkstattbetreiber rekrutiert die Arbeitskräfte und arbeitet als Subunternehmer ausschließlich für die Marke, die die Preise und Bedingungen diktiert. Wenn er nach ein oder zwei Jahren die Investitionskosten abbezahlt hat, gehört ihm die Werkstatt. Manche, die mit wenigen Maschinen angefangen haben, wurden zu Besitzern mehrerer solcher Betriebe. Bei steigender Auftragslage wird wieder in neue Klitschen ausgelagert. Manche Modebetriebe sind deren direkte Auftraggeber, andere schalten Agenturen oder legale Fabriken dazwischen. So entsteht ein undurchsichtiges System von Subunternehmertum, in dem es sehr schwer ist, die Markenbetriebe als eigentliche Betreiber und Nutznießer der Sklavenarbeit zur Rechenschaft zu ziehen – ein System, das in einigen Branchen in Deutschland mit Werkverträgen ähnlich funktioniert. Von dem Verkaufspreis eines Kleidungsstückes streichen die Markenbetriebe etwa 30 Prozent ein; die Näher*innen bekommen höchstens 2,5 Prozent. Kontrollen sind kaum zu befürchten, und im Zweifelsfall schieben die auftraggebenden Betriebe – wie beim Brand in der Luis-Viale-Straße – die Verantwortung auf die Klitschenbetreiber ab.

Fischberg und Geiler betreiben ihr Geschäft mit anderen Werkstätten weiter, und sie bekamen mit der Einstellung des Verfahrens im Mai 2019 auch noch das Gebäude wieder zugesprochen. Die Überlebenden und Hinterbliebenen des Brandes, die sich zur Kampagne zusammengeschlossen haben, fordern seit Langem, dass dort ein Gedenkort für die Opfer und ein Mahnmal gegen Sklavenarbeit eingerichtet werden soll. Sie versuchen weiterhin auf juristischem Weg, eine Verurteilung der Hauptverantwortlichen zu erreichen, fordern von der Stadt die Enteignung des Gebäudes und sorgen mit öffentlichen Versammlungen und Aktionen dafür, dass die Opfer nicht vergessen werden: Juana Vilca Quispe (25 Jahre), Wilfredo Quispe Mendoza (15), Elías Carabajal Quispe (10), Luis Quispe Carabajal (4), Rodrigo Quispe Carabajal (4) und Harry Rodríguez Palma (3).

Artikel von Alix Arnold aus der ila 438 externer Link mit dem Schwerpunkt „Textilien“ – wir danken!

Anmerkung

(1) Informelle halb- bzw. illegale Werkstätten mit besonders krassen und gefährlichen Ausbeutungsbedingungen werden in politischen Zusammenhängen, die sich mit prekärer Arbeit beschäftigen, als Klitschen oder Schwitzbuden (von engl. Sweatshop) bezeichnet (die Red.).

Siehe dazu auch:

  • Die Homepage der Überlebenden: https://juicioluisviale.wordpress.com/ externer Link
  • 6 Tote bei Brand von Textilfabrik in Argentina
    „Bei einem Brand in einem Textilbetrieb in Caballito/Argentinien starben am Donnerstag, 30. Maerz 2006, sechs Personen. Vier davon waren Kinder von Textilarbeiterinnen, die in einer abgesperrten Zone des Betriebs hinter Gittern eingeschlossen waren und nicht rechtzeitig befreit werden konnten.Deutsche Zusammenfassung eines Artikels aus Prensa De Frente [im LabourNet-Archiv] – noticias de los movimientos populares por el cambio social Argentina mit weiteren (spanischen) Hintergrundinformationen
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=178187
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