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Ein Jahr Regierung Lopez Obrador in Mexiko: Eine Bilanz im Schatten der „Politik der Großprojekte“ – die massiven Widerstand hervor ruft

Zapatisten 2006 - eines der Fotos aus dem Buch, das per cromdfunding unterstützt werden soll„… Widersprüchlich fällt AMLOs Bilanz hinsichtlich Großprojekten aus, die gegen die Interessen der lokalen, oft indigen geprägten Bevölkerung verstoßen. Einerseits hat er das größte Fass ohne Boden erstmal zugemacht, indem er die Arbeiten am neuen Großflughafen außerhalb Mexiko-Stadts trotz 20 Prozent Baufortschritts stoppte. Viele andere Projekte, auch im privatisierten Energiesektor, sind auf Eis gelegt. Nebeneffekt dieser oft sinnvollen Brems- und Sparpolitik in Verwaltung und Infrastruktur ist ein Nullwachstum in diesem Jahr. Doch es bleibt unklar, wie ernst es AMLO mit der von ihm beschworenen „Trennung von Politik und Ökonomie” und dem „Ende des Neoliberalismus” wirklich ist. Denn andererseits hinterfragen indigene Gemeinden und soziale Organisationen die Vorzeigeprojekte der neuen Administration: das Touristenprojekt Tren Maya auf der Halbinsel Yucatán, die Erdölraffinerie Dos Bocas sowie den Güterkorridor im Isthmus von Tehuántepec, mit dem der Transport der Container zwischen Pazifik und Atlantik beschleunigt werden soll. So haben am 12. Oktober 2019 mehrere Foren stattgefunden, auf denen indigene Vertreter*innen der sozialen Bewegungen ihren dezidierten Widerstand gegen diese Großprojekte ankündigten und die von MORENA beschworene Vierte Transformation als “Vierte Destruktion” verdammten. Generell stellt sich die Frage, wie weit die gesellschaftliche Partizipation in diesem neuen Mexiko wirklich gehen wird. Die Befragungen der indigenen Gemeinden waren und sind bisher nicht ernstzunehmende Alibiübungen, eine gesetzliche Grundlage dazu wird erst erarbeitet. Die neuen direktdemokratischen Instrumente der Volksbefragung sind seit November in der Verfassung festgeschrieben. Die technischen Hürden für deren Zustandekommen sind jedoch hoch, eine Initiative benötigt die Unterstützung von zwei Prozent aller Wahlberechtigten des riesigen Landes, was ca. 1,8 Millionen Menschen entspricht. Zum Vergleich: Kein*e parteiunabhängige*r Kandidat*in erreichte vor den letzten Präsidentschaftswahlen die notwendige ein Prozent-Unterstützung, um zur Wahl zugelassen zu werden…“ – aus der ausführlichen und konkret abwägenden Zwischenbilanz zum ersten Regierungsjahr AMLOs „HEILSBRINGER IM STRESSTEST“ von Philipp Gerber in der Ausgabe Januar 2020 der Lateinamerika Nachrichten externer Link (Nummer 547). Siehe in unserer Materialsammlung zum „Jubiläum“ vier weitere Beiträge zu Großprojekten und Widerstand (und den Hinweis auf unseren ersten Beitrag zum „Tren Maya“) – sowie drei weitere Beiträge zum neuen Arbeitsgesetz, zur Gewerkschaftsopposition der LehrerInnen und ein Beispiel der sozialen Probleme des Landes:

