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Massenproteste in Bulgarien gehen weiter: Gegen Korruption. Wessen?

Massenproteste in Bulgarien gehen weiter: Gegen Korruption. Wessen?„… Seit Wochen fordern Regierungsgegner in Bulgarien den Rücktritt der Regierung. Die Enttäuschung über Korruption und Nepotismus ist groß. Doch Ministerpräsident Borissow blockt ab – und verweist auf die Wahlen 2021. Konkrete Wut, vage Aussichten: So ließe sich die Protestbewegung in Bulgarien umschreiben, die seit gut drei Wochen auch außerhalb des Landes für Aufsehen sorgt. Die Demonstrierenden haben den Verkehr in Teilen der Sofioter Innenstadt lahmgelegt und wollen damit fortfahren, bis ihre Forderung nach Neuwahlen erfüllt ist. Bei den Teilnehmern handelt es sich um eine breitgefächerte Mischung aus Regierungsgegnern fast jeglicher Couleur. Da sind Anhänger der oppositionellen „Bulgarischen Sozialistischen Partei“, die sich allerdings keine Hoffnung machen kann, an die Spitze der Proteste zu gelangen. Eine Mehrheit der Unzufriedenen misstraut der ehemaligen Regierungspartei nämlich mindestens so sehr wie der konservativ-nationalistischen Regierungskoalition…“ so die Einleitung des (abopflichtigen) Beitrags „Aufgestauter Zorn“ von Michael Martens am 01. August 2020 im Faz.net externer Link die bereits deutlich macht, dass, wie in anderen Ländern (nicht nur) der Region auch, die Proteste gegen Korruption aus ganz unterschiedlichen Quellen und Strömungen zusammen fließen. Siehe dazu drei weitere Beiträge zu Charakter, Entwicklung und Hintergründen der aktuellen Protestbewegung – sowie zwei Beiträge, die deutlich machen, wie die EU und die BRD dieses Regime stützen:

„Die Wut der Rückkehrer“ von Mathias Fiedler am 23. Juli 2020 in der jungle world externer Link (Ausgabe 30/2020) zu einigen der Quellen der Proteste: „… Immer wieder haben Bulgarinnen und Bulgaren gegen Korruption, aber auch gegen illegale Bauvorhaben in Naturschutzgebieten protestiert. Die letzten größeren Proteste gab es 2018, als in Pirin ein Nationalpark einem Skigebiet weichen sollte. Anfang 2013 hatten schon einmal große Proteste gegen die erste Regierung unter Borissow stattgefunden. Diese trat damals infolge der Proteste zurück. Bulgariens Bevölkerung schrumpft rapide, viele wandern aus. Wer bleibt, landet oft in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Raia Apostolova, eine bulgarische Soziologin und Redakteurin der linken ­Online-Zeitung Diversia, sieht den einzigen Ausweg aus der gegenwärtigen sozioökonomischen und politischen Krise in einer starken linken Partei. Diese müsste für eine progressive Steuerreform und den Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eintreten, sagt Apostolova im Gespräch mit der Jungle World. Zudem müsste sie verhindern, dass weitere öffentliche Güter privatisiert werden. Dem aktuellen Bericht von Transparency International zufolge ist Bulgarien das korrupteste Land der EU. Auf dem Pressefreiheitsindex von »Reporter ohne Grenzen« belegt es Platz 111 von 180. Borissow regiert das Land mit ­Unterbrechungen seit Juli 2009, zweimal musste er sein Amt bereits auf­gegeben. Für seine dritte Amtszeit bildete er 2017 eine Koalition mit dem rechtsextremen Wahlbündnis »Vereinigte Patrioten« (Jungle World 42/2017). Im März kommenden Jahres soll eine Parlamentswahl stattfinden. Am Dienstag stellte die BSP einen Misstrauensantrag gegen die Regierung. Dieser blieb erfolglos. Zu ersten gewaltsamen Ausschreitungen kam es, als am Dienstagabend ­voriger Woche wütende Protestierende versuchten, in die einstige Zentrale der früheren kommunistischen Staatspartei einzudringen. Dort befinden sich inzwischen die Arbeitsräume der Parlamentsabgeordneten. Die Protestierenden schlugen die Scheiben der Eingangstür ein, wurden aber von der Polizei aufgehalten. Apostolova zufolge ist auffällig, dass viele zurückgekehrte Auswanderinnen und Auswanderer an den Protesten teilnehmen. Bürgerinnen und Bürger, die über längere Zeit im Ausland gelebt haben, seien eine wachsende soziale Klasse in Bulgarien. Diese äußere bei den Protesten am deutlichsten Kritik. Häufig könne man bei den Protesten zudem Schilder sehen, auf denen steht: »Ich protestiere, damit ich nicht auswandern muss.