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Eine Art Kafala-System: Die italienische Regierung legalisiert ausgewählte MigrantInnen – sofern sie den Job nicht wechseln

Dossier

Gewerkschaft Unione Sindacale di Base (USB) in Italien gegen Prekarisierung durch die Corona-Krise„… Art. 110bis des Dokuments ist der Regularisierung von papierlosen Arbeiter*innen gewidmet. In 21 Absätzen ist die Prozedur definiert, wie irregulär arbeitende Migrant*innen aus der Schwarzarbeit treten können. Italien zählt heute rund 670.000 papierlose Migrant*innen, die Maßnahme erlaubt jedoch bei weitem nicht allen, Aufenthaltspapiere zu erhalten. Denn die Regularisierung gilt nur für Land- und Care-Arbeiter*innen, nicht jedoch für Arbeiter*innen der Baubranche, des Tourismussektors etc. Zudem schließt die Maßnahme diejenigen Papierlosen aus, die zwar bis vor kurzen irregulär gearbeitet haben, nun im Zuge der Corona-Krise jedoch ihren Job verloren haben, denn für den Erhalt der Aufenthaltspapiere verlangen die Behörden den Beweis eines früheren Arbeitsvertrages. Schließlich bindet die Maßnahme die Migrant*innen an die bzw. den Arbeitgebenden, denn mit einem Arbeitgebenden- und Vertragswechsel in der Zeit zwischen Einreichung der Anfrage und Erlangung der Aufenthaltserlaubnis erlischt das Recht auf Regularisierung...“ – aus dem Beitrag „Mega Dekret und Regularisierung von papierlosen Arbeiter*innen“ von Maurizio C. vom 15. Mai 2020, den wir im folgenden dokumentieren. Siehe dazu den gesamten Beitrag sowie weitere zu den Reaktionen auf die Regierungsbeschlüsse – inklusive der Meldung zum Streikaufruf in der Landwirtschaft am 21. Mai 2020:

  • Die gescheiterte Regularisierung New
    Das im Sommer 2020 angestossene Programm zur Regularisiserung von papierlosen Land- und Care-Arbeiter*innen kann als gescheitert erklärt werden. Von den rund 207.000 eingereichten Regularisierungsgesuchen wurden bis Ende Februar 2021 nur 1.480 Aufenthaltstitel vergeben. Laut den verantwortlichen Behörden liegt das Problem beim mangelnden Personal und den Corona-Massnahmen in der öffentlichen Verwaltung, die die Abarbeitung der Dossiers massiv verlangsamen. Vieles deutet jedoch darauf hin, dass der politische Wille zur Regularisierung weiterhin fehlt. Wird weiterhin in diesem Rhythmus gearbeitet, wird laut dem Netzwerk von Menschenrechtsorganisationen Ero straniero der Prozess noch weitere zehn Jahre brauchen, um alle Gesuche zu beantworten.“ Info von Maurizio C. vom 10.3.2021 – wir danken!
  • Regularisierung der Sans-Papiers: Eingabefrist abgelaufen 
    Im Monat Mai – mitten in der Corona-Krise – hatte die italienische Regierung ein Dekret verabschiedet, um die irregulär arbeitenden Migrant*innen in der Landwirtschaft und im Care-Bereich zu regularisieren. Unter strömenden Tränen behauptete Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova, dass endlich Gerechtigkeit geschaffen werde, denn die migrantischen Arbeiter*innen hätten nun die Möglichkeit, ihren Aufenthalt zu regularisieren und so aus der Unsichtbarkeit zu treten. Das Zeitfenster zur Einreichung der Gesuche war vom 1. Juni bis zum 15. August geöffnet. Nun hat das Innenministerium die Zahlen der eingereichten Regularisierungsgesuche publiziert.