„Der Maya-Zug: Neokolonialismus hoher Intensität“ von Silvia Ribeiro am 07. Januar 2020 beim NPLA externer Link zum international wohl bekanntesten der Großprojekte: „… Die verheerenden Auswirkungen hätte das Projekt aber insbesondere in den Gebieten, die gar nicht von den Strecken durchquert werden. Denn der Maya-Zug, so Heber Uc vom Indigenen Rat Bacalars, stelle die Verbindung zwischen verschiedenen Großprojekten dar, die bereits seit einigen Jahren in der Region realisiert werden: Photovoltaikanlagen, Windparks, Großprojekte der Agroindustrie, massive Schweinemast und der sogenannte grüne Tourismus. Das alles würde mit den Zugstrecken verbunden werden. Die Spekulationen auf das betroffene Land hätten bereits begonnen: „Seitdem das Projekt angekündigt wurde, sind schon viele Menschen in die Regionen gekommen, um sich Land anzueignen. Mit Gewalt wurden an der Straße von Bacalar nach Cancún Ländereien in Besitz genommen“, schreibt Heber Uc. Über diese wichtigen Aspekte und Auswirkungen des Maya-Zug-Vorhabens spricht die Regierung nicht und stellt sie nicht zur Diskussion. Auch nicht in dem sogenannten Konsultationsprozess, den die Regierung im November und Dezember im Schnellverfahren durchgeführt und zu dem sie Beobachter*innen der mexikanischen UN-Menschenrechtsorganisation eingeladen hatte. Nach Artikel 169 der ILO-Konvention und nach der UNO-Deklaration über die Rechte indigener Völker haben indigene Bevölkerungsgruppen ein Recht auf sogenannte vorherige Konsultation. Diese soll ihre Teilhabe an Entscheidungen garantieren, die sie in ihrer politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung betreffen. Sogenannte Konsultationsverhandlungen finden also zwischen der Regierung und der indigenen Bevölkerung statt, die von den von der Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen betroffen sein wird. Sie sollen zu einem Übereinkommen oder einem Konsens führen. Nach internationaler Rechtsgrundlage, der auch Mexiko unterliegt, müssen sie „im Vorhinein, frei, in Kenntnis der Sachlage und in kultureller Hinsicht angemessen“ durchgeführt werden. In einem kritischen Bericht stellten Vertreter*innen der UN-Organisation, die an der Hälfte der Konsultationsversammlungen teilgenommen hatten, fest, dass sich die mexikanische Regierung nicht an diese internationalen Normen gehalten hatte. Der UN-Bericht weist darauf hin, dass die Konsultationsmaßnahmen der Regierung – 15 Informationstreffen und 15 sogenannte Versammlungen – zwar vor der Realisierung des Projekts stattgefunden hätten, ein Streben nach einem Übereinkommen oder Konsens sei jedoch nicht zu erkennen gewesen. In der Einberufung der Treffen bzw. Versammlungen und dem Konsultationsprotokoll käme lediglich das Ziel zum Ausdruck, mit den indigenen Gemeinschaften zu einer Abmachung darüber zu kommen, dass diese an der Durchführung des Projekts partizipierten und an den Profiten des Projekts teilhätten. Das deute bereits darauf hin, dass angestrebt worden sei, das Projekt unabhängig vom Ergebnis der Konsultation, also in jedem Fall, durchzuführen…

„Aufschwung der Megaprojekte: Aktivistinnen fürchten um ihr Leben“ von Diana Manzo am 11. Januar 2020 ebenfalls beim NPLA externer Link zu einer weiteren Dimension dieser Projektpolitik: „… Wie das mexikanische Netzwerk der Menschenrechtsverteidigerinnen mitteilt, sollen Aktivistinnen, die sich für das Recht auf Leben, für Umweltschutz und die Belange ihrer Region einsetzen, im neuen Jahr noch stärker gefährdet sein als bisher. Grund dafür sei der Aufschwung der Großprojekte in Mexiko. Das landesweite Netzwerk, bestehend aus 245 Menschenrechtsverteidigerinnen in 24 Bundesstaaten der mexikanischen Republik, rechnet mit einer deutlich steigenden Tendenz der geschlechtlich motivierten Gewalt gegenüber Aktivistinnen. „Nicht nur werden wir für unseren Einsatz für Menschenrechte angegriffen, sondern auch, weil wir Frauen sind“, erklärte die nationale Koordinatorin Cecilia Espinoza. Im vergangenen Jahr wurden in den Bundestaaten Oaxaca, Michoacán, Chiapas und Sonora insgesamt fünf ihrer Kolleginnen ermordet. In den letzten Monaten des Jahres 2019 habe die Gewalt in den Bundesstaaten Oaxaca, Guerrero, Michoacán, Coahuila und Chihuahua stark zugenommen, so Espinoza weiter. Daher lasse sich schwerlich behaupten, das neue Jahr habe friedlich begonnen…“

