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»Öl, Geld, Lohnentwertung« – Vier Monate Streiks und Blockaden im Öffentlichen Dienst Argentiniens

express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und GewerkschaftsarbeitLehrerInnen und Angestellte des öffentlichen Dienstes in einer Provinz Argentiniens haben im Kampf um ihre Tarifverträge und die Umsetzung einer vereinbarten Lohnerhöhung gestreikt, Straßen blockiert, zu Tausenden demonstriert, Gebäude besetzt und sogar das Provinzparlament angezündet. In den vergangenen vier Monaten haben diese ArbeiterInnen der Provinz Chubut ihre Regierung bekämpft, die von transnationalen Unternehmen und der Führung der Ölarbeitergewerkschaft unterstützt wird und ein Schlüsselakteur in der wichtigsten Ölregion des Landes ist. (…) Ende Oktober erklärte die Regierung, die Lehrergehälter würden aufgrund des Streiks gekürzt, was von der Gewerkschaft als Provokation betrachtet und mit einer Demonstration zum Regierungssitz beantwortet wurde. Der Gouverneur ordnete ein repressives Vorgehen gegen die Mobilisierung an, und der Vorsitzende der Gewerkschaft wurde für mehrere Stunden inhaftiert. Als Reaktion trat die Föderation der Bildungsgewerkschaften (CTERA) am 8. November in einen landesweiten Solidaritätsstreik. Danach wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen. Schließlich haben die LehrerInnen in der vorletzten Novemberwoche die Anerkennung der Gehaltsvereinbarungen und die Überarbeitung ihrer Krankenversicherung erreicht, außerdem eine Verpflichtung der Regierung zur Finanzierung schulischer Infrastruktur. Der 17-wöchige Streik endete am Mittwoch, den 20. November. Trotzdem bleibt die Gewerkschaft im Alarmzustand, weil sie den Zusagen der Regierung nicht traut.“ Artikel von Julia Soul und Leandro Rodriguez in der Übersetzung aus dem Englischen durch Stefan Schoppengerd, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 12/2019:

Öl, Geld, Lohnentwertung

Vier Monate Streiks und Blockaden im Öffentlichen Dienst Argentiniens – Von Julia Soul und Leandro Rodriguez*

LehrerInnen und Angestellte des öffentlichen Dienstes in einer Provinz Argentiniens haben im Kampf um ihre Tarifverträge und die Umsetzung einer vereinbarten Lohnerhöhung gestreikt, Straßen blockiert, zu Tausenden demonstriert, Gebäude besetzt und sogar das Provinzparlament angezündet. In den vergangenen vier Monaten haben diese ArbeiterInnen der Provinz Chubut ihre Regierung bekämpft, die von transnationalen Unternehmen und der Führung der Ölarbeitergewerkschaft unterstützt wird und ein Schlüsselakteur in der wichtigsten Ölregion des Landes ist.

Chubut ist eine der südlichen Provinzen Argentiniens in Patagonien, wo eine geringe Bevölkerungsdichte auf großen Ressourcenreichtum trifft. Ein Großteil der dortigen Ökonomie ist um Exporte gruppiert – Öl, Aluminium und Shrimps. Diese Exporte haben nach einer Abwertung der Landeswährung zwischen 2018 und 2019 enorm zugenommen. Exportunternehmen machten größere Gewinne, aber Importe wurden teurer und trieben die lokalen Lebenshaltungskosten in die Höhe. Die negativen Auswirkungen der Abwertung auf die Reallöhne – insbesondere die Löhne des öffentlichen Dienstes, der nicht vom Export-Boom profitiert – provozierten vergangenen Sommer (der mit unserem Winter zusammenfällt, d. Übers.) eine Auseinandersetzung mit Streiks und einem wöchentlichen Protestcamp vor Ministerien und Behörden in Chubut. Der öffentliche Dienst macht beinahe 20 Prozent der Beschäftigten in der Provinz aus. Die Proteste brachten die Provinzregierung schließlich dazu, Ende Februar Lohnerhöhungen nahe der Inflationsrate zuzusagen.

Gleichwohl zog der peronistische und arbeitgebernahe Gouverneur Martin Arcioni kurz nach seiner Wiederwahl im Juni die Lohnerhöhungen aus den Verhandlungen im Februar wieder zurück – mit Verweis darauf, dass das Geld für den Schuldendienst benötigt werde. Seit 2016 hatte die Provinzregierung eine Politik zu entwickeln versucht, die sowohl die Profite wie das gewerkschaftliche Stillhalten gewährleisten sollte. Sie machte Schulden in Dollar, um die Rohstoffunternehmen zu subventionieren und um die Gehälter im öffentlichen Dienst in den jährlichen Provinz-Tarifverhandlungen zu erhöhen. Mit dem Bruch des Tarifvertrages und mit der wachsenden Ablehnung des korrupten Bündnisses aus Gouverneur und transnationalen Unternehmen entwickelte sich über den Winter eine Welle weitreichender Unruhe.

