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„Was Indien an diesem Tag erlebt hat, war mehr als ein Protest-Generalstreik: Es war ein Aufbegehren gegen eine Regierung, die einen neoliberalen Klerikalfaschismus systematisch vorantreibt“

Das Plakat der 10 indischen Gewerkschaftsföderationen die am 8.1.2020 zum erneuten Generalstreik gegen die Arbeitsgesetzgebung aufrufenJenseits des weltweit üblichen „Streits um Teilnahmezahlen“ bleibt zum eintägigen Protest-Generalstreik am 08. Januar 2020 in Indien festzuhalten: Es waren sehr, sehr viele Menschen, die sich an Streik, Demonstrationen und Blockaden und sonstigen Aktionen beteiligt haben. Und während die Entwicklung vom Generalstreik 2019 (siehe Verweis am Ende dieses Beitrags) sich fortsetzte, dass eben auch und gerade viele im informellen Bereich Beschäftigte sich am Streik beteiligten – was sich 2020 vor allem zeigte in der massiven Beteiligung von Frauen in verschiedenen Bereichen der „Sozialarbeit“ – so war es diesmal insbesondere von Bedeutung, dass sich sowohl ländliche Organisationen, als eben auch verschiedenste demokratische Gruppierungen beteiligten: Auch, weil die Gewerkschaften, die für diesen Streiktag mobilisierten, zu ihrem 12 Punkte-Forderungskatalog aus dem letzten Jahr, dieses Mal einen 13. Punkt ergänzten: Die Streichung der diversen (hindu-fundamentalistischen) neuen Staatsbürgerschaftsgesetze. Was in einem Riesenland wie Indien einen der traditionellen „Schwachpunkte“ zu überwinden helfen könnte: Die oft bestehende Trennung verschiedener sozialer Proteste und Bewegungen. Zum erneuten Generalstreik in Indien eine kleine aktuelle Materialsammlung, inklusive zweier Ausschnitte von Telefonaten „am Tag danach“…

„Diary of an Indian Uprising“  von Vijay Prashad am 09. Januar 2020 bei news.click externer Link ist ein ausführlicher Beitrag über den Tag des Generalstreiks, in dem vor allem der Schwerpunkt darauf liegt, eben die Beteiligung sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Sektoren an diesem Tag nachzuzeichnen. Gerade in diesem Zusammenwirken oftmals getrennter oppositioneller Bestrebungen sieht der Autor die wesentliche Errungenschaft dieses Tages.

Ähnlich sieht das auch Anand Desai, langjähriger Aktivist bei der Organisierung informell arbeitender Bauarbeiter in der Gegedn um Kolkata (einst: Kalkutta) wenn er am Telefon sagt: „Das ist nun einmal ein Drama, das man in allen sehr großen Ländern sieht, dass die Nachrichten über bestimmte Bewegungen oder Proteste ungefähr so aufgenommen werden, wie sie wohl bei Euch aufgenommen werden, wenn sie, sagen wir mal aus Frankreich oder Spanien kommen – weit weg halt, hat wenig mit mir direkt zu tun. Was in Indien aber insofern verschärft wirkt, als nach dem Niedergang der Linken eine der wenigen Organisationen, die im ganzen Land real aktiv sind ausgerechnet die RSS sind, die ja nicht zu Unrecht mit der SA in Nazideutschland vergleichen werden. Und auf deren Wirken baut sich ja der ganze Einfluss von Modis BJP auf. Demzufolge war das, was Indien an diesem Tag erlebt hat, mehr als ein Protest-Generalstreik – es war ein Aufbegehren gegen eine Regierung, die einen neoliberalen Klerikalfaschismus systematisch vorantreibt. Dazu muss man ja nur nach Uttar Pradesh schauen, wo der Yogi regiert“.  

„The Working Class, Farmers and Students come together in Defence of Democracy“ am 08. Januar 2020 beim Gewerkschaftsbund NTUI externer Link ist die abendliche Stellungnahme der (parteiunabhängigen) Föderation, in der ebenfalls das Zusammenkommen von ArbeiterInnen, Bauern und Studierenden als wesentlicher Fortschritt dieses Tages gesehen werden – im gemeinsamen Kampf um die Verteidigung der Demokratie gegen den Kurs der Modi-Regierung.