„Organizaciones campesinas se sumarán a la lucha del EZLN en contra de los megaproyectos de AMLO“ am 10. Januar 2020 bei 889 noticias externer Link berichtet von einer Pressekonferenz der Unión Nacional de Trabajadores Agrícolas (UNTA), auf der deren Sprecher unterstrichen haben, sie unterstützten den Kampf der EZLN gegen die Großprojekte der Regierung. Was insofern von Bedeutung ist, als dass die UNTA einerseits eine relativ große Organisation der LandarbeiterInnen ist – und andererseits deren Verhältnis zu den Zapatisten, vorsichtig formuliert, nicht ungebrochen ist.

„Chiapas: Organisierung gegen die schlechte Regierung“ von Ivana Benario am 25. Dezember 2019 im Lower Class Magazine externer Link zur zapatistisch initiierten Oppositionskonferenz: „… Nacheinander treten Sprecher*innen neben den Tisch der zapatistischen Repräsentant*innen und berichten von der Situation und den Kämpfen in den Gebieten aus denen sie zur Versammlung angereist sind. Viele der Sprecher*innen sind Mitglieder der CNI. Der CNI wurde 1996 von der Kommandantin Ramona der EZLN gegründet und ist eine überregionale Struktur, mit über das ganze Land verteilten Ortsgruppen. Im Wahlkampf vergangenen Jahres hat der CNI zum ersten Mal mit Marichuy eine Präsidentschaftskandidatin in den Wahlkampf geschickt, die auch die erste indigene Frau war, die für dieses Amt kandidierte Nicht, um zu regieren, sondern um die Themen und Forderungen der Indigenen und Frauen zu verbreiten und bekannt zu machen. Viele der Sprecher*innen auf dem Kongress vertreten aber auch Gruppen, die unabhängig vom CNI sind. Auch die Führung einer Organisation innerhalb der Gewerkschaft staatlich angestellter Lehrer*innen SNTE ist darunter; die Organisation umfasst 80.000 Arbeiter*innen der insgesamt 400.000 Mitglieder der gelben Gewerkschaft SNTE, und sprengt deren Grenzen, indem sie ernsthaften kämpferischen Widerstand organisiert gegen die Angriffe der Regierung auf das Bildungssystem. Zwar gilt die die Regierung des neuen als links, geltenden Präsidenten López Obrador, führt aber die neoliberalen Angriffe auf die Bevölkerung fort. Die zahlreichen Berichte, die sich allein am ersten Tag über zehn Stunden erstreckten, ergeben zusammen genommen ein beeindruckendes konzentriertes Bild der vielfältigen Kämpfe aus allen Teilen des Landes. Es gibt Berichte über Kämpfe gegen die Ausbeutung in den Minen, gegen die Enteignungen lokaler Bevölkerung zwecks Bau von Tourismus-Attraktionen und gegen Privatisierung von Bildung und Stromnetzwerken. Während im Norden des Landes Kämpfe gegen den Bau der Mauer an der Grenze zu den USA geführt werden, wird in mehreren Gebieten des Landes der Bau von Industrieparks geplant. Die Planung dieser findet dabei komplett ohne die auf dem Gebiet lebenden Menschen statt…

