»
Brasilien »
»
»
Brasilien »
»
»
Brasilien »
» »

Schaffen Brasiliens Fußballfans, was die Linke nicht geschafft hat? Die rote Karte für Bolsonaro und die Rassisten?

Der zweitberühmteste Fussbalclub Brasiliens mit demokratischer TraditionÜber die gemeinsame Aktion gegen die Bolsonaro-Regierung  der organisierten Fans von Corinthians und Palmeiras in São Paulo (gerüchteweise sollen auch welche vom FC dabei gewesen sein, aber das wäre dann in der Regel auch schon ein Klassenunterschied) wurde auch in bundesdeutschen Medien bereits verschiedentlich berichtet. (Siehe unseren Beitrag vom 03. Juni 2020). Das hat aber noch ganz andere Dimensionen: In Belo Horizonte (ja, genau dort, wo die DFB-Auswahl 2014 der Europäisierung des brasilianischen Fußballs ein Ende gesetzt hat) haben sich die Fans von Atletico und Cruzeiro zum Protest gegen Bolsonaro (und den vielleicht noch rechteren Gouverneur Zema) zusammen getan (und wer das auch nur ein bisschen kennt, weiß, wie freundschaftlich sich die Fans von Borussia und Schalke gesinnt sind) – und selbst in Curitiba (angeblich Millionenstadt, in Wirklichkeit das brasilianische Bielefeld) die des Furacão und die Grün-Weißen. Und, im Gegensatz etwa zu den eingangs genannten Corinthians sind das in der Regel Vereine mit keineswegs demokratischen Traditionen: Palmeiras und Cruzeiro beispielsweise gehörten zur unsäglichen Familie der Clubs, die bis in die 40er Jahre hinein „Palestra Italia“ hießen – „Deck- und Tarnorganisationen“ brasilianischer Mussolini-Fans. Die Mobilisierung war jeweils massiv und beteiligt waren extrem viele Menschen, deren bisherige Demonstrationsteilnahmen ausschließlich beim jeweiligen „Marsch ins Stadion“ stattfanden. Und sie ziehen viele andere mit sich, die „die Schnauze voll“ haben – nicht zuletzt von der Mordmaschine Militärpolizei, aber sich von einer Linken, samt ihren Gewerkschaften, nicht mobilisieren lassen wollen, die zwischen der penetranten Lula-Vergötterung der Sozialdemokratie und sektiererischen „sind sowieso alle gleich“ Positionen reichlich unbeweglich eingemauert ist. Siehe dazu unsere kleine aktuelle Materialsammlung „Rote Karte für Bolsonaro und die Rassisten?“ vom 10. Juni 2020:

„Rote Karte für Bolsonaro und die Rassisten?“

„Massive rassistische Polizeigewalt“ von Sunny Riedel am 08. Juni 2020 in der taz online externer Link zum aktuellen Wirken der Mordmaschinerie in Brasilien: „… In derselben Woche, in der der US-Amerikaner George Floyd von einem Polizisten brutal getötet wurde, starb auch der 14-jährige Afrobrasilianer João Pedro in einem Vorort von Rio de Janeiro, ein Polizist erschoss ihn bei einer Razzia. Im vergangenen September war die 8-jährige Agatha im Auto mit einem Schuss in den Rücken getötet worden. Der Schütze war Militärpolizist, Agatha war Schwarz. Von Januar 2016 bis März 2017 wurden in der Olympiastadt Rio nach offiziellen Zahlen 1.277 Menschen bei Polizeiaktionen getötet. Fast 90 Prozent davon Schwarze Menschen. Brasilien hat ein massives Problem mit rassistischer Polizeigewalt. Die Bevölkerung des Landes, das als letzter amerikanischer Staat 1888 die Sklaverei offiziell abschaffte, setzt sich zu 56 Prozent aus Nachkommen von Sklaven zusammen. Sie verdienen mindestens 33 Prozent weniger als Weiße in vergleichbaren Jobs. 60 Prozent der Gefängnisinsassen sind Schwarz. Schwarze sind unterdurchschnittlich in öffentlichen Ämtern oder in Universitäten vertreten, obwohl es seit 2001 sogar eine Quote gibt...“