« Viele Bulgarinnen und Bulgaren fürchteten die soziale Unsicherheit, die sowohl mit einem Leben im Ausland einhergehe als auch damit, in Bulgarien zu bleiben. Die Renten in Bulgarien sind sehr niedrig. Die Gesundheitsversorgung, die Pflege älterer Menschen und die Betreuung von Menschen mit Behinderungen sind mangelhaft. Apostolova sagt, an den Protesten nehme eine Vielzahl von Gruppen teil. In den Medien würden die Menschen auf der Straße oft als intelligente und kreative Jugendliche dargestellt; es sei von einer Art Generationenkonflikt die Rede. Sie teilt diese Diagnose nicht: »Es ist klar, dass die Demonstrierenden aus verschiedenen Altersgruppen stammen. Was sich jedoch als eine unglaublich wichtige Gruppe von Protestierenden ­herausstellt, ist ein antikapitalistischer Block, der eine sozialistische, kommunistische und linke Politik in den Bereichen Ökologie, Bildung, Ökonomie, Fürsorge und Sexualität fordert…“ – Mittlerweile haben die Protestierenden ein Camp in der Hauptstadt Sofia errichtet – siehe für aktuelle Berichte Yvonne Samsarova (@yvonnesamsarova)

„»Proteste haben in Bulgarien Tradition«“ von Felix Jaitner am 30. Juli 2020 in nd online externer Link ist ein Gespräch mit dem Soziologen Lyubomir Pozharliev, worin dieser unter anderem unterstreicht: „… In Bulgarien sind die Verbindungen zwischen Oligarchie, organisiertem Verbrechen und der politischen Elite äußerst eng. Ein Tycoon wie der bereits erwähnte Wasil Boschkow zieht seit 30 Jahren im Hintergrund die Strippen, länger als jede demokratisch gewählte Partei. Das gilt auch für einige andere Oligarchen wie Ahmed Dogan, der langjährige Parteivorsitzende der »Bewegung für Rechte und Freiheiten«, die Interessenvertretung der türkischen Bulgaren. Diese Leute pflegen enge Beziehungen zu jeder einflussreichen politischen Partei im Land, mit problematischen Folgen: In Bulgarien gibt es ein großes Repräsentationsproblem. In keinem anderen EU-Land – außer in Kroatien – ist die Medienfreiheit so bedroht. Das zeigt auch die Berichterstattung über die Proteste, die oft kaum objektiv ist. Deshalb wird auch immer wieder der Rücktritt des Vorsitzenden des staatlichen Fernsehens gefordert. Hinzu kommt: Der zweitgrößte TV-Sender Nova TV gehört zwei Brüdern mit exzellenten Beziehungen zu Ministerpräsident Bojko Borissow. Die Zusammensetzung der Proteste ist sehr divers und wird vor allem von jungen Menschen getragen. Sichtbar sind neben Vertretern von zivilgesellschaftlichen Organisationen die Anhänger verschiedener Parteien wie »Ja, Bulgarien!«, eine linksliberal-grüne und pro-europäische Kraft, die sich stark gegen Korruption engagiert. Da sie erst 2017 gegründet wurde, ist die Partei nicht im Parlament vertreten. Auch die Sozialisten, die größte Oppositionspartei, sind auf die Protestwelle aufgesprungen, wobei sie keinesfalls der wichtigste Akteur sind. Nicht zuletzt mobilisieren einzelne Oligarchen wie Boschkow, deren Geschäftsinteressen unmittelbar durch die Regierung bedroht sind, ihre Anhänger. Dementsprechend gibt es sehr unterschiedliche inhaltliche Forderungen. Es ist bereits ein großer Erfolg, dass die Menschen ihre demokratischen Rechte einfordern. Es gibt Leute, die seit 1989 an den meisten Protesten teilgenommen haben. Neu ist jedoch, dass die sogenannten Millenials zum ersten