„AMLO quitó sanciones de Peña Nieto, pero no ha cumplido todas nuestras demandas: CNTE“ von Noemí Gutiérrez am 27. November 2019 bei Indigo externer Link berichtet über das Treffen von Regierungsvertretern mit der Lehrer-Gewerkschaftsopposition CNTE, bei dem die zahlreichen Repressionsmaßnahmen der Vorgänger-Regierung Pena Nieto gegen die AktivistInnen (deren Kampf die sogenannte Bildungsreform – sprich: Privatisierungskampagne – verhindert hat) zurück genommen hat. Die Initiativen der CNTE zu einer „alternativen Bildungsreform“ wurden von der Regierung „zur Kenntnis“ genommen…

„Mexico Enters New Era in Labour Relations“ im Oktober 2019 beim (US) Maquila Solidarity Network externer Link  bewertet die Reform des Arbeitsgesetzes vom April 2019. Wobei insbesondere der Ersatz der „dreiseitigen Kommissionen“ durch deutlichere Rechte auf gewerkschaftliche Organisierung und Tarifverhandlungen als Fortschritt gesehen wird – in Anbetracht der traditionellen Gewerkschaftsbürokratie, die über die gestrichenen Kommissionen zu mindestens teilweise „ernährt“ wurde, sicher nicht falsch…

„Weiße Elefanten und zu wenig Personal“ von Gerold Schmidt in der ILA-Ausgabe Dezember 2019 externer Link (Nummer 431) hier zur „Abrundung“ als Beispiel für andere Probleme, über eines der wichtigsten sozialen Probleme der Menschen in Mexiko, das Gesundheitssystem: „… Auf dem Papier beruhte das mexikanische Gesundheitssystem in den vergangenen Jahren auf drei Säulen. Im Sozialversicherungssystem für Staatsangestellte (ISSSTE) sind mehr als 13 Millionen Menschen krankenversichert, direkte Familienangehörige der Staatsbeschäftigten eingeschlossen. Die Mexikanische Sozialversicherung IMSS krankenversichert die formal Beschäftigten des Privatsektors, mehr als 40 Millionen Menschen. Bis Oktober 2019 bestand zudem die Anfang der 2000er-Jahre eingeführte Volksversicherung. Sie sollte zumindest bei den häufigsten Krankheiten die weitgehend kostenlose oder kostengünstige Versorgung für den Rest der überwiegend armen Bevölkerung garantieren, der sich nirgendwo anders krankenversichern konnte. Ab 2014 überstieg die Zahl der theoretisch über die Volksversicherung betreuten Personen erstmals die Krankenversicherten in der IMSS. Ein kleiner Bevölkerungsteil, der es sich leisten kann, hat zudem eine private Krankenversicherung, um sich in Privatpraxen oder in privaten Krankenhäusern behandeln zu lassen. Die Privatkrankenversicherungen verlangen in der Regel trotz hoher Beiträge dennoch erhebliche Eigenleistungen. Neben der Beitragsstaffelung nach Alter richten sich die Zahlungen auch nach der Kategorie der Privatkrankenhäuser, für die diese Versicherungen gelten. Diese privaten Klinken haben bei ihrer Preisgestaltung völlig freie Hand. Oft ähneln sie eher Luxushotels. Entsprechend kassieren sie ab. Was auf dem Papier eine flächendeckende und mit der Volksversicherung auch universelle Krankenversicherung verspricht, sieht in der Praxis vielfach anders aus. Während es in den mexikanischen Städten noch eine relative Dichte von Gesundheitszentren, Krankenhäusern und Arztpraxen gibt, ist der ländliche Raum absolut unterversorgt. Es dürfte derzeit etwa 365 000 praktizierende Ärzte (58 Prozent) und Ärztinnen (42 Prozent) in Mexiko geben. Davon sind laut der Statistikbehörde INEGI gut 70 Prozent im öffentlichen Sektor beschäftigt. Diese Angaben berücksichtigen allerdings nicht ausreichend, dass sehr viele der Ärzt*innen mit öffentlicher Anstellung zusätzlich noch eine Privatpraxis führen…“

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=161163
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