„Indien im Widerstand“ von Thomas Berger am 10. Januar 2020 in der jungen welt externer Link gibt einen Überblick über den Tag und unterstreicht dabei einleitend: „… Mit einem Generalstreik protestierten laut Angaben der Organisatoren und der Times of India bis zu 250 Millionen Menschen gegen die gewerkschaftsfeindliche Wirtschaftspolitik der Regierung. Dem Aufruf von zehn nationalen Dachverbänden und Organisationen hatten sich unter anderem die Einzelgewerkschaften im Bankensektor angeschlossen. Angeführt wurde das Streikbündnis von den großen Dachorganisationen Center of Indian Trade Unions (der CPI-Marxist nahestehend), All India Trade Union Congress (die älteste Gewerkschaftsföderation des Landes und den Kommunisten der CPI verbunden) sowie dem Indian National Trade Union Congress (die Gewerkschaftsorganisation der oppositionellen Kongresspartei). Die Indian Workers’ Union (Bharatiya Mazdoor Sangh/BMS, gewerkschaftliche Dachvereinigung der regierenden Bharatiya Janata Party von Premier Narendra Modi), hatte sich diesmal nicht am Ausstand beteiligt. Die Organisatoren werfen der mit großer Parlamentsmehrheit regierenden Exekutive Modis eine knallharte, arbeiterfeindliche Politik vor. Insbesondere ein neues restriktives Gewerkschaftsgesetz und der im Vorjahr nochmals wesentlich verstärkte Privatisierungskurs provozieren massiven Widerstand. Gewerkschafter und Beschäftigte befürchten eine schrittweise Abschaffung der für Indien wichtigen Säule des Wirtschaftslebens, der Staatsbetriebe. Davon dürften im Zuge von Modis Wirtschaftsreformen immer mehr dichtmachen, zwangsfusionieren (zuletzt bei mehreren Banken geschehen) oder veräußert werden. Die Unionsregierung in Neu-Delhi hatte noch am Dienstag die Beschäftigten staatlicher Unternehmen vor einer Teilnahme am Generalstreik gewarnt...“

„Indien: Massiver landesweiter Generalstreik gegen Modis investorenfreundliche und kommunalistische Politik“ von Deepal Jayasekera und Keith Jones am 10. Januar 2020 bei wsws externer Link zur Streikbeteiligung in verschiedenen Branchen unter anderem: „… Auch Bankangestellte beteiligten sich in großer Zahl an dem Streik, um gegen die Pläne der BJP-Regierung zu protestieren, viele staatseigene Banken zusammenzulegen und zu privatisieren, die genau wie das gesamte indische Finanzsystem von massiven Unternehmensschulden belastet werden. Viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes nahmen am Streik teil, obwohl die BJP-geführte Zentralregierung und diverse Bundesstaatsregierungen mit Repressalien gedroht hatten. In einer Anweisung der Zentralregierung hieß es, dass Arbeitern als „Konsequenzen“ für eine Teilnahme am Streik u.a. „Lohnabzüge“ und „angemessene Disziplinarstrafen“ drohen. Medienberichte deuten darauf hin, dass sich Industriearbeiter, zum Beispiel in der global vernetzten indischen Autoindustrie, im großen Stil an dem Streik beteiligten. Laut Outlook India legten die Arbeiter des Honda-Motorradwerks, des Scooter-Werks in Manesar (Haryana) sowie zahlreicher Autozulieferer in der Industrieregion Manesar-Gurgaon nahe der indischen Hauptstadt Delhi die Arbeit nieder. Der Streik legte außerdem im Bajaj Auto-Werk in Chakan (Maharashtra), dem Bus- und Lkw-Werk von Volvo, dem Toyota-Autowerk, dem Bosch-Zulieferer und den Vikrant Tyres-Werken im benachbarten Karnataka die Produktion lahm. In Jharkand und ganz Indien beteiligten sich Hunderttausende Arbeiter von Coal India und von Juteplantagen in Westbengalen an dem Streik. Der Energiesektor war stark von dem Streik betroffen. Die Stromerzeugung ging um bis zu fünf Prozent zurück, etwa 1,5 Millionen Ingenieure und andere Beschäftigte legten die Arbeit nieder. Auch unter den Anganwadi, den extrem schlecht bezahlten, staatlich finanzierten Kinderbetreuerinnen auf dem Land, die meist Frauen sind, fand der Streik große Unterstützung. In einigen Staaten kam es zu Massenverhaftungen von Streikenden und Demonstranten. In Tamil Nadu ordnete die Bundesstaatsregierung die Verhaftung von Demonstranten sowohl in der Hauptstadt Chennai als auch dem Industriezentrum Coimbatore an. Der Bundesstaat wird von der Regionalpartei AIADMK regiert, die mit der BJP verbündet ist. Mehr als eintausend Menschen wurden verhaftet...“

„Gurugram-Bawal auto hub comes to a halt as workers join protest“ am 09. Januar 2020 bei The Hindu externer Link meldet aus dem Industriegürtel um Delhi vor allem die massive Streikbeteiligung von Beschäftigten der in diesem „Sonderkorridor“ bestehenden Auto- und Motorradwerke. Auch die Belegschaft von Hondas Motorradwerk, jüngst Schauplatz eines Kampfes gegen Zeitarbeit, war vollzählig präsent im Streik.