    Gesamthaft wurden 207.542 Gesuche eingereicht. 85% der Gesuche stammen aus dem Care-Bereich, nur 15% aus der Landwirtschaft. Es handelt sich um eine weitaus geringere Zahl als die von der Landwirtschaftsministerin propagierten Zahl von 600.000 potentiell regularisierbaren Migrant*innen. Die Zahl der tatsächlich regularisierten Migrant*innen ist noch nicht bekannt. Die Lombardei ist die Region mit den meisten Gesuchen aus dem Care-Bereich (47.357), Kampanien hingegen die aus der Landwirtschaft (6.962). Was die Herkunftsländer der Migrant*innen angeht, so stehen die Ukraine, Bangaldesch und Pakistan zuoberst auf der Rangliste der Gesuche aus dem Care-Bereich; Albanien, Marokko und Indien in der Liste der Gesuche aus dem Landwirtschaftssektor. Die geringe Zahl der eingereichten Gesuche aus dem Landwirtschaftssektor ist mehreren Gründen geschuldet, sicherlich gehören die hohen bürokratischen Hürden dazu („Selbstanzeige“ der Arbeitgebenden, Bezahlung von einer Gebühr von 500 € pro Regularisierungsgesuch, Abhängigkeit der Sans-Papiers von den Arbeitgebenden u.a.). Doch zentral bleibt folgende Frage: Wieso sollte ein*e Arbeitgebende*r den Status der arbeitenden Sans-Papiers regularisieren wollen, wenn die Ausbeutung ohne Papiere gut, ja sogar besser funktioniert?Mitteilung von Maurizio C. am 19.8.2020 in Italien News externer Link – siehe auch:

  • Papierlose ArbeiterInnen in Italien: Nur ein paar bekommen Papiere durch die bejubelte Regularisierung
  • Am 22. Mai 2020: Massiver Streik der LandarbeiterInnen in Italien gegen das Regierungsdekret zur Regularisierung der MigrantInnen: Echte Legalisierung ist ein Recht und keine Gnade
  • Mega Dekret und Regularisierung von papierlosen Arbeiter*innen
    „Am Mittwoch präsentierte Premierminister Giuseppe Conte vor den Medien die neuen „Massnahmen zur Unterstützung von Unternehmen, Arbeiter*innen und Familien“ im Zusammenhang mit der ökonomischen Krise. Gesprochen wurden total 55 Mrd. Euro, davon sind 25.6 Mrd. für die Arbeiter*innen und Familien vorgesehen, knapp 30 Mrd. für die Unternehmen. Das Dokument zählt über 430 Seiten. Art. 110bis des Dokuments ist der Regularisierung von papierlosen Arbeiter*innen gewidmet. In 21 Absätzen ist die Prozedur definiert, wie irregulär arbeitende Migrant*innen aus der Schwarzarbeit treten können. Italien zählt heute rund 670.000 papierlose Migrant*innen, die Massnahme erlaubt jedoch bei weitem nicht allen, Aufenthaltspapiere zu erhalten. Denn die Regularisierung gilt nur für Land- und Care-Arbeiter*innen, nicht jedoch für Arbeiter*innen der Baubranche, des Tourismussektors etc. Zudem schließt die Maßnahme diejenigen Papierlosen aus, die zwar bis vor kurzen irregulär gearbeitet haben, nun im Zuge der Corona-Krise jedoch ihren Job verloren haben, denn für den Erhalt der Aufenthaltspapiere verlangen die Behörden den Beweis eines früheren Arbeitsvertrages. Schließlich bindet die Maßnahme die Migrant*innen an die bzw. den Arbeitgebenden, denn mit einem Arbeitgebenden- und Vertragswechsel in der Zeit zwischen Einreichung der Anfrage und Erlangung des Aufenthaltserlaubnis erlischt das Recht auf Regularisierung. Die Maßnahme wird von der Basisgewerkschaft USB kritisiert; sie betrachte die Migrant*innen ausschließlich als Arbeitskräfte und nicht als Menschen. Darum ruft sie für den 21. Mai zu einem Streik aller Landarbeiter*innen auf.“ (Maurizio C. am 15. Mai 2020)
  • „Decreto Rilancio, USB proclama lo sciopero dei lavoratori della terra per il 21 maggio: nelle campagne e nelle metropoli marciscono i diritti“ am 14. Mai 2020 bei der Gewerkschaftsföderation USB externer Link ist der Aufruf der Basisgewerkschaft zum Streiktag 21. Mai als Antwort auf die „Wiederbelebungspolitik“ der italienischen Regierung und insbesondere der Maßnahmen gegen die MigrantInnen.
  • „Una regolarizzazione-beffa: per gli immigrati sempre e solo leggi speciali ammazza-diritti“ am 15. Mai 2020 bei SI Cobas externer Link ist eine – entschieden negative – Stellungnahme der Basisgewerkschaft zu den Regierungsmaßnahmen, die darauf verweist, dass dies die Fortsetzung einer Sondergesetzgebung sei, die systematisch die Rechte von Menschen mit Füßen trete. SI Cobas werde weiterhin dafür kämpfen, dass alle und zeitlich wie räumlich unbegrenzt legalisiert werden.