Schlacht auf der Straße zum Ölfeld

Lokale Versammlungen von LehrerInnen und anderen öffentlichen Angestellten stimmten für Streiks und Demonstrationen. Gewerkschaftsfunktionäre waren zwar dabei, konnten diese Resolutionen aber nicht immer kontrollieren. Am 22. August marschierten tausende LehrerInnen und Angestellte von Rawson nach Trelew, zwei der wichtigsten Städte der Provinz. Der Gouverneur reagierte mit Gleichgültigkeit auf die Proteste, also eskalierte der Kampf zu direkten Aktionen in Form von Blockaden der Zufahrten zu Ölförderanlagen und Aluminiumfabriken. Ziel war es, den Transport der strategisch bedeutsamsten Waren der Provinz zu stoppen. Auf den Streikposten erläuterten LehrerInnen ihre Situation und erhielten Unterstützung von Öl- und MetallarbeiterInnen. Aber statt sie zu Verhandlungen einzuladen, forderte die Provinzregierung die Ölgewerkschaft zur Unterdrückung der Streikposten und Blockaden auf.

In einer eiskalten Nacht am 4. September griff ein vermummter Mob mit Ölgewerkschafts-Logos auf den Jacken den Streikposten an, den LehrerInnen auf der Straße zum Ölfeld errichtet hatten. Die Antwort darauf kam prompt: 30.000 Menschen demonstrierten in Chubut; die landesweite Lehrergewerkschaft und die Provinzgliederung der Lastwagenfahrergewerkschaft traten am 5. September in einen eintägigen Streik, um die Angriffe zu verurteilen. Regierung und Ölgewerkschaftsführung verteidigten die Repression und verlangten, die LehrerInnen sollten die Absage der Lohnerhöhung durch die Regierung akzeptieren. Der Gouverneur erklärte, die Provinz solle, um die nötigen Mittel zur Lösung der Krise aufzubringen, Rohstoffabbau im Tagebau zulassen, was in einem Referendum einige Jahre zuvor abgelehnt worden war.

Gegen Mitte September war der Kampf erneut eskaliert, befeuert durch den Unfalltod zweier Lehrerinnen auf der Autofahrt zu einer weit entfernten Versammlung. Zwischen dem 17. und 19. September belagerten Gruppen wütender AktivistInnen das Parlamentsgebäude und setzten es teilweise in Brand; Verwaltungsgebäude wurden besetzt und Straßenblockaden wieder aufgenommen. Ende September traten ArbeiterInnen einer Aluminiumfabrik in den Streik, um gegen die Entlassung von fünf Kollegen zu protestieren, die sich mit dem Kampf der LehrerInnen solidarisch gezeigt hatten.

Nach dem Tod der beiden Lehrerinnen, Maria Cristina und Jorgelina, intensivierte sich die Auseinandersetzung. Beide Lager versuchten das Spektrum ihrer Verbündeten zu vergrößern. Die Provinzregierung vertiefte ihr Bündnis mit einem Teil der Ölgewerkschafts-Führung, den transnationalen Unternehmen und dem neu gewählten Präsidenten Alberto Fernandez, obwohl weder Unternehmen noch Fernandez ihre Unterstützung für den Gouverneur explizit erklärt hatten.

Gleichzeitig zeigten einige Mitglieder der Ölgewerkschaft Solidarität und Sympathie für den Kampf der LehrerInnen. Der öffentliche Dienst in Chubut, insbesondere die LehrerInnen, bewahren die Demokratie am Arbeitsplatz und die Bande der Solidarität zum Bezirk der Lastwagenfahrergewerkschaft sowie zu lokalen Ablegern der Ölgewerkschaft.

Was jetzt?

Ende Oktober erklärte die Regierung, die Lehrergehälter würden aufgrund des Streiks gekürzt, was von der Gewerkschaft als Provokation betrachtet und mit einer Demonstration zum Regierungssitz beantwortet wurde. Der Gouverneur ordnete ein repressives Vorgehen gegen die Mobilisierung an, und der Vorsitzende der Gewerkschaft wurde für mehrere Stunden inhaftiert. Als Reaktion trat die Föderation der Bildungsgewerkschaften (CTERA) am 8. November in einen landesweiten Solidaritätsstreik. Danach wurden die Verhandlungen wieder aufgenommen. Schließlich haben die LehrerInnen in der vorletzten Novemberwoche die Anerkennung der Gehaltsvereinbarungen und die Überarbeitung ihrer Krankenversicherung erreicht, außerdem eine Verpflichtung der Regierung zur Finanzierung schulischer Infrastruktur. Der 17-wöchige Streik endete am Mittwoch, den 20. November. Trotzdem bleibt die Gewerkschaft im Alarmzustand, weil sie den Zusagen der Regierung nicht traut.

Artikel von Julia Soul und Leandro Rodriguez in der Übersetzung aus dem Englischen durch Stefan Schoppengerd, erschienen in express – Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 12/2019

*  Julia Soul ist Gewerkschafterin und Forscherin am Labor Studies Center, Leandro Rodriguez ist Gewerkschafter und Soziologieprofessor.

express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link

Kurzlink: https://www.labournet.de/?p=159519
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