„Bolsonaro und die Demontage Brasiliens“ von Andrea Dip im April 2020 bei der Rosa Luxemburg Stiftung externer Link ist eine Analyse des Wirkens der regierenden Rechtsradikalen und des bisher nicht sonderlich profilierten Widerstandes der politischen Linken, in deren Vorstellungstext es heißt: „Schon vor seiner Wahl zum Präsidenten im Oktober 2018 hatte Jair Bolsonaro seine Absicht angekündigt, Brasilien von der «schädlichen Ideologie der Linken» zu befreien. Im ersten Regierungsjahr begann er, seine Pläne in erschreckender Geschwindigkeit und an allen Fronten zu verwirklichen. Die aus religiösen, militärischen und rechtsextremen Vertreter*innen zusammengesetzte Exekutive hat sich an den schwersten Umweltkatastrophen in der Geschichte des Landes mitschuldig gemacht. Sie hat sich an der öffentlichen Politik und an Dekreten beteiligt, die die Rechte von Frauen, der LGBTIQ*-Bevölkerung, traditioneller Völker und die Rechte von Minderheiten im Allgemeinen bedrohen. Die Regierung hat das Strafgesetzbuch verschärft und die Gesetze für den Besitz und das Tragen von Waffen aufgeweicht und sie unterstützte eine Demonstration am 15. März dieses Jahres, die die Abschaffung von Parlament und unabhängiger Gerichtsbarkeit fordert. Währenddessen verbreitet Bolsonaro in seinen sozialen Netzwerken falsche Nachrichten, Drohungen und Hassreden gegen Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen. Nach der anfänglichen Paralyse ist es nun für die Linke an der Zeit zu handeln

„Aufstand gegen Bolsonaro“ von Volker Hermsdorf am 09. Juni 2020 in der jungen welt externer Link sieht die Situation so: „… Trotz des zum Teil brutalen Auftretens staatlicher Einsatzkräfte protestierten die Demonstranten in der Hauptstadt Brasília, in Rio de Janeiro, São Paulo und anderen Städten mit Transparenten gegen »Rassismus und Faschismus« und die »Vernichtungspolitik der Regierung«. In Rio de Janeiro nahm die Polizei etliche Teilnehmer fest, als sich die Familie eines zwölfjährigen Jungen, der vor einigen Tagen bei einem Einsatz der Militärpolizei in einer Favela getötet worden war, den Demonstranten anschloss. In São Paulo hatten neben Gewerkschaftern, sozialen Gruppen und Aktivisten der schwarzen Bürgerrechtsbewegung auch die organisierten Fans der vier großen örtlichen Fußballclubs zum Protest aufgerufen. Laut Agenturberichten setzte die Polizei Tränengas und nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International auch Gummigeschosse ein. Bolsonaro gab sich unbeeindruckt, folgte in der Wortwahl seinem Vorbild, dem US-Präsidenten Donald Trump, und bezeichnete die Aktivisten der in Brasilien ebenfalls erstarkenden Bewegung »Black Lives Matter« als »kiffende Terroristen«. Teilnehmer der landesweiten Aktionen beschimpfte der Staatschef als »Arbeitslose, die Brasilien bedrohen«...“ (der auch an der Legende arbeitet, es gebe in S. Paulo vier große Fußballklubs – ob die alle mit dem vierten Club den Drittliga Portugiesen-Verein meinen?  – und auch die fragliche These vertritt, Bolsonaros AnhängerInnen kämen vor allem aus der weißen Oberschicht, was auch, aber leider bei weitem nicht nur zutrifft).

„Mit dem Heiligen Geist gegen Satan und Geschlechtergerechtigkeit“ am 08. Mai 2020 beim NPLA externer Link Audio Datei über einen der wichtigsten Bestandteile von Bolsonaros Unterstützer-Riege, die keineswegs vor allem weiße Oberschicht ist, ist der Einleitungstext zu einer Audio-Datei, worin es heißt: „… Evangelikale in Brasilien mischen mit bei der Verleugnung der Coronakrise. „Keine Angst“ tönte es aus Pfingstlerkreisen in Sao Paulo, als die Covid-19-Pandemie im März in der größten Stadt Brasiliens um sich griff. Tempel blieben geöffnet, obwohl Versammlungen von mehr als 500 Personen verboten waren. Edir Macedo, Oberhirte der Pfingstkirche, sieht in der Pandemie eine Taktik Satans, um unter den Menschen Angst und Panik zu verbreiten. Jede Person die an Gott glaube, sei gegen die Viren geschützt, versuchte ein anderer evangelikaler Bischof seine Herde zu beruhigen. Die Anhängerschaft der Pfingstbewegung hat im bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas zügig zugenommen. Und der Einfluss der Evangelikalen auf Gesellschaft und Politik in Brasilien wächst stetig. Tonangebend sind fundamentalistische Pfingstler. Sie eint ein antifeministisches, homophobes Familienbild. Lesbische Frauen, Trans*personen und alle anderen, die nicht zur Zwei-Geschlechter-Norm passen, werden bekämpft“.