Anwar Saddad, der vor langen Jahren auf Arbeitssuche in die Region der Hauptstadt kam und bei der Zeitarbeitergewerkschaft der Autoindustrie aktiv war, sagt dazu am Telefon: „Soweit ich das beurteilen kann, und das kann ich schon für die eine oder andere Gegend, kann man festhalten, dass die Streikbeteiligung in der ganzen Privatindustrie diesmal deutlich größer war, als zuletzt. Das hat natürlich zu tun mit dem Kurs der Regierung und der Unternehmen, die ganze Masse an Zeitarbeit immer mehr auszuweiten. Du hast ja jetzt schon fast eine ganze Generation, die das miterlebt hat und die Erfahrungen damit werden immer größer und tiefer – früher hat man das oft gesehen als eine Art „Einstieg in Festbeschäftigung“, und das kann man sich längst aus dem Kopf schlagen, die wollen Dich bis ans Ende Deiner Tage in dieser Situation halten. Da sich diese Erkenntnis allmählich breit macht und da durch die hemmungslose Ausweitung auch die Situation der Festbeschäftigten zunehmend erodiert, sind halt die Vorbedingungen für eine gemeinsame Teilnahme an solchen Kämpfen heute schon andere, als sie es früher waren, zumindest ansatzweise. Und das sich das mit Bewegungen zusammen bringen lässt – das ist eigentlich der falsche Ausdruck, es wächst aufgrund der Sachlage zusammendie die säkulare Demokratie verteidigen wollen, kann man schon an der Geschichte Modis ganz persönlich sehen. Nachdem er in Gujarat 2002 die blutigen Pogrome organisiert hatte, war er ja eine Weile lang sozusagen ein Ausgestoßener im politischen Establishment. In dieses Establishment wurde er sozusagen zurück geholt durch den entsprechenden Druck aus Kreisen von Unternehmen, was sich ganz konkret nachzeichnen lässt – die Kombination „neoliberaler Pogrome“ gefiel denen außerordentlich gut...“

„Bihar: Labourers, Women Scheme Workers Hit the Streets on Bharat Bandh“ von Saurav Kumar am 08. Januar 2020 bei The Wire externer Link berichtet aus dem Bundesstaat Bihar und hat dabei einen Schwerpunkt auf die erstmalige Beteiligung von Frauen, die in staatlichen Projekten und ähnlichen sozialen Einrichtungen beschäftigt sind – aber „offiziell“ nicht als Arbeiterinnen eingestuft sind, weswegen ihnen immer noch vorhandene grundlegende Rechte schlichtweg verweigert werden.

„Indien: Generalstreik, friedliche Proteste, trotzdem Gewalt“ von Gilbert Kolonko am 08. Januar 2020 bei telepolis externer Link zu einigen besonderen Aspekten des Tages in Westbengalen unter anderem: „… Auf der Hauptkreuzung der Chowringee Road stehen am Morgen 30 entspannte Polizisten. Dazu ein Kameramann eines Privatsenders. Als ich ihn frage, was er vom Streik hält, antwortet er steif: „Die Regierung versucht ihr Bestes… die Sache ist kompliziert…“ Ich muss schmunzeln, worauf der Mittdreißiger fragt: „Kollege?“ Dann schaut er sich kurz um und sagt gelassen: „Mamata Banerjee ist unsere Hillary Clinton. Modi unser Trump.“ Mamata ist 2011 in West-Bengalen an die Macht gewählt worden, weil sie sich an die Spitze von Straßenprotesten und Streiks gestellt hatte: Diese richteten sich gegen Landenteignungen für Industrie-Projekte der damaligen bengalischen Bundesregierung, der Communist Party of India (Marxist). Später als Chief-Ministerin veranlasste Mamata selber solche Enteignungen für etliche Industrie-Projekte – auch „ihre“ Polizei hat schon mehrere protestierende Bauern erschossen. Vor der Reserve Bank of India in Kolkata ist zu hören, wie streikenden Staats-Angestellte Mamatas Warnung umgehen. „Ein Teil der Kollegen hat sich für heute frei genommen und ist zu Hause geblieben. Ich und meine Kollegen Vorort werden für heute nicht bezahlt“, sagt der einzige junge Mann des 20-köpfigen Streikpostens. Auch vor der staatlichen United Bank of India sitzen überwiegend ältere Streikende gelassen in der Sonne. Auch sie frage ich, was sie von Mamatas Drohung hält. „No problem“, antwortet ein weiblicher Streikposten und winkt lachend ab. Gegen 9.30 Uhr ist der erste kleine Demonstrationszug zu sehen. Es folgen noch ein paar weitere – doch jeder für sich allein. Auf den Straßen ist es spürbar leerer als sonst. Aber die Atmosphäre erinnert eher an einen Sonntag statt an ein deutliches Zeichen in Richtung Modi-Regierung…“

 „Violence, arson across West Bengal as strikers try to enforce bandh; 55 arrested in Kolkata“ am 08. Januar 2020 bei der Times of India externer Link berichtet über die zahlreichen Konfrontation, die Streikende im Bundesstaat mit den Repressionskräften auszustehen hatten. Darin wird – neben der Zusammenfassung der diversen Polizeiberichte über „Bombenfunde“ und sonstigen Alltagsnachrichten – auch deutlich, dass an verschiedenen Orten Studierendenorganisationen sich sehr aktiv an den Aktionen beteiligten.

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=160439
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