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Massive Streikbewegung in Belarus: Ein System wankt – auch weil unabhängige Gewerkschaften mobilisieren und Einheiten der Polizei ihre deutsche Ausbildung vergessen

Plakat zum Belarus-Solitag 14.8.2020Der #Arbeiteraufstand in #Belarus ist jetzt wirklich riesig, wie diese Bilder von Telegram aus #Minsk, #Hrodna und #Salihorsk zeigen. Er hat das ganze Land erfasst und alle großen staatlichen Betriebe erreicht“ – so ein Tweet am 14. August 2020 im Twitter-Kanal von Jan-Henrik Wiebe externer Link in dessen Thread allerlei seltsame Mutmaßungen über „russische Einmischung“ angestellt werden (und die Wirkungen der medialen Propagandaschlachten auf soziale Netzwerke indirekt verdeutlicht). In dem Kanal werden die meisten Meldungen zu den Streiks in Belarus dokumentiert, und daraus wird tatsächlich deutlich, dass es sich um eine Massenbewegung handelt. Siehe dazu eine kleine aktuelle Materialsammlung vom 16. August 2020 mit Beiträgen zu Protesten und Streiks an diesem Wochenende, zur unterschiedlichen Rolle der Polizei (und wieder einmal dabei auch der bundesdeutschen…), zu politischen und wirtschaftlichen Hintergründen der aktuellen Situation – inklusive der Dokumentation des Aufrufs der unabhängigen Gewerkschaften Belarus, weiter zu mobilisieren, sowie dem Verweis auf den bisher letzten unserer zahlreichen Beiträge zur Entwicklung in Belarus:

Die Minsker Staatsbetriebe sind im Streik, und im ganzen Land wird heute gegen Lukaschenko demonstriertam 14. August 2020 im Twitter-Kanal von Jo Regan externer Link ist ein weiterer Tweet über die Streikbewegung am Freitag, 14. August 2020 – die, versucht man sich einen Überblick über zahlreiche einzelne Meldungen zu verschaffen, offensichtlich im Verlauf des Freitag Nachmittag richtig „Fahrt aufgenommen“ hat…

Striking workers of the huge Minsk Tractor Works are marching through the capital’s streets too“ am 14. August 2020 im Twitter-Kanal von Matthew Luxmoore externer Link berichtet von der Demonstration der streikenden Belegschaft eines der größten Betriebe in der Hauptstadt von Belarus…

„The march in Brest has gathered thousands of peaceful protesters“ am 15. August 2020 im Twitter-Kanal von Franak Viacorka ist ein Videobericht von der Großdemonstration in Brest – der deutlich macht, dass die Bewegung eben auch außerhalb der Hauptstadt stark ist und weiter anwächst – und dass sie eben auch an diesem Wochenende „weiter macht“…

„Unglaubliche Szenen gerade in #Minsk. Die Polizisten vor dem Parlament haben die Schilder gesenkt und werden von den Leuten umarmt. Offenbar haben sie die Seiten gewechselt“ ebenfalls am 14. August 2020 im Twitter-Kanal von Jan-Henrik Wiebe externer Link ist einer der zahlreichen Videoberichte, die von Szenen der Polizei berichten, die sich weigert, gegen die Demonstrationen vorzugehen…

„Polizei schulte Lukaschenkos Miliz“ von Wolf Schmidt am 24. August 2012 in der taz online externer Link über Ausbildung in Einzelfällen: „… Die deutschen Sicherheitsbehörden kommen nicht aus der Kritik. Der neueste Aufreger: Beamte der Bundespolizei und des Bundeskriminalamts haben in größerem Umfang und weit länger als bisher bekannt weißrussische Sicherheitskräfte ausgebildet. Wie die Bundesregierung am Freitag bestätigte, seien von 2007 an rund 500 Beamte des autoritären Regimes teils in Deutschland, teils in Weißrussland in mehrtägigen Kursen geschult worden. Neben weißrussischen Grenzschützern waren unter den Teilnehmern auch Offiziere der berüchtigten Milizen, die in ihrem Land immer wieder gewaltsam gegen Demonstranten vorgehen. Der Tagesspiegel hatte zuvor das Ausmaß der brisanten Kooperation mit dem Regime von Alexander Lukaschenko öffentlich gemacht. Die Sicherheitskräfte aus Weißrussland – in den Medien oft als „letzte Diktatur Europas“ bezeichnet – erhielten von den Deutschen unter anderem Lehrgänge zur Bekämpfung illegaler Einwanderung und des Menschenhandels. Außerdem sollten sie von den deutschen Beamten die „Bewältigung von polizeilichen Lagen aus besonderem Anlass“ erlernen, weshalb im November 2010 weißrussische Polizisten auch den Einsatz im Rahmen des Castortransports in Niedersachsen beobachten durften. Dort ging es damals hoch her: Die Polizei setzte Wasserwerfer, Reizgas und Schlagstöcke ein, die Atomkraftgegner beklagten hinterher mehr als 500 Verletzte…