  • „Decreto maggio. Soldi alle imprese, briciole a chi lavora“ am 14. Mai 2020 bei Il Sindicato è un’altra cosa externer Link ist die Stellungnahme der organisierten Opposition im Gewerkschaftsbund CGIL, in der ebenfalls insbesondere die Maßnahmen in bezug auf die MigrantInnen kritisiert werden, sowie insgesamt das „Paket“ kritisiert, das zeige, dass endlich die Gewerkschaftspolitik, sich mit der Regierung an einen Tisch zu setzen, aufgegeben werden müsse, und stattdessen zum Kampf mobilisiert.
  • „Warum sind in Italien in der Corona-Krise so viele Menschen gestorben?“ in Wildcat 105 externer Link (Frühjahr 2020) berichtet unter vielem anderen davon, was passiert, wenn die Rechten ihre Linie durchziehen, wie bei der Abschaffung der Hausärzte in der Lombardei: „… 2019 hatte Italien ein Gesundheitsbudget von 118 Milliarden Euro, acht mehr als 2009. Diese Gelder werden einigermaßen gleich zwischen den 20 Regionen verteilt. (Kalabrien erhält 3,3 Milliarden, Sizilien 9,3 Milliarden Euro jährlich.) Aber die reale Situation vor Ort ist keineswegs gleich! Es kommt darauf an, was man mit den Geldern macht. Angesichts der Inflation (im Gesundheitswesen) sind acht Milliarden Zuwachs nicht viel, und das meiste Geld ging in neue Großkrankenhäuser, oft mit Public Private Partnership finanziert, und an die privaten Kliniken. Viele kleine Krankenhäuser wurden zugemacht, die Personalkosten sind seit der Krise 2008 nicht mehr gestiegen, seit zehn Jahren gab es einen Einstellungsstopp (das Durchschnittsalter des Pflegepersonals ist mit über 50 Jahren entsprechend hoch), die Ausgaben für Pharmaka wurden in dem Zeitraum sogar um ein Drittel gesenkt. All das ist einigermaßen bekannt. Während aber alle auf die große Differenz zwischen den Intensivbetten starrten (5100 in Italien, 28 000 in der BRD), ging eine andere Tatsache beinahe unter: Das Gesundheitswesen in der Fläche wurde demontiert. In der Lombardei werden seit Jahren die Hausärzte systematisch abgebaut und haben seit fünf Jahren praktisch keine medizinische Funktion mehr (sie stellen lediglich Rezepte aus oder überweisen dich zum Facharzt oder ins Krankenhaus). Die Lombardei hat am stärksten in diese Richtung gepusht. Es gibt den berühmten Satz, den Giancarlo Giorgetti, ein enger Vertrauter von Salvini, im August 2019 während einer Pressekonferenz sagte: »In den nächsten Jahren werden wir weitere 45 000 Hausärzte abschaffen – aber wer geht denn noch zum Hausarzt?« Giorgetti war damals Staatssekretär in der Regierung Conte-Salvini. Vor diesem Hintergrund hat die Epidemie zwischen Ende Februar und Anfang März die Krankenhäuser in der Lombardei regelrecht überrollt. In den Provinzen Bergamo und Brescia hat sie sich explosionsartig entwickelt, weil der Flughafen Orio al Serio dort liegt und weil auf Druck der Unternehmer keine Quarantäne verhängt wurde. Darauf werden wir gleich näher eingehen. Zunächst müssen aber noch einige andere Punkte erwähnt werden. Aufgrund der wenigen Hausärzte müssen viele Leute bei Beschwerden direkt in die Notaufnahmen der Krankenhäuser gehen, wo sich bis zu 100 Personen (Kranke und Angehörige) stundenlang in einem Raum drängen und warten, bis sie drankommen. In einigen Gegenden ist die Alternative, in eine Praxisgemeinschaft zu gehen, wo sich mehrere Ärzte Arzthelferinnen und Wartezimmer teilen, in denen sich auch Menschenmassen drängen. Hier finden wir im Übrigen eine erste Erklärung für die unterschiedlichen Zahlen in den Regionen der Po-Ebene (Venetien 6, Piemont 10, Lombardei 18,48 Prozent Letalität): die Region, die am systematischsten das Hausarzt-System abgeschafft hat, ist die Lombardei! In Italien wurden zu Beginn sehr wenige Tests durchgeführt, dazu fehlten Testkits und Strukturen in der