Mal auf der Straße sind. Proteste haben im postsozialistischen Bulgarien Tradition. Es ist richtig: Die Protestbewegung in den Jahren 2013 bis 2014 entstand aus denselben Gründen, aber das bedeutet auch, dass sich in Bulgarien seit der Transformation eine Tradition herausgebildet hat, Bürgerrechte auszuüben und von der Politik einzufordern. Dieses Verständnis der Proteste ist viel aufschlussreicher als die offizielle Erzählung der Regierung, wonach sie ausschließlich von im Hintergrund agierenden Einflussgruppen gesteuert werden. Außerdem wurden, trotz der heterogenen Forderungen, bereits Erfolge erzielt: Aufgrund des wachsenden öffentlichen Drucks musste Ministerpräsident Borissow drei Minister entlassen, weil ihnen enge Verbindungen zu Oligarchen nachgewiesen werden konnten...“

„Bulgarischer Sommer: Volksfront zur Rückeroberung des gekaperten Staates“ von Frank Stier am 16. Juli 2020 bei telepolis externer Link zur Zusammensetzung und Richtung der aktuellen Proteste und den Positionen der bulgarischen Regierung: „… „Warten wir den Europäischen Rat ab, dann reden wir weiter“, sprach Bulgariens bedrückt wirkender Ministerpräsident Boiko Borissov am Mittwochmorgen während der Kabinettssitzung in die Kameras. Am kommenden Wochenende wolle er in Brüssel noch „Geld für Bulgarien verteidigen“, dann werde man weitersehen. Seit einer Woche wächst der Protest auf den Straßen Sofias und anderer bulgarischer Städte gegen ihn rasant, mehrfach hat Borissov einen Rücktritt seiner Regierung aber kategorisch ausgeschlossen. Am Samstagabend wandte er sich via Facebook aus seinem Haus in Bankia an die Bulgaren und zog eine positive Bilanz seiner Amtstätigkeit. „In zehn Jahren haben wir doppelt so viele Autobahnen gebaut wie Todor Schivkov“, sagte er, „wir haben mehr errichtet als alle bisherigen Ministerpräsidenten zusammen. Und während der Pandemie wurden wir als Beispiel in Europa gelobt, weil wir sie am besten bewältigt haben.. Auch habe die Europäische Union (EU) Bulgarien endlich in den Euro-Wartraum ERM II aufgenommen, lobte sich Borissov. Seine von Zweifel geprägten Worte am Mittwochmorgen im Kreise seiner Minister schienen ein Umdenken anzudeuten. Dass der mit Unterbrechungen seit dem Sommer 2009 das Balkanland regierende Borissov auch seine dritte Amtszeit vorzeitig beenden wird, ist nicht mehr ausgeschlossen. Das Paradoxe an der Situation ist allerdings, dass der Führer der rechtsgerichteten Partei „Bürger für eine Europäische Entwicklung „Bulgariens (GERB) Meinungsumfragen zufolge noch immer einer der Politiker mit den größten Zustimmungswerten ist, weit vor seiner Herausforderin Kornelia Ninova von der Bulgarischen Sozialistischen Partei (BSP). (…) Ob die Parlamentswahlen nun vorgezogen im Herbst 2020 stattfinden oder regulär im März 2021, dem bulgarischen Stimmbürger werden zahlreiche neue Parteien zur Wahl stehen. Vasil Boschkov hat angekündigt, mit seiner neuen Partei mit dem Namen „Bulgarischer Sommer“ die „herrschende Junta“ zu stürzen. Außer der früheren Ombudsfrau Maja Manolova und dem populären Showmaster Slavi Trifonov will zudem der frühere Innenminister und langjährige Stellvertreter Borissovs im GERB-Partvorsitz Tsvetan Tsvetanov mit einer eigenen Partei zur Wahl antreten. Ob all die neuen politischen Formationen Bulgariens sklerotisches Parteiensystem aus Gerberisten, Sozialisten, Türken und Nationalisten aber kurieren können, bleibt ungewiss…“