„“They were beating me and ask what I don’t like about the country.” What do the people coming out of the detention prison on Okrestino say“ am 15. August 2020 beim Anarchist Black Cross Belarus externer Link ist eine Dokumentation von Aussagen von Aktiven, die während der Proteste festgenommen worden waren, über ihre „Erfahrungen“ in den Gefängnissen des Regimes – denn es gibt Rebellion bei der Polizei, aber bisher noch minderheitlich, die Aussagen machen dies deutlich…

„Zigtausende im Streik gegen Wahlfälschung“ am 15. August 2020 bei den Rote Fahne News externer Link meldet: „… Die Streikenden in Belarus fordern Neuwahlen, Freilassung der Verhafteten, Schluss mit dem brutalen Terror der Miliz und der Innenministeriumstruppen gegen die Protestierenden. Sie fordern ein Einlenken Lukaschenkos bis zum 18. August. Anderenfalls würden sie unbefristet weiter streiken. Am 14. August machte Lukaschenko erste Schritte zurück. 1000 der 7000 Verhafteten wurden freigelassen. Voller Empörung wiesen sie auf die Wunden, Blutergüsse; die sie bei der Folter erhalten hatten, hin und prangerten die unmenschliche Behandlung an, eng zusammengepfercht in den Gefängnissen. Lukaschenko besuchte die Streikenden des Elektrotechnischen Werks. Einige hielten Schilder empor: „Geh davon!“ Sie stellten die oben genannten Forderungen. Aber Lukaschenko ging nicht darauf ein. Dies ist eine bedeutende Höherentwicklung und Verbreiterung des massenhaften Kampfs der Bevölkerung von Belarus für demokratische Wahlen und demokratische Rechte…“

„Minikrise in Minsk“ von Reinhard Lauterbach am 15. August 2020 in der jungen welt externer Link zu ökonomischen Hintergründen der aktuellen Entwicklung: „… Nicht ermutigend ist die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Seit 2010 herrscht im Grunde Stagnation, und auch das Jahresergebnis 2019 (ein Prozent Wachstum) bestätigt diese Einschätzung. Für dieses Jahr haben die Prognosen deutlich ins Minus gedreht: Ökonomen erwarten Rückgänge zwischen vier und zehn Prozent. Die Kurve des Sozialprodukts verläuft dabei weitgehend parallel mit der des russischen. Die Zentralbank in Moskau war vor kurzem froh, einen Rückgang von »nur« 8,5 Prozent melden zu können – man hatte Schlimmeres erwartet. Besonders hart traf es den belarussischen Außenhandel. Er ging nach Angaben des Statistikamts in Minsk im ersten Halbjahr um rund ein Viertel von 35 auf 26 Milliarden US-Dollar zurück. Das hängt vor allem an einem starken Abfallen des Exports in die EU. Russland reduzierte den belarussischen Export nicht so stark, so dass im Ergebnis der Anteil heute höher liegen dürfte als die 48 Prozent, die Anfang des Jahres gemessen wurden.  Dass der Export in die EU so stark zurückging, hat zwei Gründe. Belarus exportiert dorthin vor allem Treibstoffe. Die Nachfrage nach diesen ist infolge der Coronakrise in absoluten Zahlen gesunken. Bereits vorher aber hatte Belarus im Streit über die Lieferkonditionen den Import von russischem Öl auf ein Drittel reduziert. Das führte dazu, dass die Raffinerien des Landes nicht ausgelastet sind. Der Betreiberkonzern Belneftechim räumte im Juni auf einer Investorenkonferenz ein, dass allein für den Schuldendienst inzwischen 61 Prozent der laufenden Erlöse aufgewendet werden müssten. Neun Betriebe des Unternehmens stehen nach einem Bericht des russischen Portals Eadaily.com vom Mittwoch am Rande der Insolvenz. Sollte Belneftechim weiter in Schwierigkeiten geraten, hätte das weitreichende Folgen für die Volkswirtschaft. Die Holding produziert nicht nur Benzin und Diesel, sondern steht mit angeschlossenen Reifen-, Kunstfaser- und Düngemittelfabriken für ein knappes Drittel der Industrieproduktion. Russland trägt zu den Schwierigkeiten des Konzerns bei: Es hat zum 1. Juni den Reexport von belarussischem Benzin auf den russischen Markt verboten. Böswillige könnten hierin sogar eine Spekulation mit dem Ziel vermuten, Belneftechim übernahmereif zu machen. Etlichen anderen Filetstücken der belarussischen Industrie ist das auch schon passiert...“