„Torcidas antifascistas do Atlético e do Cruzeiro se unem em ato contra o presidente Jair Bolsonaro em Belo Horizonte“ am 07. Juni 2020 im Twitter-Kanal von Lucas Negri Soli externer Link ist ein Video (samt folgendem Thread) zu den gemeinsamen Protesten der Fans von Atletico und Cruzeiro in Belo Horizonte. Im Verlauf des Threads werden auch einige Redebeiträge dokumentiert, die durchaus deutlich machen, dass es sich bei den RednerInnen ncht um die „üblichen Verdächtigen“ handelt…

„FLAMENGUISTAS CONTRA BOLSONARO!“ am 21. September 2018 bei den organisierten Fans von Flamengo externer Link war bereits damals – aus Anlass der Wahl – der erste politische Aufruf einer Fangemeinde, hier von der wohl größten ganz Brasiliens, der des flämischen Ruderklubs aus Rio de Janeiro. Aus dem Text wird dabei durchaus deutlich, dass es sich nicht um eine ausgesprochen linke, wohl aber um eine ausgesprochen antifaschistische Gruppierung handelt.

„DOMINGO DE LUTA CONTRA O FASCISMO“ am 08. Juni 2020 beim Coletivo Democracia Corinthiana externer Link (Facebook) ist eine der zahlreichen Meldungen über den Aktionstag der Fußballfans in Brasiliens größter Stadt bei der ältesten antifaschistischen Fanvereinigung des Landes (beziehungsweise ihrer Fortsetzer „im Geist des Dr. Socrates“).  

„What’s Left of the Brazilian Left? Reasons for Cautious Optimism from the Landless Workers Movement“ von Rebecca Tarlau im Juli 2018 bei Europe Solidaire externer Link dokumentiert, war einer der Beiträge, die zur Zeit des Wahlkampfes vor allem auf die verschiedenen (bisher nicht sonderlich erfolgreichen) Versuche einer „linken Erneuerung“ setzten, hier am Beispiel der Landlosenbewegung MST, die eine Zeit lang Kristallisationszentrum der sozialen Bewegung war – um dann zunehmend mehr ins Fahrwasser des PT-Konvois zu geraten, was ihr schließlich sogar selbst aufgefallen ist und was sie versucht (in welchen Grenzen auch immer) zu korrigieren.