„Oligarchie von EU-Gnaden“ von Felix Jaitner am 30. Juli 2020 in nd online externer Link zu einer der wesentlichen Stützen des Regimes in Bulgarien: „… Am Montag beschloss die Regierung ein weiteres Corona-Hilfspaket im Umfang von rund 590 Millionen Euro. Als Antwort auf die Wirtschaftskrise waren bereits soziale und wirtschaftliche Nothilfemaßnahmen im Wert von 2,3 Milliarden Euro verabschiedet worden, wobei ein Großteil der Summe staatliche Bürgschaften und Kredite ausmachen. Nur 250 Millionen Euro sind für Gesundheit, Inneres und Verteidigung vorgesehen – ein staatliches Konjunkturprogramm sieht anders aus. Angesichts der sich abzeichnenden Rezession sind die Maßnahmen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Nach Angaben der bulgarischen Gewerkschaften werden von den insgesamt 2,3 Millionen Arbeitern und Angestellten im Land vermutlich 300 000 bis Ende des Jahres ihre Jobs verlieren. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts »Trend« glauben nur 25 Prozent, ihr Arbeitsplatz sei sicher, knapp 50 Prozent erwarten, dass infolge der Corona-Krise ihre Einkommen sinken werden. Dabei verdiente nach Angaben der Statistikbehörde Eurostat 2019 ein bulgarischer Arbeiter ohne Kinder gerade einmal 600 Euro pro Monat, der Tiefstwert in der EU. (…) In den 1990er Jahren profitierten einzelne Geschäftsleute von den Privatisierungsprozessen, indem sie sich unter zwielichtigen Methoden lukrative Staatsbetriebe aneigneten. Heute kontrolliert eine kleine Anzahl mächtiger Unternehmer ganze Wirtschaftszweige wie den Tourismussektor, die Immobilien- und Medienbranche oder das Glücksspiel. Ihre einflussreiche Position sichern die Oligarchen ab, indem sie politische Parteien – unabhängig der politischen Couleur – finanzieren oder wie Dogan selber in die Politik gehen. Doch die Oligarchie sitzt nicht nur innenpolitisch fest im Sattel, auch die EU stützt dieses System. Weder erhob sie eine rechtsstaatliche Untersuchung des Privatisierungsprozesses zur Beitrittsbedingung noch unternimmt der Staatenbund wirksame Schritte zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage. Es ist dieses oligarchische System gegen das die Menschen in Bulgarien protestieren – und nicht zum ersten Mal. Von 2013 bis 2014 wurde das Land fast ein ganzes Jahr von einer Protestwelle erfasst, die erst Borissow und danach den Sozialisten Plamen Orescharski aus dem Amt jagte…“

„Vertiefte Militärkooperation trotz Regierungskrise“ ebenfalls von Felix Jaitner bereits am 16. Juli 2020 in nd online externer Link zur besonderen Rolle der BRD beim EU-Stützungsprogramm für das Regime: „… Die CDU-Chefin ist auf Osteuropareise und wirbt für eine engere militärische Integration der Europäischen Union. Unter den Mitgliedsstaaten gebe es unterschiedliche Wahrnehmungen zu Russland, kritisierte die Verteidigungsministerin Anfang der Woche. Das sei »problematisch«. Die laufende deutsche EU-Ratspräsidentschaft will die Bundesregierung daher nutzen, um einen »strategischen Kompass« zu entwickeln, in der die EU eine gemeinsame Bedrohungsanalyse zu Russland entwickelt. Anders als Polen, das erste Reiseziel der Kramp-Karrenbauers, pflegt Bulgarien gute Beziehungen zu Russland. Dennoch bekräftigten die Verteidigungsministerin bei ihrem Treffen in Sofia, die militärische Zusammenarbeit beider Länder auszubauen. So sollen Offiziere der bulgarischen Armee künftig an deutschen Generalstabslehrgängen teilnehmen. »Wir wollen auch die Zusammenarbeit im Bereich der Rüstungskooperationen und der Rüstungsprojekte verstärken«, sagte Kramp-Karrenbauer. Karakatschanow wird diese Ankündigung mit Freuden vernommen haben, denn »Erfolgsmeldungen« sind bei ihm derzeit rar. Seine Regierung steht innenpolitisch unter Druck: Seit einer Woche fordern Demonstrierende den Rücktritt von Ministerpräsident Bojko Borissow und des bulgarischen Generalstaatsanwalts. Seit Beginn der Demonstrationen gehen nach Schätzungen trotz Coronakrise täglich bis zu 10 000 Menschen im gesamten Land auf die Straße…“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=176324
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