„Strikes in Belarus Escalate as Lukashenko’s Power Wavers“ am 15. August 2020 bei libcom.org externer Link ist einerseits der Versuch, einen gesamten Überblick über die Streikbewegung zu geben – die inzwischen alle wesentlichen Bereiche erfasst hat und wo es neben Industriebetrieben auch beispielsweise zahlreiche Krankenhäuser gebe, die bestreikt sind. Dabei wird vor allem unterstrichen, dass diese Streiks längst über die großen Städte hinaus reichen und auch jene kleineren Orte erreicht haben, die bisher in der Regel eher eine Stütze des Regimes waren. Andererseits wird in dem Beitrag auch darauf verwiesen, dass diese aktuellen Streiks auch bedeuten können, dass sich der Charakter der Bewegung ändert, über die grundlegenden demokratischen Forderungen hinaus…

„Partisans or Workers? Figures of Belarusian Protest and Their Prospects“ von Volodymyr Artiukh am 15. August 2020 bei LeftEast externer Link ist ein Beitrag, der zum Einen unterstreicht, dass die aktuelle Bewegung eindeutig eine spontane Bewegung ist, in der organisierte politische Gruppen keine wesentliche sichtbare Rolle einnehmen – zum  anderen befasst sich der Autor ausführlich auch mit der Situation der Arbeiterbewegung in Belarus und deren potenzieller Rolle in der aktuellen Situation.

„After 26 years of dictatorship, support the people of Belarus!“ am 15. August 2020 beim Alternativen Gewerkschaftlichen Netzwerk für Solidarität und Kampf externer Link (dem auch LabourNet Germany angehört) ist Solidaritätserklärung und –Aufruf zugleich, den wir hiermit dokumentieren (im Gegensatz zu entsprechenden Erklärungen von internationalen Gewerkschaftsföderationen, die etwa zu Polizeiwillkür in den USA oder Frankreich „Sendepause“ einlegen und den Eindruck erwecken, immer dann zu protestieren, wenn es dem jeweiligen Außenministerium „behagt“…)

Open Appeal by the Belarusian Independent Trade Union to workers
vom 13. August 2020 ist der Aufruf der Unabhängigen Gewerkschaft Belarus zur Aktion gegen das Regime, wie er (unter anderem eben) auch per Email in den letzten Tagen verbreitet wurde. Darin wird zur Selbstorganisation und zum Verlassen der staatlichen gelenkten Massenorganisationen, inklusive der System-Gewerkschaften aufgerufen
The authorities’ actions – in falsifying the election results, breaching human rights, instigating mass arrests and beatings of peaceful protesters and passers-by across the whole country – could all lead to irreversible consequences for Belarus. We are hearing ever-louder announcements from the European Union and the United States, that they are ready to impose various sanctions, including economic ones, on Belarus as a state that is trampling cynically on the rights and freedoms of its citizens. Closure of the western markets for our products and services would be a catastrophe for our enterprises. The impact of this would be borne first of all by ordinary workers, who are in a bad enough situation already. To defend ourselves and our freedom of action at the workplace, we propose the following pattern of simple collective actions:

1. Quit the state’s social organisations, such as the [government-supported] Federation of Belarusian Trade Unions, [the pro-presidential civic-political association] Belaya Rus and the Belarusian Republican Union of Youth. If you remain in these organisations, you are actually confirming your support for [president] Aleksandr Lukashenko.

2. Join the independent trade unions at your workplace, and if there is not one – organise it yourself.

3. Organise a mass meeting, declare “no confidence” in the results of the elections, and send it to the Central Electoral Commission. Collect signatures of those who did not vote for Lukashenko.

4. Present demands to the management of your workplace, and the local authorities, for the cessation of aggression and violence on the part of the security services; for guarantees of safety for the enterprises’ workers and their families; of a guarantee that no-one will be dismissed on account of being seized [by the police] on the streets.

5. Record any mass meetings and demands in minutes; record videos; take photos and send this material to independent media.

In unity there is strength! In solidarity, Maksim Poznyakov, president of the Belarusian Independent Trade Union

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=176854
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