„Brasilien: Das Desaster der 13-jährigen PT-Regierung“ von Tino Plancherel am 21. Januar 2020 bei den Maulwürfen externer Link ist die Übersetzung eines Artikels von 2017 aus der Feder eines früheren PT-Funktionärs. Dessen Einschätzung und Theoretisierung man nicht unbedingt teilen muss – die aber alle, die an einem linken Widerstand in Brasilien „interessiert“ sind, dennoch ernsthaft diskutieren sollten. Darin heißt es unter anderem: „… Weniger bekannte Themen werden da behandelt wie z. B. das Faktum, dass unter der PT-Regierung, die immer eine echte Landreform gefordert hatte, der Großgrundbesitz um 104 Millionen Hektar Land erweitert wurde, zum Vergleich während der Militärdiktatur im gleichen Zeitraum von 13 Jahren zwischen 1964-77 waren es 70 Millionen Hektar. In 13 Jahren Regierungszeit hatte die PT buchstäblich keine einzige Struktur-Reform verwirklicht. Keine Landreform, keine Reform des extrem ungerechten Steuersystems, keine Demokratisierung der Medien, wo vier Fernsehkanäle, alle weit rechts von der Mitte, einer reaktionärer als der andere, zusammen etwa 98% des Informationsmonopols innehaben, keine Reform des archaischen Justizsystems, keine Abschaffung der gewalttätigen Militärpolizei, keinen wirklichen Schutz des Regenwaldes, keine Reform des miserablen Bildungssystems, ja nicht mal die Aufhebung der Amnestie für die Verbrechen der Militärdiktatur oder eine Reform des von Absurditäten strotzenden Arbeitsrechts fand statt, z. B. die Abschaffung der Gewerkschaftssteuer. Etwa 50 Millionen registrierten Lohnabhängigen Brasiliens wird zwangsweise ein Tageslohn pro Jahr abgezogen, ergibt fast 1 Milliarde Dollar, die auf die Gewerkschaftsapparate verteilt werden. Deshalb gibt es in Brasilien zirka 10‘000 Gewerkschaften, davon mindestens 70% mehr oder weniger gelbe Gewerkschaften. Die Abschaffung der Gewerkschaftssteuer war die erste und älteste Forderung bei der Gründung der PT und nicht Mal dies hat der ehemalige Gewerkschafter Lula geschafft. Von den lebensverbessernden kurzfristigen Reformen hat die PT-Regierung nur drei verwirklicht. Die Erhöhung des Mindestlohnes real um gut 100%, die Erweiterung des Sozial-Programms „Bolsa Familia“ und das Wohnbau-Programm „Minha casa, minha vida“. Die Erhöhung des Minimallohnes von zirka 100 US-Dollar im Jahr 2002 auf 250 US-Dollar im Jahr 2016 erscheint als viel, ist es aber nicht, denn dieser Betrag ist erstens immer noch sehr weit unter dem Existenzminimum, zweitens war der Ausgangsbetrag extrem niedrig, drittens hat sich in diesem Zeitraum das BIP nominal fast verdreifacht und viertens sind manche Produkte des Alltags wie Brot, Käse, Milch, Teigwaren, Zahnbürste u.v.m. in Brasilien nominal teurer als in Deutschland. Das Programm „Bolsa Familia“ ist eine Zusammenlegung und Erweiterung von zirka dreißig verschiedenen Sozialleistungen von vergünstigten Lebensmitteln bis zu Direktzahlungen von maximal 50 Dollar pro Person und Monat. Ein Teil dieser Sozialleistungen existierte schon vor der PT-Regierung und erst nach einigen Jahren Anlaufschwierigkeiten kamen danach etwa 50 Millionen BrasilianerInnen, 26% der Bevölkerung in ihren Genuss. Das Programm kostete im Jahre 2013 etwa 11 Milliarden US-Dollar was 1,5% des Bundeshaushaltes und knapp 0,5% des BIP entsprach. Das Wohnbauprogramm „minha casa, minha vida“ begann erst im siebten Regierungsjahr der PT, im Jahr 2009, in den insgesamt 7 Jahren wurden 2,1 Millionen kleine Wohnhäuser gebaut für insgesamt etwa 70 Milliarden Dollar, was den Bundeshaushalt jährlich um etwa 1,2% belastete. Diesen nur drei Reformen progressiven und gleichzeitig auch problematischen Charakters (nicht ganz zu Unrecht wird dem Programm „Bolsa Familia“ unter anderem vorgeworfen, dass es auch ein Wahlstimmen Kaufprogramm sei) stehen zahlreiche knallharte und weitreichende Gegenreformen durch die PT-Regierung gegenüber. Die rasche Legalisierung des genetisch veränderten Soja, das noch unter dem Militärregime verboten wurde und inzwischen das ganze Land verseucht hat, den geradezu ungeheuerlichen Wiedereinstieg  in die Atomenergie, dazu noch in einem Erdbebengebiet und in unmittelbarer Nähe zum Meer, die Verschlechterung des Rentensystems für öffentliche Angestellte, die wieder verstärkte Konzentrierung auf nicht  nachhaltige Großprojekte, die Verschlechterung der Situation der indigenen Urbevölkerung u. a. durch die Megaprojekte, die massive Stärkung des Finanzkapitals u.a. durch die Hochzinspolitik und die Abkehr von einer staatlichen  Infrastruktur-Investitionspolitik zu Gunsten einer privaten oder halbprivaten…“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=173727
nach oben