Fläche. Alle Patienten wurden entweder ins Krankenhaus geschickt – oder zuhause zum Sterben isoliert. Somit waren die Krankenhäuser sehr schnell am Anschlag und ihnen fehlte in einem erschreckenden Ausmaß Schutzausrüstung. Bis heute müssen die Leute dort oft ohne ausreichenden Schutz arbeiten, denn zum Mangel kommt eine unglaublich komplizierte zentralisierte Bürokratie, die für die Versorgung der Krankenhäuser zuständig ist. Und natürlich machen sich hier auch die Kürzungen der letzten Jahre bemerkbar. Die Beschäftigten in den Krankenhäusern und mehr noch in den Altersheimen werden auf die Schlachtbank geschickt: wenig Schutzausrüstung und teilweise Zwölfstundenschichten; denn sie müssen ja auch noch ihre erkrankten oder in Quarantäne befindlichen KollegInnen ersetzen, die nur teilweise durch außerordentliche Neueinstellungen ausgeglichen wurden – und auch das erst, nachdem sich die Seuche einen Monat lang ausbreiten konnte. Somit werden gerade die Krankenhausbeschäftigten, die Hausärzte, die AltenpflegerInnen und die Rettungswagenfahrer am meisten von der Seuche angesteckt. Sie machen zehn Prozent aller Infizierten (d. h. positiv Getesteten) aus, das heißt mehr als 17 000 Personen. Bis jetzt sind bereits 130 Ärzte, 30 Schwestern und Dutzende von Rettungswagenfahrern an der Krankheit gestorben (Daten vom 20. April). In der BRD machen die Beschäftigten im Gesundheitswesen fünf Prozent aller Infizierten aus. In Italien wurde das Krankenhauspersonal selbst zur schlimmsten Ansteckungsquelle. Zwei Krankenschwestern haben sich offensichtlich deshalb umgebracht. Es wurde viel über den Mangel an Intensivbetten berichtet (die inzwischen auf etwa 8000 aufgestockt wurden). Aber in Italien wurden 14 Prozent der positiv Getesteten in die Intensivstation gebracht! In den überfüllten Krankenhäusern von Bergamo (wie in New York und Rosenheim) überlebte nur die Hälfte der Patienten länger als fünf Tage die invasive Beatmung…“
  • „Die Tragödie von Bergamo von Alba Sidera in der SoZ online Ausgabe 5/2020 externer Link zur Politik der Rechten in der Lombardei und wie sie Unternehmerwünsche bedient: „… Und so ist, so unglaublich es auch scheinen mag, das Gebiet mit den meisten Corona-Toten je Einwohner in Italien (und Europa) nie zur roten Zone erklärt worden – zum Entsetzen der Bürgermeister, die dies gefordert hatten, und der Bürger, die jetzt Maßnahmen fordern. Wenn das Gebiet zur roten Zone erklärt worden wäre, wozu alle Experten geraten hatten, wären Hunderte Menschenleben gerettet worden. Die Geschichte ist noch schmutziger: Diejenigen, die ein Interesse haben, dass die Fabriken weiter in Gang gehalten werden, sind dieselben, die an privaten Kliniken verdienen. Die Lombardei ist die Region Italiens, in der das Gesundheitswesen am stärksten kommerzialisiert wurde, es wurde dadurch Opfer eines korrupten Systems großen Ausmaßes. An dessen Spitze stand 18 Jahre lang (von 1995 bis 2013) der Präsident der Lombardei, Roberto Formigoni, führendes Mitglied von Comu­nione e Liberazione, einer katholisch-fundamentalistischen Bewegung. Er gehörte der Partei Berlusconis an, der ihn zum «Präsidenten der Lombardei auf Lebenszeit» ernannte, doch er stützte sich auch stets auf die Lega, die die Region seit Formigonis Abgang im Jahr 2013 regiert. Formigoni ist der Korruption im Gesundheitswesen angeklagt und verurteilt worden. Sein Nachfolger im Amt wurde Roberto Maroni von der Lega. Er begann 2017 mit einer Gesundheitsreform, die die öffentlichen Investitionen noch stärker zusammenkürzte und die Gestalt des Hausarztes praktisch abschaffte und ihn durch einen «Geschäftsführer» ersetzte…“
Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=172559
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